Wie ich die Abgeordneten gern sehen würde
Vor mehr als zehn Jahren ist mir Folgendes passiert. Ich arbeitete in meinem Zimmer, als zu mir ein Bekannter kam. Im ersten Moment bemerkte ich seine große Besorgnis. Und tatsächlich, nachdem wir uns begrüßt hatten, begann er über seine Probleme zu erzählen, und er hatte genug davon: persönliche, familiäre, wirtschaftliche, gesellschaftliche … Es schien so, als ob alles, woraus unser normales Leben besteht, bei ihm in einer oder anderer Weise gestört war.
Ich habe seiner Erzählung zugehört und begann mich ebenfalls zu sorgen und dachte daran, wie ich ihm helfen könnte. Doch gleich, völlig unerwartet für mich, streckte er sichsagte: „Die einzige Lösung für mich ist zum Abgeordneten der Werchowna Rada (Oberster Rat) zu werden“.
Er sagte es im Ernst, ohne Scherz. Ich war schockiert, wusste nicht, was ich ihm antworten soll. Und er stand mit einem anderen Gesichtsausdruck auf, verabschiedete sich von mir und ging weg. Ich weiß nicht, ob er für das Parlament kandidiert hat, aber zu mir ist er nicht mehr gekommen.
Heute sprechen wir ebenfalls über die Wahlen und hören so viele Gespräche über die Abgeordneten. Vielleicht ist dieses Ereignis deswegen so deutlich in meinem Gedächtnis aufgetaucht. Das hat mir Anlass zum Nachdenken gegeben: Wie würde ich mir eigentlich selbst die Abgeordneten des Obersten Rats der Ukraine wünschen?
Wahrhaft wird meine Antwort eine idealisierte Person darstellen, aber wie der Volksmund sagt, kann man ohne Träume nicht leben.
Ein Abgeordnetenkandidat muss in das Erwachsenenleben als anständiger Mensch eintreten. Unabhängig davon, wo er aufgewachsen ist: in einer prachtvollen Wohnung in der Stadt oder in einem einfachen Haus im Dorf. Er sollte von seinen Eltern und seinen Verwandten eine solide moralische und kulturelle Erziehung bekommen.
Das bedeutet, ein Abgeordneter soll sich anständig benehmen und gut mit anderen Menschen umgehen können. Neulich habe ich einigen Personen, darunter waren auch Parlamentarier, Bücher geschenkt. Nur einer von allen hat sich dafür bedankt…
In letzter Zeit habe ich mir Radiosendungen angehört, in denen sich Parlamentsabgeordnete verschiedener politischer Gruppen geäußert haben. Es gab ruhige, respektvolle, argumentierte Gespräche, aber selbstverständlich waren die Meinungen unterschiedlich, sogar gegensätzlich. Oft gab es leider auch aggressive Gespräche, bei denen die Gesprächspartner verhinderten, das andere ihre Meinungen äußerten, ich erwähne dabei nicht einmal die Beiworte, mit denen sie einander bedachten.
Parlamentsabgeordnete haben kein einheitliches Bildungsniveau, sie stellen nicht nur eine Palette von fachlichem Wissen, sondern auch von verschiedenen Lebenswegen dar. Dabei braucht man sich nicht zu wundern. Unabhängig von diesen selbstverständlichen Unterschieden sollte sich jede Person, die Gesetze für andere schreiben will – außer vorher erworbenem Fachwissen – darum kümmern, ihre Weltanschauung zu erweitern, Wissen zu erwerben, tief die Bedürfnisse von Menschen, die Situationen und Umstände ihres Lebens zu verstehen, um Lebenshinweise in Form von Gesetzen zu geben, die dem gesamten Wohl dienen werden.
Die diesjährigen Wahlen zur Werchowna Rada der Ukraine fielen mit dem Tag zusammen, an dem unser Land zusammen mit den Nachbarstaaten die Zeit vom Sommer auf den Winter umgestellt hat. Diese Tatsache hat uns an die Situation vom vergangenen Jahr erinnert, als unsere Parlamentsabgeordneten mit großer Begeisterung die Zeitumstellung abgeschafft und nach einigen Tagen und Anhörung von Fachleuten und Nachdenken über diese Frage, ihre Entscheidung schon nicht mehr mit der gleichen Begeisterung wieder rückgängig gemacht haben.
Das Schreiben von Gesetzen, und dies ist im Grunde die Hauptaufgabe von Parlamentsabgeordneten, fordert eine ernsthafte Herangehensweise. Gesetze, die nicht reif oder als Antwort auf kurzzeitig vorhandene Bedürfnisse geschrieben worden sind, geben nicht nur nicht den gewünschten Effekt, sondern was noch schlimmer ist, verringern das Vertrauen der Bürger zur Qualität der Arbeit ihrer gewählten Vertreter.
Ganz zu schweigen von den so genannten populistischen Gesetzen, die an billige kommerzielle Werbung erinnern, ernsthafte Bürger beleidigen und ihren Autoren oder Auftraggebern natürlich keine Ehre einbringen.
Die Person, die zum Volksvertreter gewählt wird, wird automatisch zu einer öffentlichen Figur, zum Objekt der ständigen Aufmerksamkeit ihrer Wähler. Deswegen ist es normal, dass ein Abgeordneter sehr hellhörig in Bezug auf die Reaktion der Bürger sein muss. Früher oder später wird er mit ihnen zusammentreffen und muss bereit sein, ihnen in die Augen zu schauen. Aber so ein Blick ist noch nicht entscheidend für das richtige Benehmen.
Außer dem eigenen Gewissen, das jeden Menschen beurteilt, gibt es noch einen anderen Richter, den man nicht vergessen darf. Am Anfang des Grundgesetzes der Ukraine – der Verfassung – wird deutlich auf die bewusste Verantwortung vor Gott hingewiesen.
Unabhängig der religiösen Einsichten eines Menschen und mehr eines Parlamentsabgeordneten muss ein jeder vor seine Schöpfer treten. Dem kann man nicht widersprechen, es vernachlässigen oder gefälschten Interpretationen unterziehen.
Jemand sagt: Machen Sie mir keine Angst mit dem göttlichen Strafgericht! Hier geht es aber nicht um die Angst eines Sklaven, der seine Aufgabe erledigt, da er Angst vor einer Strafe hat, sondern um Angst eines Kindes, das seinen Vater keine Schande machen darf.
Ein Abgeordneter, der in die Werchowna Rada als Mitgestalter von Gesetzen geht, sollte während seiner Legislaturperiode sein Milieu und alle anderen Aufgaben verlassen.
Meiner Meinung nach wirken die Parlamentarier lächerlich, die zu Parlamentssitzungen wie zu Gastauftritten kommen. Daher die Frage: Wozu werden solche Menschen zu Parlamentariern? Das heißt, sie betrügen bewusst ihre Wähler.
Oft sind Vorwürfe an die Adresse der Abgeordneten zu hören, dass sie mit all ihren Privilegien eine sehr reichhaltige Entlohnung für ihre Arbeit erhalten. Ich würde nie an ihnen sparen, wenn sie diese nur für eine vollwertige Arbeit bekommen würden.
Ich erlaube mir folgenden Vergleich zu machen. Auf Theaterbühnen treten oft Dutzende oder sogar Hunderte Menschen auf. Davon sind nur einige Schauspieler oder Sänger, der Rest sind so genannten Statisten, die die Bühne füllen, um den Eindruck von Massenpräsenz zu erzielen. In meinem Verständnis gibt es keinen Platz für so parlamentarische Statisten bei der Ausarbeitung von Gesetzen. Jeder Abgeordnete sollte begreifen, warum er einem Gesetz zustimmt und seinen Wählern erklären, warum er ausgerechnet so gestimmt hat und nicht anders.
Im Wahlkampf konnte man oft von den Kandidaten ein „Lied“ über ihre Verdienste in einer bestimmten Region hören – den Bau und die Beleuchtung von Straßen, die Errichtung von Spielplätzen, Schulen etc. In unserem Land herrscht die falsche Überzeugung vor, dass die Vertreter der Werchowna Rada die lokalen Bedürfnisse befriedigen sollen.
In der Tat liegen diese Aufgaben in der Kompetenz der Organe der lokalen Selbstverwaltung. Dafür muss das Denken eines Abgeordneten der Werchowna Rada viel breiter – räumlich und zeitlich – sein, weil seine Aufgabe ist, erlauben Sie mir wieder einen Vergleich, nicht nur Lebensmittel für eine konkrete Region und für kurze Zeit anzubieten, sondern Brot und alles Nötige für das normale Leben für die ganze Bevölkerung und für viele Jahre sicherzustellen.
In der Politik wie in der Wirtschaft sollte das Denken der Staatsangestellten langfristig sein.
Ein Parlamentsabgeordneter sollte in Kategorien des ganzen Staates denken, in Kategorien für die ganze Bevölkerung und nicht nur für eine Gruppe oder Region. Für ihn darf es keine Eigenen oder Fremden, Besseren oder Fremden geben.
Der Abgeordnete sollte das ganze Volk aufrichtig lieben, dessen Traditionen achten, seine Rechte im Staat verteidigen und fern von Verachtung und Hass für andere Völker sein.
Gestalt und Benehmen eines Parlamentsabgeordneten müssen Achtung und Vertrauen der Mitbürger erwecken. Dann wird die Werchowna Rada nicht nur zu einem effektiven Instrument der Legislative, sondern auch zum Vorbild der Gesellschaftsmoral.
Ich möchte meine Überlegungen, die wahrscheinlich nicht alles, was man über einen Abgeordneten sagen kann, ausschöpfen, mit der Hoffnung beenden, dass die Parlamentsabgeordneten bei der Formung eines vollwertigen selbstständigen und unabhängigen Staates, wie wir unsere teure Ukraine sehen wollen, Garanten dessen werden, wovon das ganze Volk träumt und worauf es hofft.
15. November 2012 // Ljubomyr Husar, von 2001-2011 Vorsteher der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche
Quelle: Ukrajinska Prawda