Selenski und die Leere


Das scheidende Jahr 2020 hat niemanden verschont – auch nicht den ehemaligen Volksliebling Wladimir Selenski [Wolodymyr Selenskyj].

Der sechste Präsident der Ukraine geriet in Skandale, verabschiedete sich vom Image des „neuen Gesichts“, erlitt einen Misserfolg bei den Kommunalwahlen und das Niveau des Misstrauens gegenüber Se[lenski] ist jetzt höher, als der Prozentsatz der ihm vertrauenden Landsleute.

Tatsächlich, wenn man von den Alternativen spricht, dann sieht Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] immer noch vorteilhaft aus: einen in Umfragen beliebteren Politiker gibt es in der Ukraine nicht. Und das ist nicht verwunderlich.

Einer der Haupttrümpfe, der von Selenski im vorigen Jahr eingesetzt wurde, bleibt ihm wie gehabt, und seine nahesten Konkurrenten versuchen nicht einmal, ihn wegzuschnappen.

Der Präsident und Schausteller hat rechtzeitig die ukrainische Inklusion besetzt, die zum Unterpfand des Sieges nicht nur 2019, sondern auch 2014, 2004 und 1991 wurde. Eben jene Inklusion, die voneinander sehr verschiedene Bürger dazu brachte, ein und dieselben politischen Projekte zu unterstützen.

Die inklusive Taktik erlaubt es eine Vielzahl von Weggefährten und Mitläufern über das Prinzip „wer nicht gegen uns ist, der ist mit uns“ anzulocken.

Zur gleichen Zeit stößt und trennt das exklusive Prinzip „wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“ potenzielle Weggefährten ab.

Das inklusive Modell zielt auf eine maximal breite Unterstützung ab. Das exklusive auf eine begrenzte, doch dafür aktivere und kriegerische Unterstützung.

Der inklusive Pfad gebiert Losungen, Botschaften an alle Ukrainer und unterstreicht die Abwesenheit von Widersprüchen zwischen ihnen: „Osten und Westen zusammen“ im Jahr 2004, „Jedyna krajina – Jedinaja strana“ [einiges Land auf Ukrainisch und Russisch, A.d.Ü.] im Jahr 2014 und die populistische Rhetorik des Se-Teams 2019.

Doch der exklusive Ansatz baut auf der Gegenüberstellung der wirklichen und richtigen Ukrainer auf der einen Seite und den minderwertigen und falschen auf der anderen auf.

Es ist bezeichnend, dass der Vorgänger von Wladimir Selenski auf der Bankowaja [Präsidentensitz, A.d.Ü.] ebenso dank der Inklusion an die Macht kam.

Im Frühling 2014 stimmten für Poroschenko die Intelligenz und die Bürger, Reformatoren und Konservative, Krieger und Schlichter, jeder von ihnen dabei in Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] etwas eigenes sehend.

Doch im Kampf um die zweite Amtszeit wählte PAP [Pjotr Alexejewitsch Poroschenko] eine exklusive Taktik: er erklärte sich zum Verteidiger des wahren Ukrainertums und zählte alle Unzufriedenen zu Moskauer Helfershelfern.

Der fünfte Präsident riss die patriotische Intelligenz mit sich, was die Kräfteverteilung auf dem inklusiven politischen Feld veränderte.

Wenn 2004 und 2014 die Inklusion über die Angliederung der Masse der Normalbürger an die Eiferer und Patrioten, so orientierte sich das siegreiche Projekt Selenskis 2019 vor allem an den Normalbürgern – dem sich ein Teil der enttäuschten Eiferer anschloss.

Dabei hat der besiegte Pjotr Poroschenko dem gewählten Kurs nicht entsagt und in die Opposition gehend laufen alle Anstrengungen des Ex-Präsidenten und seiner Propagandaleute auf die Formel „wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“ hinaus.

Besonders grell zeigte sich das während der kürzlichen Wahlen in der patriotischsten Stadt der Ukraine [Lwiw]. Andrej Sadowoj [Andrij Sadowyj] brauchte nur gegen den Kandidaten der Europäischen Solidarität [Poroschenkos derzeitiger Wahlverein, A.d.Ü.] antreten, so wurde der Bürgermeister von Lwiw zu den Agenten Moskaus und der „russischen Welt“ gezählt.

Und die Lwiwer, welche die Kreatur Pjotr Alexejewitschs nicht unterstützen, wurden sogleich zu den Verachteten 73 Prozent gezählt.

Kriterium des wahren Ukrainertums ist nicht einmal der ideelle Satz „Armee-Sprache-Glaube“, sondern die vorbehaltslose Unterstützung des fünften Präsidenten und seiner politischen Kraft.

Doch besteht das Problem nicht nur darin, dass PAP seine eifernden Anhänger im exklusiven politischen Ghetto eingeschlossen hat. Wichtiger ist, dass die Taktik Pjotr Alexejewitschs auch die potenziellen Konkurrenten der Europäischen Solidarität von der Inklusion abhält.

Ehemalige Maidan-Leute, die mit dem Ex-Präsidenten wetteifern, sind dazu gezwungen, ununterbrochen Vorwürfe des unzureichenden Patriotismus und der unzureichenden ideellen Reinheit abzuwehren.

Sie brauchen sich nur etwas weniger orthodox, etwas flexibler zeigen und die ganze Propagandamaschine des ehemaligen Präsidenten stürzt sich auf sie. Und niemand möchte sich diesem Schlag aussetzen.

Am Ende versuchen Patrioten und Eiferer nicht einmal ihre Unterstützung zu erhöhen, indem sie zu einer breiteren Auslegung des Ukrainertums übergehen und das Prinzip „wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“ nutzen.

Im Gegenteil bemühen sich die Konkurrenten von Poroschenko und Co. noch als stärkere Royalisten zu wirken als der König selbst. Faktisch werden sie zu Minikopien der Europäischen Solidarität, was sich in ihren politischen Perspektiven widerspiegelt.

Eben das geschah mit dem einst vielversprechenden, doch schnell zusammenschrumpfenden Parteiprojekt Golos [ukrainisch Holos = Stimme. Wahlverein des Rockbarden Swjatoslaw Wakartschuk, der aber jedoch selbst bereits sein Parlamentsmandat niedergelegt hat. A.d.Ü.]

Die gute Nachricht besteht darin, dass die Exklusivität auch auf der anderen politischen Flanke triumphiert.

Jedes prorussische Projekt ist in der Ukraine gezwungen im Fahrwasser des Kremls zu fahren, der seit Anfang der 2000er Jahre die Formel „wer nicht mit uns ist, der ist gegen uns“ verfolgt.

Das Imperium stellt an die ukrainischen Loyalisten äußerst harte Anforderungen und jedes Abweichen vom Kreml-Dogma droht mit der Hinzuzählung zu den „Bandera-Anhängern“, den „bewussten Ukrainern“, „Maidanidioten“, „Liberalen“, „Soros-Zöglingen“ und so weiter.

Seit den Zeiten des ersten Maidans rettet unser Land, dass die Möglichkeiten der „russischen Welt“ zur Erhöhung der Unterstützung von vornherein beschränkt sind.

An der exklusiven Decke stießen sich die Kommunisten mit den Witrenko-Leuten, gegen diese stemmte sich der auf die EU-Integration verzichtende Janukowitsch und jetzt stemmt sich die Oppositionsplattform für das Leben [Wahlverein um den ehemaligen grauen Kardinal von Präsident Leonid Kutschma, Wiktor Medwedtschuk, A.d.R.] dagegen. Irgendetwas flexibleres hervorzubringen ist Moskau – zum Glück – nicht in der Lage.

Auf diese Weise bleibt Wladimir Selenski mit seinen Dienern [Selenskis Wahlverein heißt übersetzt Diener des Volkes, A.d.Ü.] zum heutigen Stand der Hauptnutzer der einheimischen Inklusion. Im Grunde genommen hilft das dem glücklosen sechsten Präsidenten oben zu bleiben und irgendwie die Umfragewerte zu halten.

Die exklusiven Projekte bedrängen Wladimir Alexandrowitsch von beiden Seiten, doch auf dem inklusiven politischen Feld sieht sich Selenski mit der Leere konfrontiert. In jedem Fall, bisher.

Ob sich diese Kräftekonstellation in absehbarer Zukunft ändert? Möglich ist es.

Doch wenn die jetzige Leere gefüllt wird, wenn in der Ukraine ein neues mächtiges inklusives Projekt auftaucht, dann wird es wahrscheinlich nicht die Partei Poroschenkos oder gar die von Medwedtschuk ablösen, sondern eben jenen Selenski.

Das wird keine Wiederholung von 2004 oder 2014, sondern wahrscheinlich eine Variation des Themas von 2019. Irgendetwas populistisches, bodenständiges, vor allem auf das Auditorium der Normalbürger abzielendes, doch dabei ziemlich schwammiges, um einen Teil der Mitläufer und Eiferer anzuziehen.

Und es gibt keinerlei Garantien, dass das Endergebnis beeindruckender sein wird, als die Präsidentschaft des Schaustellers Se.

5. Dezember 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1094

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