Streiten an der Neva - Eindrücke vom 15. Petersburger Dialog
Sankt Petersburg ist diejenige unter den russischen Städten, die mir am meisten am Herzen liegt, weil ich dort als Nachwuchswissenschaftlerin mehrere weiße Sommermonate lang gewohnt und gearbeitet habe. Von meinem Lesesaalplatz im Staatsarchiv konnte ich damals auf die Peter-Pauls-Festung und das berühmte Reiterdenkmal („Petro primo – Catharina secunda“) sehen, das neben dem Senatsgebäude steht.
Ich bin seit kurzem Miglied des Petersburger Dialogs, aufgenommen im Zuge der Öffnungs- und Diversifizierungspolitik seines deutschen Zweiges. Im Einzelnen bedeutet dies, dass die spezifische Legierung der Ära Schröder/Putin, die sich mehrheitlich aus Politikern und Wirtschaftsvertretern mit einem Interessenschwerpunkt im russischen Rohstoffmarkt zusammensetzte, nun einige zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Störzonen aufweist, die den Dialog weniger festgelegt, weniger harmoniesüchtig und weniger vorhersehbar machen als zu früheren Zeiten. Die Frage allerdings, ob die Neuerung auf deutscher Seite ausreiche, um zu einer neuen Qualität von Dialog zu führen, muss ich nach meinen individuellen Erfahrungen, vor allem jenen in der Arbeitsgruppe Politik, leider vorläufig mit Skepsis beantworten.
Man hatte mir berichtet, dass die Treffen der letzen zwei Jahre aufgrund der Krim-Annexion und der russischen Intervention in der Ostukraine sehr kontrovers verlaufen seien. Beim Petersburger Treffen in der vergangenen Woche sendeten nun die russischen Organisatoren eine Art Schlussstrich-Botschaft aus. Die russische Formel lautete zusammengefasst folgendermaßen: 1) Der Drops mit Krim und Co. ist gelutscht, lasst uns zur Tagesordnung übergehen und wichtige Weltprobleme gemeinsam angehen; 2) Deutschland und Russland sollten Probleme in einer Art Konzert bedeutender europäischer Mächte, aber bitte ohne die EU, NATO und USA lösen, 3) allein die Ukraine ist an der Nichtimplementation von Minsk 2 schuld, daher weg mit den Russlandsanktionen und dem ewigen Russland-Bashing.
Freilich gingen die Deutschen, insbesondere der deutsche Botschafter in Moskau, v. Fritsch, und der Hamburger regierende Bürgermeister Olaf Scholz, in ihren Eröffnungsvorträgen nicht auf dieses Angebot ein. Sie verwarfen die russische Idee eines Mächtekonzerts im „Wiener Kongress“—Stil (v. Fritsch) als Ersatz für den Helsinki-Prozess, die Pariser Charta und das Budapester Memorandum, und wiesen russische Versuche zurück, einen demnächst geplanten deutsch-russischen Jugendaustausch durch Beteiligung von Krim-„Russen“ zum Vehikel einer de-facto-Anerkennung der russischen Landnahme zu machen.
Das ärgerte zumindest die russischen Vertreter von Staats wegen ganz erheblich, und das wirkte sich auch auf die weiteren Diskussionen auf. Entgegen dem vorabgesprochenen Agendasetting, das unter Umgehung der Ukraine-Kontroverse mit den Schwerpunkten Migration und Terrorismus als „gemeinsamer Herausforderung“ aufwartete, schaltete man auf russischer Seite immer wieder auf den Angriffsmodus zurück, und zwar insbesondere beim Reden über die Ukraine ohne die Ukrainer.
Das betraf ganz besonders die AG Politik und die Plenarveranstaltungen, weniger die über weite Strecken offene, faire und experimentierfreudige Diskussion in den Arbeitsgruppen Medien, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Wirtschaft, Ökologische Modernisierung oder Kultur.
Die Kommunikationssituation in der AG Politik jedoch, an der ich selbst teilnahm, kann man mit einiger Berechtigung als asymmetrisch bezeichnen. Denn die russischen Sprecher, mit wenigen Ausnahmen, sprachen in starken Worten über „europäische“ Fehler, Probleme und Versäumnisse, während die deutschen Beiträge, in der üblichen selbstreflexiv-wägenden Diktion, dasselbe taten. Es gab folglich so gut wie keinen Austausch über die russischen Diskurse um eigene Probleme mit Arbeitsmigration, Integration von Nichtrussen, Syrienkrieg, hausgemachtem islamistischen Terror. Kurzum: von russischen Erfahrungen konnten wir nicht profitieren, weil sie nicht thematisiert wurden, und wenn sie es doch wurden, dann nur in einer wenig weiterführenden Art und Weise. Die Diskussionsregie, die keine war, tat ihr Übriges: zu einem selbstreflexiven Diskutieren konnte es gar nicht kommen, da fast alle russischen Kollegen und einer der deutschen Seite sich mit minutenlangen Monologen an der Redezeit vergriffen, ohne von der Diskussionsleitung daran gehindert zu werden; für Kommentare und Fragen blieb so fast keine Möglichkeit.
Nun ist gegen einen längeren, wenn klugen und reflektierten, Beitrag gar nichts einzuwenden; aber was wir da von staatsnahen russischen Vertretern zu hören bekamen, waren von keiner Selbstkritik getrübte, von Klischees und Wortschablonen gespickte Sermone. Den Vogel schoss, nicht nur hinsichtlich der Usurpation von Redezeit, der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Außenministers, Konstantin Dolgov, ab. Selten habe ich eine rührendere Polit-Schmonzette von den Wohltaten Russlands gehört als bei diesem Auftritt. Wir hörten von einem humanen Russland, das nicht nur die ukrainischen „Bürgerkriegs“-Flüchtlinge aufnehme und sie perfekt integriere (Betroffene berichten anderes, abgesehen davon, dass sich der Löwenanteil der Flüchtlinge in der Ukraine befindet), sondern auch Millionen von ukrainischen Arbeitsmigranten Brot und Leben gebe, denn „in der Ukraine gibt es ja keine Arbeit“.
Diese Lesart unterschlug, neben dem militärischen Beitrag Russlands zur heutigen ukrainischen Wirtschaftsmisere, nicht nur die binnenrussische Migration aus Gegenden, wo es „keine Arbeit gibt“, in die Metropolen und zu den Orten, wo Öl- und Gasindustrie Arbeit versprechen; sie verschwieg auch die Tatsache, dass es die ukrainische Arbeitsmigration nach Russland, vor allem in die Ölfördergebiete Westsibiriens, schon zu Zeiten gab, als Vladimir Vladimirovič Putin, dessen Aussprüche heutzutage in keiner russischen Festrede fehlen dürfen, noch schlechtsitzende Anzüge trug und am Schreibtisch eines kleinen sowjetischen KGB-Residenten in Dresden saß.
Aber Fakten, Geschichte? Egal. Da war es, das ukrainische Leitnarrativ dieses russischen Dia-Monologs: die Erzählperspektive des Stalkers, welcher die Frau, die ihn abgewiesen hat, auf offener Straße von den Beinen holt, um dann den verblüfften Zuschauern zu erklären: „Seht Ihr? Sie kann ja gar nicht alleine laufen!“. Mit ähnlichen latent sexistischen Unterlegungen arbeitete auch der Forschungsdirektor am Akademie-Institut für Wirtschaft, Ruslan Grinberg, der ja eigentlich etwas Substanzielles zu ökonomischen Fluchtursachen hätte beitragen können, aber das Migrationsproblem vor allem auf das Streben der Orientalen „nach einem schönen Leben und schönen Frauen“ zurückführte.
Die zweite russische Lieblingsthese neben der alleinigen Schuld der Ukraine an ihrem eigenen Unglück und der hedonistischen Grundausrichtung von Kriegsflüchtlingen lautete, vereinfacht gesagt, „Migration gleich Terror“. Diese uns nicht neue These wurde aktuell unter bis an die Schmerzgrenze gehender Ausschlachtung des gerade wenige Stunden alten Anschlags von Nizza ausgegeben – wohlgemerkt, bevor überhaupt über den Täter, seine Vernetzung, seine Motive genauere Informationen vorlagen.
Während in der AG also glatte und eloquente Funktionäre gepflegten Sichtbeton über die Diskussion gossen, gab es in den Plenarsitzungen auch was fürs Herz. Die Vladimirer Gebietsgouverneurin beschwor in ihrer Eröffnungsrede das Schicksal der armen Krimkinder, die, weil von grausam prinzipienreitenden Deutschen verantwortlich gemacht „für die Entscheidung ihrer Eltern, sich mit Russland wiedervereinigen zu wollen“, nun nicht auf Jugendaustausch nach München fahren könnten – es kamen einem fast die Tränen. Und als krönender Anschluss trat, wie in jedem schenkelklatschenden Volksstück, der schlitzohrige Rempler und Pöbler auf, der aber in Wirklichkeit eine große russische Seele hat.
Letztere Rolle spielte zum Befremden der des Russischen mächtigen Teilnehmer (die deutsche Synchronübersetzung schliff die Grobheiten etwas ab) der PD-Vorsitzende und Gazprom-Chef Viktor Zubkov. Er trieb nicht nur das Stalker-Narrativ von der lebens- und staatsunfähigen Ukraine auf die Spitze, indem er behauptete, der totale Einbruch des Tourismus und Handels auf der Krim sei das Resultat ukrainischer Misswirtschaft und die Ukraine folglich selbst schuld, wenn Russland die Krim retten müsse. Er nutzte auch die abschließende Podiumsdiskussion mit seinem deutschen Co-Vorsitzenden Pofalla für einen sprachlich nach und nach ins Vulgäre abgleitenden, akustisch sich ins Fortissimo steigernden Auftritt über das erniedrigte und beleidigte Russland, dem der Westen „vorschreiben will, wie es zu leben hat“. Die Kulminationspunkte waren perfekt orchestrierte Zurufe an die Zubkov zu Füßen liegende russische Teil-Gefolgschaft („Ist es nicht so? Sage ich nicht die Wahrheit?“). Man fragte sich unwillkürlich, ob der Mann sich vorher Mut angetrunken hatte.
Unnötig zu erwähnen, dass die mit Vor- und Vatersnamen persönlich Angesprochenen mit begeisterten „DA!“-Akklamationen ihren Jasager-Einsatz ableisteten. Umso schwerer fiel es Zubkov, sich wirklich einfache Dinge zu merken. Mit dem Namen des Hamburger Bürgermeisters und Eröffnungsredners Olaf Scholz („äh…Schulz? Schulze? Scholz??“) erlaubte er sich das gleich mehrmals, um allen zu signalisieren, wie unwichtig der demokratisch gewählte Regierungschef eines deutschen Stadtstaats im Vergleich zu einem Funktionär der russischen Fossilokratie ist. Der geschwätzige Showmaster, den die Russen für diese sonderbare Veranstaltung als Moderator verpflichtet hatten, spielte derweil den Part des Clowns und gab schleimige Anekdoten von den Načalnik-Qualitäten Zubkovs zum besten.
Die deutsche Seite hatte dieser Brachialkommunikation nach dem Putin-Grundsatz „Wenn eine Schlägerei nicht zu umgehen ist, hau als erster drauf“ nichts entgegenzusetzen als das sture, höfliche, diplomatische, aber auch etwas langweilige Bestehen auf völkerrechtlichen Positionen und auf der Souveränität der Ukraine, die auch dann noch gelte, wenn sie ihre Badestrände nicht sauber hielte. Diese Aufgabe erfüllte Herr Pofalla, seinem Temperament gemäß, in vorbildlicher Weise, indem er sich die ihm von Zubkov hingestellten (bzw. -geworfenen) Schuhe schlicht nicht anzog.
Mein eigenes hitziges Temperament verleitete mich während der Zubkov-Tirade zu einem despektierlichen Zwischenruf, auf den mich der Angesprochene nach der Veranstaltung, als er mir samt Tross über den Weg lief, direkt ansprach. Ich – getreu meiner Auffassung, dass ab und zu mit den Russen Russisch geredet werden muss, auch wenn dabei die Fetzen fliegen – sagte ihm in russischer Sprache, ich hätte lange nicht mehr eine solche Menge Blödsinn über die Ukraine in solch kurzer Zeit gehört, und schlüge ihm analog zu seinem Krim-Interpretament vor, sich zu überlegen, ob man nicht die Bundeswehr entsenden solle, damit endlich jemand sich der kaputten Straßen und der verkommenen Infrastruktur in Sibirien annehme. Die Gesichter im russischen Hofstaat wurden lang und länger, aber getreu der Botschaft vom rauen, aber guten Burschen ließ sich Zubkov, von seiner Tischdame Marieluise Beck geschickt zum Abschluss-Essen hin abgelenkt, mit mir versöhnen.
Um Herrn Zubkov Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss ich ergänzen, dass den schlechtesten Eindruck der Petersburger Tage kein Russe, sondern ein Deutscher hinterließ, der beim ersten Abendessen an meinem Tisch saß. Die Vorstellung dieses CEO einer großen Medien-Consulting-Agentur von Putins historischer Mission stellte an Primitivität das meiste in den Schatten, was ich seit 2014 über dieses Problem gehört habe. O-Ton: „Find ich gut, wie der Putin es diesen westlichen Weicheiern zeigt und sich die Krim zurückholt. Meinetwegen hätte der sich die ganze Ukraine holen können, da ist ja ein Machtvakuum, und das Land ist ja TOTAL korrupt. In Russland, da herrscht Ruhe und Ordnung. So muss man das machen. Endlich haut mal jemand auf den Tisch… Regeln und Völkerrecht? Ist doch Kokolores. Keiner hält sich dran. Ich fahr auch manchmal bei Rot über die Ampel. Find ich Scheiße, dass diese blöden NGOs mit ihrem Menschenrechtsgedöns hier jetzt auch noch mitmischen. Hätte ich nicht zugelassen.“
Ich zitiere diesen nach eigener Aussage groß im Regierungsgeschäft befindlichen Hanswurst deswegen im Wortlaut, um klarzumachen, welchen Typ Deutschen die neuen russischen Stützen der Gesellschaft magisch anziehen: den autoritären Simpel, der „den Russen“ für seinen, wie er findet, brutalen aber seelenvollen Volkscharakter schätzt; den Kriegsgewinnler auf Auftragsjagd, der nur dann nach Regeln kräht, wenn er selbst mal auf dem Fußgängerüberweg von Typen wie ihm angefahren wird.
Was also bleibt, ist eine überaus wichtige Erfahrung von den Möglichkeiten und Grenzen eines Dialogs mit den real existierenden russischen Eliten der Ära Putin/Medvedev und ein Einblick in gewisse Bezirke meiner eigenen Gesellschaft, die mir normalerweise verschlossen bleiben. Unnötig zu sagen, dass diese Eliten und ihre Redeweisen nicht „Russland“ sind, wie auch hoffentlich der zuletzt Zitierte nicht repräsentativ für Deutschland ist. Wovon mich unzählige andere Begegnungen am Rande der Tagung überzeugten – nicht zuletzt auch meine Treffen mit russischen Atomspezialisten, von denen sich jeder eine Scheibe abschneiden könnte hinsichtlich einer klugen, kompetenten und selbstkritischen Position zum eigenen Spezialgebiet.
Die AG Politik des Petersburger Dialogs beschloss übrigens, bei ihrem nächsten Treffen auch „über die Ukraine“ zu diskutieren. Auf Grundlage der gerade gemachten Erfahrungen kann ich den Koordinatoren nur empfehlen, neben einer straffen Rededisziplin vor allem eine intellektuell-politische Disziplin und Redlichkeit einzufordern, zu der zuallererst einmal gehört, die eigenen offiziellen Positionen selbstkritisch zu analysieren, und zum zweiten, nicht über die Anderen ohne die Anderen zu sprechen.
Eine Veranstaltung dieser Art in Berlin ohne Input von ukrainischer Seite wäre ein Skandal. Wenn man sich schon das Recht herausnimmt – ich spekuliere hier mal auf der Grundlage des Petersburger Programms – als Deutsche gemeinsam mit den Russen am Morgen der sowjetischen Opfer des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, um am Nachmittag „über die Ukraine zu sprechen“, welche die Deutschen 1939/41 zuerst überrollt haben – dann kann dies nur als Trialog geschehen. Oder es sollte gar nicht geschehen.
17. Juli 2016 // Anna Veronika Wendland
Quelle: Facebook