Die Ukraine, die wir verloren haben
Alternative Geschichtsschreibung kann unterhaltend und lehrreich zugleich sein. Beispielsweise hat der amerikanische Autor Harry Turtledove lebhaft beschrieben, wie ein fiktiver Joe Steel die Wahlen in den USA im Jahre 1932 gewinnt, ein Sprössling georgischer Einwanderer. Statt „New Deal“ Roosevelts gibt es einen „Vierjahresplan“ mit Verstaatlichung von Banken, Vergemeinschaftung von Farmen, Bau von Straßen und Dämmen sowie FBI-Agenten, die eine faschistische Verschwörung im Obersten Gerichtshof aufdecken, der die Initiativen des Präsidenten für verfassungswidrig erklärte, gibt es auch.
Es gibt auch weniger fantastische Vorschläge. Nachdem man zwei Jahre mit Wiktor Janukowitsch verbracht hat, stellt man sich unfreiwillig die Frage, was wäre, wenn Julia Timoschenko die Wahlen im Jahre 2010 gewonnen hätte? Haben die Ukrainer viel verloren, als sie Janukowitsch den Vorzug gaben? Wie sähe die hypothetische Ukraine einer Präsidentin Timoschenko aus, ein rätselhaftes quasidemokratisches und quasiunabhängiges Land?
Das werden wir nie erfahren. Aber die Härte des Lebens bewegt aktive Bürger immer und immer wieder zur Nostalgie. Die Fans von Julia Timoschenko reden vom fatalen Fehler und einer verpassten Chance für die Ukraine. Uneinsichtige „Gegen alle“??-Stimmer behaupten, dass unter Julia alles genauso gekommen wäre. Und um die Vergangenheit und Zukunft gedanklich zu durchdringen, muss gerade eine ??„alternative Gegenwart“ untersucht werden. Folgen wir also den Fußstapfen von Mr. Turtledove und versuchen eine nicht realisierte Ukraine mit weiblichem Antlitz zu modellieren.
Zweifellos hasst die heutige politisch inhaftierte Timoschenko vom ganzen Herzen die Diktatur. Genauso ehrlich hatte einst der aus der UdSSR verbannte Revolutionär Leo Trotzki die sowjetische Tyrannei gebrandmarkt. Wie man weiß, wird die Sichtweise durch den jeweiligen Standpunkt bestimmt, sodass im Fall von Julia Timoschenko diese alte Weisheit einen besonderen Klang bekommt.
Aber kurz vor den Präsidentschaftswahlen hatte Julia Wladimirowna andere Ansichten. „Wer hat euch gesagt, dass die Leute keine Diktatur wollen?“, fragte die eiserne Lady „Ju“ einst völlig gerechtfertigt.
Natürlich wollten sie die. Den hausbackenen Putin, Lukaschenko, Bandera, Stalin, Pinochet. Die folgenden Ereignisse haben gezeigt, dass die ukrainische Bevölkerung nicht vorhat, demokratische Werte zu verteidigen und der autoritäre Ansturm der Machthaber in der Bankowaja Straße (Sitz des Präsidenten) in Kiew trifft kaum auf Widerstand. Deshalb kann die Frage über das Schicksal der ukrainischen Demokratie unter einer Präsidentin Timoschenko als rhetorisch angesehen werden
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Spannend ist etwas anderes: worin würde sich das Diktatorspiel von Timoschenko vom jetzigen Spiel von Janukowitsch unterscheiden? Einige Unterschiede liegen unmittelbar auf der Hand. Julia Wladimirowna werden keine Verbindungen zur Donezker Kriminalwelt zugeschrieben und unter ihr wäre Tabatschnik nicht Minister für Bildung und Wissenschaft in ihrer Regierung geworden. Das reicht bereits dafür, dass Timoschenko für nationalbewusste Bürger als eine vorzuziehende Kandidatin erscheint. Und im Falle ihres Wahlsieges hätte dann unsere missglückte Demokratie noch weniger Verteidiger, als sie jetzt noch hat.
Viele öffentlich tätige Intellektuelle und bürgerliche Aktivisten sind gar nicht so sehr über den autoritären politischen Stil, sondern eine „Antiukrainität“ der jetzigen Machthaber empört. Der schon a priori nicht geeignete Janukowitsch zwingt sie dazu, die demokratischen Mantras zu wiederholen. Stünde an der Stelle von Janukowitsch eine weniger abscheuliche Timoschenko, dann würden dieselben Kritiker über die Vorteile einer starken Hand und die Notwendigkeit eines festen politischen Kurses räsonieren. Eine Zusammenarbeit mit der autoritären Staatsmacht würde dann nicht wie eine offensichtliche Kollaboration aussehen und Aktivisten wie Dmitrij Stuss nicht als Renegaten gelten.
Einen wichtigen Punkt stellt noch die repressive Politik dar. Kann man sich die Herrscherin Timoschenko als eine vorstellen, die das Recht mit Füßen tritt und ihre politische Gegner beseitigt? Sehr einfach! Und Marionettenrichter, die ihre Anweisungen gehorsam durchführen? Natürlich!
Aber weiß-blaue Oppositionelle in der Rolle von Timoschenko oder Luzenko – mutig, dreist, standhaft, mit flammenden Reden im Gerichtssaal und eine abergläubische Ehrfurcht in den Regierungsstellen der Bankowaja Straße einflößend, kann man sich beim besten Willen nicht vorstellen. Irgendwie malt dann die Vorstellungskraft andere Bilder: eine massenhafte Kapitulation der Politiker der Regionalen, panische Flucht ins Ausland, klagendes Heulen und die Bereitschaft alle Sünden im Austausch für eine Begnadigung durch die höchste Instanz zu gestehen.
Ich wage zu unterstellen, dass sich die Opposition unter Timoschenko als Präsidentin in ihrer eigenen Feigheit auflösen würde, nachdem das Glühen ihrer Leidenschaften nachgelassen hat. Wenn charismatische Anführer fehlen, gibt es auch keine besonders dramatische Unterdrückung. Eine Säuberung des politischen Feldes würde einer Präsidentin Timoschenko leichter gelingen und Brüssel wie Washington könnten dann auch die Augen schließen vor dem autoritären Galopp des ukrainischen Staatsoberhaupts.
Präsident Janukowitsch ließ dem Westen diese Möglichkeit nicht. Offensichtlich würde Julias Ukraine keine internationale Isolation drohen. Für die ukrainischen Euroatlantiker wäre das ein riesiges Plus. Andererseits würde Timoschenko kaum zu einem größeren Antagonisten des Kremls avancieren als Janukowitsch. Nur ein sehr naiver Mensch ist fähig zu glauben, dass die russische Marine unter Timoschenko Sewastopol verlassen würde. Und ursächlich dafür wären nicht notwendig die gegenseitigen Sympathien zwischen Julia Wladimirowna und Wladimir Wladimirowitsch (Putin), sondern die harte geopolitische Wirklichkeit.
Im sozialökonomischen Politikbereich gäbe es einfach kein Licht am Ende des Tunnels. Leider sind sich die Wirtschaftsansichten von Janukowitsch und Timoschenko ähnlich: manuelle Steuerung, sicherheitsbehördliche Methoden, Verstärkung des Besteuerungsdrucks, völlige Gleichgültigkeit gegenüber Eigentumsrechten, zerstörerischer Populismus vor Wahlen und erzwungene Senkung der eigenhändig aufgeblähten Sozialausgaben. Ein solcher Wirtschaftssteuerungsstil würde weder für Unternehmer, noch für Transferempfänger, noch der ukrainischen Volkswirtschaft insgesamt etwas Gutes versprechen.
Nicht alles lässt sich aber ausschließlich mit der Wirtschaft messen! Unter Timoschenko würde eine Umverteilung des Eigentums nicht Donezker Rackets ähneln, sondern einem Kampf des Staates mit dem Großkapital. Vom wirtschaftlichen Standpunkte aus gibt es hier keinen prinzipiellen Unterschied: Eigentumsrechte werden verwaschen, das Investitionsklima verschlechtert sich, der Sinn für langfristige Anlagen schwindet. Aber die gesellschaftliche Reaktion könnte eine andere sein.
Obwohl ein gewöhnlicher Dieb und ein enteignender Bolschewik mit derselben Arbeit beschäftigt sind, werden sie verschieden wahrgenommen. Demonstrative Attacken auf die Welt des Kapitals imponieren dem Normalbürger und heben die Moral der Massen. Wiktor Fjodorowitsch stellte einen sicheren Haushälter dar und versprach eine Verbesserung des Lebens schon heute. Eine Verbesserung ließ auf sich warten und die Bürger erkannten, dass der König ganz nackt ist.
Julia Wladimirowna konnte dem Volk einen Kampf für Gerechtigkeit bieten. Dies wäre genau der Fall, wenn der Weg wichtiger als das Ziel ist und eine geschäftige Regierungstätigkeit in der Lage wäre die Menschen von der hoffnungslosen wirtschaftlichen Lage abzulenken. Selbstverständlich würde dann das Rating einer Präsidentin Timoschenko fallen, aber nicht mit einer so rasenden Geschwindigkeit wie das von Janukowitsch.
Zu den unrealisierten Trümpfen von Timoschenko darf die Informationspolitik gezählt werden. So wie die ukrainische Demokratie hatte auch die ukrainische Meinungsfreiheit keine Chance die Wahlen 2010 zu überleben. Aber die Zensur von Janukowitsch ähnelt dem sitzenden Hund auf dem Heuhaufen: er frisst ihn selbst nicht und gibt aber auch nichts ab. Nachdem die politische Spitze die Kontrolle über die Medien erlangt hat, ist sie nicht in der Lage ein für sie nützliches Medienbild ihrer selbst zu konstruieren. Die Versuche von Janukowitsch Putin nachzuahmen sehen billig aus, sodass selbst das anspruchsloseste Publikum Wiktor Fjodorowitsch mit faulen Tomaten bewirft.
Eine andere Sache ist Julia Wladimirowna. Anstatt eines stotternden Bauerntrampels in einem gereinigten Informationsraum würde eine herausragende Frau dastehen, eine fähige Populistin und Demagogin. In den Händen von Timoschenko würde die Zensur riskieren zu einem ziemlich effektiven Instrument zu avancieren, das auf die Köpfe und Seelen der ganzen Bevölkerung einwirken würde.
Timoschenko könnte für das Land zwar keinen Ausweg aus der Sackgasse finden, aber die Illusion eines Auswegs würde sich nicht so schnell und gnadenlos auflösen. Die Ukraine unter Julia Timoschenko ist wenigstens irgendein Puffer zwischen Hoffnung und brutaler Realität, mit mehr Möglichkeiten zum Selbstbetrug und rettenden Schlupflöchern für diejenigen, die am liebsten auf die gütige Staatsmacht setzen und an das Beste glauben.
Und was ist mit den Unzufriedenen und Enttäuschten? Mit unterdrückten Unternehmern? An den Rand gedrückten Journalisten? Anderen Opfern des Regimes? Es ist Menschen eigen nach verpassten Alternativen zu suchen, sodass eine Präsidentschaft von Timoschenko unvermeidlich eine Legende vom geringeren Übel im Angesicht eines nicht gewählten Wiktor Fjodorowitsch entstehen ließe: „Besser wäre ein Wahlsieg von Janukowitsch gewesen! Dann wäre es nicht zu all dem gekommen!“
Für viele wäre ein Janukowitsch, der die Wahlen verloren hätte, auch ein harmloser Klotz geblieben, nicht fähig für ein entschiedenes Anziehen der Schrauben und Hacken von Holz. Kann man sich Wiktor Fjodorowitsch als einen Diktator vorstellen? Kann etwa dieser Tollpatsch der eisernen Julia das Wasser reichen? Dasselbe Niveau ist nicht vorhanden: weder Charisma, noch Mut, noch graue Zellen in hinreichenden Mengen…
Übrigens wären die Märtyrer für die Demokratie nicht so weit von der Wahrheit entfernt: aus Janukowitsch könnte ein etwa genauso guter Diktator werden, wie ein Professor. Es gibt da aber ein wichtiges „aber“. Wenn ein Mensch als Diktator ungeeignet ist, dann bedeutet es nicht, dass er nicht versuchen wird, ein Diktator zu werden. Mit allen damit verbundenen Konsequenzen.
13. März 2012 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda