Ist in der Ukraine ein neues Tschernobyl möglich?


Heute sind in der Ukraine vier Atomkraftwerke in Betrieb – Saporoschschje [Saporischschja], Rowno [Riwne], Chmelnizkij [Chmelnyzkyj] und das Südukrainische. In Summe sind das 15 Kraftwerksblöcke. Zwölf von ihnen fielen uns als Erbe aus der UdSSR zu. Drei wurden in den 90ern und Nullern in Betrieb genommen.

Kann sich in der Ukraine die Tschernobyl-Tragödie wiederholen? Was lehrten die Tragödien im Atomkraftwerk Tschernobyl [Tschornobyl] und die Atomhavarie im japanischen Fukushima?

Sind die Reaktoren sicher, die gerade in der Ukraine genutzt werden? Stellt das Atomkraftwerk Tschernobyl in seinem jetzigen Zustand eine Gefahr dar?

Auf unsere Fragen antwortete die Direktorin des Ukrainischen Atomforums, die Doktorin der Chemiewissenschaften, Olga Koscharnaja [Olha Koscharna].

„Die Folgen der Tschernobyl-Tragödie wurden zu einer Impfung gegen Leichtsinn“

- Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass in der heutigen Ukraine eine Katastrophe ähnlich der von Tschernobyl stattfindet?

- Ich bin überzeugt davon, dass sie bei null liegt.

Erstens, gibt es keinem unserer Atomkraftwerke RBMK-Reaktoren mehr, die im Atomkraftwerk von Tschernobyl waren. Jetzt haben wir überall WWER-Reaktoren.

Eben die Unzulänglichkeiten bei der Konstruktion der RBMK waren der Hauptgrund für die Tschernobyl-Tragödie. Doch damals wurde beschlossen alles auf Djatlow (ehemaliger Stellvertreter des Chefingenieurs des Atomkraftwerks Tschernobyl), Fomin (ehemaliger Chefingenieur) und Brjuchanow (ehemaliger Direktor) zu schieben. Das ist ungerecht.

1975 gab es eine Havarie im Leningrader Atomkraftwerk, wo ebenfalls RBMK eingesetzt waren. Damals schmolz der Brennstoffkanal, was zu einem Radioaktivitätsausstoß führte. Das war das erste Signal der Mängel dieses Reaktortyps.

Doch der Wissenschaftler Alexandrow, der das Projekt dieses Reaktors leitete, war stolz auf ihn. Er schlug sogar vor ihn auf dem Roten Platz oder bei sich zu Hause unter dem Bett zu installieren. Sagend, so sicher sei er.

Die RBMK wurden eilig ohne notwendige Überprüfungen und Tests eingeführt. Da die sowjetische Priorität im Atombereich die Produktion von Elektroenergie und nicht Sicherheit war.

Alles wurde eilig in Betrieb genommen, Ziffern hinterhergejagt, um Beförderungen und Prämien zu bekommen. Und es gab kein unabhängiges Staatsorgan, das die Aufsicht über die atomare und radioaktive Sicherheit ausübte.

Zudem herrschte in der UdSSR der Glaube, dass der Mensch allmächtig sei, er alles berechnen und sich die Natur vollständig unterwerfen könne. Es zeigte sich, dass dem nicht so ist.

Nach der Havarie im Atomkraftwerk Tschernobyl fand ein Umsturz im Bewusstsein der Atomtechniker statt. Die Folgen der Tschernobyl-Tragödie wurden zu einer Impfung gegen Leichtsinn.

- Was änderte sich im Bewusstsein der Atomtechniker?

- Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) hat die Lehren aus Tschernobyl gut angenommen. Es wurden spezielle Konventionen beschlossen.

Es erschien eine neue Regel: in jedem Staat, der zur IAEO gehört, muss es ein gesondertes Organ geben, das die atomare und radioaktive Sicherheit überwacht und dabei unabhängig von der Betreiberorganisation ist.

Die IAEO-Missionen überprüfen jedes Land sorgfältig. Es gibt noch den Weltverband der Kernkraftwerksbetreiber. Dessen Mitglieder fahren zueinander und überprüfen die Situation in den Kraftwerken, führen eine Datenbank von Ereignissen, erfahren, was für die Modernisierung getan wird, tauschen Erfahrung aus.

In der unabhängigen Ukraine hat sich eine absolut neue Rechtsbasis für die atomare und radioaktive Sicherheit herausgebildet.

Es wurde eine Staatliche Inspektion für die Atomregulierung geschaffen. Das ist eine unabhängige Struktur, die Sicherheitsstandards in Atomobjekten festlegt, Tätigkeitsarten im Bereich der Atomenergie lizenziert und überwacht, wie diese Normen eingehalten werden.

Bei uns erschien ein solcher Begriff, wie der der Sicherheitskultur. Das, was es in der UdSSR nicht gab.

Die Sicherheitskultur sieht vor, dass jeder Mitarbeiter auf mentaler Ebene sich vor allem um die sichere Nutzung der Atomobjekte sorgen soll und nicht um die Produktionsziffern.

In den ukrainischen Atomkraftwerken werden ständig Havarievorbeugeübungen durchgeführt. Alle Instruktionen und Reglements detailliert vorgeschrieben.

Sehr ernst wird der menschliche Faktor genommen. Das Bedienungspersonal der Atomkraftwerke durchläuft eine medizinische und psychologische Überprüfung. Ein Mensch wird nicht an das Pult einer Blocksteuerung gelassen, wenn er nicht im Kraftwerk mindestens 15 Jahre im Kraftwerk gearbeitet hat, ununterbrochen lernend.

Bedienpersonal für Atomkraftwerke mit Lizenz gibt es in der gesamten Ukraine 400 Menschen. Und insgesamt arbeiten in unseren Kraftwerken 35.000. Diese 400 sind der goldene Fonds der Atomenergie.

- 25 Jahre nach der Tschernobyl-Katastrophe geschah, ungeachtet all ihrer Lehren, die große Radioaktivitätshavarie in Fukushima. Wenn das in Japan geschah, kann derartiges auch bei uns passieren?

- Im Kernkraftwerk Fukushima geschah die Havarie aus einem anderen Grund. Als Resultat eines Erdbebens und eines Tsunamis fielen die Geräte zur Stromversorgung und die Notdieselgeneratoren außer Betrieb. Was zum Abschmelzen der aktiven Zone und zu einer Wasserstoffexplosion führte.

Das Kraftwerk wurde an der Meeresküste in einer seismischen Zone gebaut. Doch die Japaner haben nicht antizipiert, was bei einem Erdbeben einer solchen Stärke passiert, das hohe Tsunami verursacht. Die größte Dummheit bestand darin, dass die Dieselgeneratoren unter der Dammhöhe installiert wurden, wodurch sie mit Wasser übergossen wurden.

Die Situation wurde von der japanischen Mentalität verschärft. Sie beachten streng die Hierarchie, die Befehlskette. Eine Entscheidung trifft nur ein großer Chef. Doch der Atomkraftwerksdirektor war ein „effektiver Manager“, kein Atomtechniker. Wie ein Geschäftsmann sparte er das Geld für Militärs ein, die per Helikopter Dieselgeneratoren gebracht hätten.

Die Japaner verloren viel Zeit. Als die Havarie geschah, mangelte es im Kraftwerk an Arbeitern, um die Situation in den Griff zu bekommen. Diejenigen, die vor Ort waren, erhielten sofort die Jahresdosis und es konnte niemand arbeiten. Viele Kraftwerksmitarbeiter waren Zeitarbeiter. Sie sagten, dass es nicht ihr Problem sei, wir kommen nicht.

IAEO hat die Erfahrung von Fukushima schmerzhaft durchlebt und die Standards für atomare und radioaktive Sicherheit erneuert.

Die Ukraine ist vielen Ländern bei der Aneignung der Lehren aus Fukushima voraus. Obgleich wir keine derartigen Erdbeben und Tsunamis haben, wie in Japan, haben unsere Spezialisten die Szenarien bewertet, ob dem Atomkraftwerk Saporoschje eine Überflutung droht, wenn alle Dämme des Dnepr [Dnipro] brechen. Die Analyse zeigte, dass es nicht so ist.

Und bei uns braucht man nicht auf die Entscheidung des großen Chefs zu warten, wenn eine Havariesituation entsteht. Prozessleiter wird automatisch der Stellvertreter des Kraftwerksdirektors, der Chefingenieur. Ihm unterstellen sich Innenministerium und Katastrophenschutzministerium [Das Ministerium wurde in der Ukraine bereits 2012 abgeschafft und in einen Staatsdienst für Ausnahmesituation umgestaltet. A.d.Ü.], gemäß den Notfallinstruktionen. Niemand wird [Jurij] Nedaschkowskij (ukr. Nedaschkowskyj, Chef des staatlichen Atomunternehmens Energoatom/Enerhoatom) anrufen und fragen, was zu tun ist.

„Unsere Kraftwerksblöcke sind jetzt sicherer, als sie es zu Betriebsbeginn in der UdSSR waren“

- Kehren wir zu den Reaktoren zurück. Die WWER, die in allen ukrainischen Atomkraftwerken genutzt werden. Das ist ein Produkt der Breschnew-Epoche, wie auch die unglückseligen RBMK. Inwiefern sind die WWER besser? Sind sie nicht veraltet?

- Der WWER ist ein Druckbehälterreaktor, ein Doppelkreisreaktor im Unterschied zum RBMK. Er hat mehrere unabhängige Sicherheitssysteme, eine druckfeste Umhüllung, die im Falle einer schweren Havarie die Radioaktivität akkumulieren soll.

Der WWER ist ein sowjetisches Projekt, doch gibt es ein westliches Analogon – den Power Water Reactor, der erfolgreich bereits viele Jahre in Betrieb ist. In der Welt beträgt ihr Anteil 82 Prozent.

Sie haben ein hohes Niveau an Betriebssicherheit. Wovon die Werte zeugen, welche die IAEO zusammen mit dem Weltverband der Kernkraftwerksbetreiber, welcher die Atomkraftwerke betreibt, fixiert.

- Die Betriebslizenzen für die Reaktoren werden bei uns verlängert. Gibt es hier irgendwelche Risiken?

- Ja, sie werden verlängert. Über die projektierten 30 Jahre hinaus. Das wird auf der Basis von Analysen und Bewertungen der Sicherheit der Reaktorsysteme gemacht.

Die Reaktoren werden ständig modernisiert und funktionieren sicher. Das ist eine normale Praxis. In den USA gibt es beispielsweise 100 Reaktoren und 70 von ihnen mit verlängerter Betriebsfrist.

Wie Nedaschkowskij sagt, sind unsere Kraftwerksblöcke nach allen Nachbearbeitungen sicherer, als sie zu Betriebsbeginn in der UdSSR waren. Und das sind nicht nur einfach Worte.

2005 wurde zwischen der Ukraine und der EU ein Memorandum über die Zusammenarbeit im Energiebereich abgeschlossen. Dort gab es einen Punkt: die Sicherheit der ukrainischen Kraftwerksblöcke zu bewerten.

Zu uns kamen mehrfach europäische Expertenkommissionen. Sie bewerteten unsere Kraftwerksblöcke nach mehreren Kriterien: die Projekt- und die Betriebssicherheit, der Umgang mit radioaktiven Abfällen und die staatliche Regulierung der atomaren und radioaktiven Sicherheit.

Niemand hatte irgendwelche Ansprüche oder Fragen.

Nach der Tschernobyl-Katastrophe wurde in der Ukraine nicht ein bedeutender Havarieinzident bei Atomobjekten fixiert.

Es gibt eine internationale Skale für Atomzwischenfälle. Von null bis sieben. Die Vorfälle, die in ukrainischen Atomkraftwerken nach 1986 stattfanden, waren auf dem Niveau null oder eins. Und es gab nicht einen Fall mit Austritt von Radioaktivität.

„Die radioaktive Hintergrundstrahling beim Kernkraftwerk Tschernobyl ist fallend“

- Könnten beim Atomkraftwerk Tschernobyl im jetzigen Zustand neue Probleme auftreten?

- Absolut keine. Die radioaktive Hintergrundstrahlung beim Atomkraftwerk Tschernobyl ist fallend. Die Situation wurde bedeutend durch die neue Sicherheitshülle verbessert.

- Der zerstörte vierte Kraftwerksblock sollte wohl demontiert, abtransportiert und vernichtet werden. Im Ergebnis wurde er abgedeckt. Wird das alles, was unter der Abdeckung geblieben ist, bereits nicht mehr weggeschafft?

- Das Ziel der neuen Sicherheitshülle besteht gerade darin, den alten Sakopharg zu demontieren. Was mit den brennstoffhaltigen Massen getan wird, die sich im Inneren befinden, ist bisher unbekannt.

Es gibt noch keine Technologie des Umgangs mit ihnen, deren Ausarbeitung ist eine Aufgabe für die Zukunft.

Meiner Ansicht nach wird dieses Objekt lange existieren und ich bin nicht sicher, ob an dessen Stelle in den nächsten hundert Jahren das Gras grün wird.

- Es gibt Gespräche darüber, dass die 30-Kilometer-Sperrzone auf fünf Kilometer verkleinert wird. Ist das wahr?

- Die Staatliche Administration zur Verwaltung der Sperrzone hat ein Projekt zur Entwicklungsstrategie vorbereitet.

Es sieht eine Zonenaufteilung vor:

Eine solche Zonenaufteilung macht fraglos Sinn.

„Atomarer Informationskrieg“

- Indem der besetzte Donbass blockiert wurde, hat die Ukraine auf das dortige Anthrazit verzichtet, das in unseren Wärmekraftwerken verwendet wurde. Im Ergebnis stieg die Auslastung der Atomkraftwerksblöcke. Ist das sicher?

- Durchaus. Heute produzieren die Atomkraftwerke 55 Prozent der gesamten Elektroenergie in der Ukraine. Doch das ist nicht die Obergrenze. Es gibt noch Reserven.

Es gibt einen solchen Begriff wie den Nutzungskoeffizienten des Anschlusswerts/der installierten Leistung. In den letzten zehn Jahren lag er bei unseren Atomkraftwerken bei etwa 70 Prozent. In einigen Ländern bei über 90 Prozent, das heißt die Kernkraftwerke werden effektiver genutzt.

In unserer Situation steht der nicht sehr hohe Koeffizient mit der Besonderheit des Vereinigten Energiesystems in Verbindung. Wir haben ein Defizit an Ausgleichskapazitäten, die geeignet sind, die Nutzungsspitzen morgens und abends abzudecken.

Eben in Verbindung damit existiert für die Atomkraftwerke eine Einschränkung durch die Überwachung.

- Der Brennstoff für die Atomkraftwerke wird heute bei der russischen Firma TWEL und der amerikanischen Westinghouse eingekauft. Die Russen versichern, dass der Verzicht auf ihre Produkte zugunsten der transatlantischen angeblich die Havariegefahr für die ukrainischen Atomkraftwerke erhöht. Eine derartige Meinung trifft man auch in westlichen Medien an. Ist das ein Mythos?

- Fraglos. Das ist sozusagen ein atomarer Informationskrieg. Russland kämpft um unseren Markt, dabei auch ausländische Medien nutzend.

Tatsächlich gibt es keinerlei Probleme mit dem amerikanischen Brennstoff, aber eben mit dem russischen …

Es liegt eine Statistik von Störfällen mit Brennstoff verschiedener Hersteller und Modifikationen vor. Bei der Nutzung von Brennelementen aus der Produktion von Westinghouse wurde bei uns kein einziger Fall der Entdichtung/Enthermetisierung von Brennelementen festgestellt.

Bei den Brennelementen aus russischer Produktion gab es solche Fälle. Das Maximum gab es in den Jahren 2003-2004 – jeweils 34 Störfälle. Einen Anstieg gab es auch 2011 – 21 Störfälle.

Doch den Russen beweist du nie, dass das es wegen des Herstellers passierte. Anfang der Nuller wurden beim russischen Brennstoff sogar überflüssige Teile gefunden. Das war ein schrecklicher Skandal.

Die Produkte von Westinghouse haben ihre Vorteile. Das ist eine andere Legierung, die Effizienz ist höher, die Konstruktion flexibler.

Die geometrischen Parameter der Brennelemente im Betriebsprozess bleiben innerhalb der Grenzen der Leistungscharakteristik. Was man über die Produkte von TWEL nicht sagen kann.

Ja, gerade wird in den ukrainischen Atomkraftwerken sowohl russischer als auch amerikanischer Brennstoff genutzt. Ersterer ist problematischer. Doch der Anteil des letzteren steigt beständig.

12. Juni 2019 // Jewgenij Sereda

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1963

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