Wiedereingliederung des Ostens: Eine schwere, aber durchaus mögliche Mission
Die aktuellen Geschehnisse im Osten und Süden der Ukraine haben einige wichtige Erkenntnisse geliefert: Auf der einen Seite ist zu erkennen, dass die Position der ukrainischen Regierung besonders im Donbass noch sehr instabil ist; auf der anderen Seite haben die prorussischen Kräfte auch nicht genug Unterstützung vonseiten der Bewohner dieser Region.
Im Folgenden wird nun versucht zu ergründen, warum dies so ist und was man machen müsste, um den Osten und auch Teile des Südens in einer kurzen Zeit, jedoch auf lange Sicht hin zu integrieren.
In all den 23 Jahren der Unabhängigkeit hat sich niemand um die zielgerichtete Entwicklung der Regionen gekümmert. Nur von Zeit zu Zeit, vor allem vor den Wahlen, wenn die Fragen hinsichtlich einer Aufspaltung des Landes bewusst von Politikern benutzt wurden, hat die ukrainische Öffentlichkeit angefangen, an die Einheit des Landes zu appellieren und auch darauf hinzuweisen, dass es überhaupt keine richtige Kulturpolitik gibt, die die prorussisch eingestellten Einwohner des Staates in den mentalen ukrainischen Raum integrieren könnte. Daraufhin wurde das Thema heftig diskutiert und auf die nächsten Wahlen verschoben, oder es kam schließlich zu solchen provokativ-destruktiven Geschehnissen wie im Februar 2014, die natürlich nicht ohne die Hilfe Russlands stattfinden konnten.
Die Frage nach Einheit und Integration der einzelnen Landesteile geht dabei weit über die Grenzen der rein kulturellen Thematik hinaus, obwohl diese natürlich eine sehr wichtige Rolle spielt. Im Unterschied zur Krim, wo die Mehrheit der Bevölkerung russisch ist, sind die Donbass-Region und der Süden der Ukraine sehr viel vielfältiger, als es auf den ersten Blick erscheint. Dies äußert sich in einer ganzen Reihe von Faktoren, angefangen bei Fragen zu Sprache und Sprachwahl bis hin zur Einstellung bezüglich der europäischen Integration und einer Nato-Mitgliedschaft.
In seinen Reden wiederholen Putin und seine „Quasselköpfe“ im Kreml ständig die These über die fehlende Legitimation einer neuen ukrainischen Regierung. Und wenn die „Fakten“ bezüglich des Bruttoinlandsproduktes für die Krim-Bewohner als Legitimation ausreichend erschienen, so sind sie es für die Bewohner des Ostens und Teile des Südens bei weitem nicht.
Unter den Merkmalen zur Legitimation einer Regierung nennt der französische Politiksoziologe Mattei Dogan die Einstellung der lokalen Intellektuellen und der Kirchenführung zu ebendieser. In diesem Fall werden die Intellektuellen durch Meinungsführer ersetzt, die Orientierungspunkte für die Gesellschaft auch in politischen Fragen sein sollten.
Wenn für viele Bewohner der Krim sich die moralischen Autoritäten viel eher in Russland befinden, so ist es für die Bewohner der Donbass-Region noch längst nicht so klar. Unterschiedliche Zentren des Einflusses sowie eine bestehende Präsenz von auf Kyjiw orientierten Einwohnern ermöglichten es Putin nicht, im Osten einen Blitzkrieg nach dem Szenario der Krim zu führen. In Regionen, wo die Elite größtenteils proukrainisch eingestellt ist, erhielten die Separatisten eine Abfuhr und konnten ihre Pläne nicht in die Tat umsetzen. Bedeutend ist dabei, dass die Linie des prorussischen Terrors auf dem Gebiet der Charkiwer Oblast Halt gemacht hat und auch noch nicht Richtung Westen weitergewandert ist. Diese Oblast, einer der östlichsten der Ukraine, ist bekannt für die Existenz proukrainisch eingestellter Meinungsführer, die die Leute auf die Straße bringen. In diesem Fall ist allein die Präsenz solcher Autoritäten unter den örtlichen Einwohnern wichtig; es reichen nicht nur Autoritäten, die aus Kyjiw, Lwiw, Ushhorod oder anderswoher hergefahren kommen.
Was ist aber in Donezk und Luhansk zu sehen? Die Serie an Referenden wird von russischen Agenten und unterschiedlichen Außenseitern dirigiert, die in der ganzen Zeit der Unabhängigkeit von keiner einzig psychisch gesunden Person ernst genommen wurden. Der Donbass ist ein recht spezifisches Land allein schon im Hinblick auf die lokale Elite, da sich in den ganzen vielen Jahren dort eine breite Palette lokaler (nichtkrimineller) Autoritäten herausgebildet hat, geleitet von der Ideologie des „Hier und Jetzt“, die ihnen bewusst oder unbewusst von diesem Land vorgegeben wird. Es sind proukrainische Meinungsführer da, ihre Position ist jedoch wacklig. Als Autoritäten dienen oft auch russische Persönlichkeiten wie Politiker, Kirchenführer usw. Durch dieses entstandene Vakuum spielte das lokale politische Establishment in der Person der Partei der Regionen und damit auch der Oligarchen, die diese Partei finanzieren, die Rolle des stellvertretenden Lokalpatriotismus im Stile von „Niemand zwingt das Donbass auf die Knie“.
Nach der Flucht von Janukowytsch war ein bedeutender Teil der Einwohner des Landes von der Politik der Partei der Regionen enttäuscht, deshalb verlor die Partei der Regionen auch zu einem gewissen Grad ihren Einfluss auf die Entscheidungen der Einwohner der Region und bemüht sich jetzt, diesen mit allen Mitteln zurückzubekommen: Sie destabilisieren die Situation, schüchtern die Arbeiter in ihren Unternehmen ein, indem sie mit Entlassung drohen, jagen ihnen Angst mit dem Rechten Sektor ein usw.
So ist einer der Faktoren für die mentale Reintegration des Ostens in die Ukraine die Vergrößerung des Einflusses proukrainischer Meinungsführer in den östlichen und südlichen Regionen. Das klingt einfach, aber kann man dies auch verwirklichen und woher soll man die moralischen Autoritäten und Intellektuellen nehmen?
Solche Leute kann man umgehend aus mehreren Bereichen nehmen: Aus dem kulturell-künstlerischen Bereich, dem Bereich der Arbeit und dem Bildungssektor.
Gewerkschaften
Eines der Hauptprobleme des Donbass ist, dass die Einwohner der Region zu sehr von ihren Arbeitgebern abhängig sind. Große Betriebe gibt es viele und sie sind einer der Hauptakteure bei der Stadtentwicklung, und vielleicht auch die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Deshalb wird jegliche Unsicherheit hinsichtlich der Existenz dieser Unternehmen als Gefahr für die persönliche Existenz angesehen, was die regierenden Oligarchen nur allzu gern ausnutzen. So nutzen diese jede Gelegenheit, um ihre Mitarbeiter unter Kontrolle zu halten, wobei sie häufig deren gesetzlich festgelegte Rechte beschneiden.
Diese Situation könnte durch unabhängige Gewerkschaften verändert werden. In der ganzen Welt sind Gewerkschaften Ausdruck der Rechte der arbeitenden Menschen und gleichzeitig ein wunderbares Instrument zur Wahrung dieser Rechte. In der Ukraine hat man es in den ganzen 23 Jahren der Unabhängigkeit nicht geschafft, eine in vollem Maße eigenständige und effektive Gewerkschaftsbewegung hervorzubringen, was mit dem aus dem Staatsapparat heraus gewachsenen Oligarchen-Klansystems verbunden ist. Die jetzige Regierung müsste sich eigentlich dafür interessieren, eine solche Bewegung zu unterstützen. Und wenn sie nicht geblendet wird von den Wünschen der Wirtschaft, so ist sie schlicht dazu verpflichtet, diese Entwicklung anzustoßen und aus diesem Grund Druck auf die Eigentümer der Betriebe auszuüben, besonders im Osten des Landes.
Wenn eine solche Bewegung zum Schutz der Rechte der Arbeiter nach europäischen Traditionen sowie mit der Orientierung auf Kyjiw, wo die Regierung diese Entwicklung anstößt und weiterhin unterstützt, in Erscheinung tritt, führt dies zur Entwicklung linker proukrainischer Kräfte, insbesondere im Osten des Landes, wo der Wunsch nach neuen Gesichtern in der Politik gerade am größten ist. Parteien nach dem Modell der europäischen Sozialdemokraten wären im ukrainischen Parlament durchaus zu gebrauchen und könnten auch versuchen, die Partei der Regionen, die Kommunisten, die Anhänger der Progressiven Sozialistischen Partei um Natalia Witrenko und andere Außenseiter, die momentan vom Wähler des Donbass bevorzugt werden, zu ersetzen. All dies ist nur möglich, wenn nachgewiesen wird, dass die Gewerkschaften wirksam sind und nicht von Handlangern der Oligarchen vereinnahmt werden. Die Stärkung der Gewerkschaftsbewegung führt notwendigerweise zur De-Oligarchisierung, da sich die Arbeiter aktiv in den Staat einbringen.
So ein Instrument praktisch von Null zu erstellen, und das unter widrigen Bedingungen, wird sehr schwer sein, aber, wenn man es nicht versucht, dann wird es garantiert nicht gelingen.
Bildung
Nur eine Gewerkschaftsbewegung zu erstellen, wird nicht ausreichend sein. Für ihre Existenz braucht man ein Fundament, und dieses Fundament muss die Bildung sein. Vor kurzer Zeit erwähnte der Bildungsminister Serhij Kwit die Möglichkeit, eine Filiale der Kyjiw-Mohyla-Akademie (NAUKMA) im Osten der Ukraine zu eröffnen. Dies ist eine gute Idee, denn dort fehlt so etwas nach dem Modell dieser Universität oder nach dem Modell der Ukrainischen Katholischen Universität (UKU) mit ihrer liberalen Tradition, ihrem Freigeist, und ihrer Erziehung zu kritischem Denken. Außerdem arbeitet die UKU daran, eine zunehmend größere Anzahl von Studenten aus der Gegend um den Sbrutsch (ehemaliger Grenzfluss zwischen Polen und der Sowjetukraine im Westen, A.d.R.) zum Studium mit einem Stipendienprogramm heranzuholen.
Wenn vor 15 Jahren diese Universitäten ihre Filialen im Donbass eröffnet hätten, so könnten und müssten die ersten Absolventen auf die Gestaltung der Politik der Region Einfluss nehmen, und Visionen hätten einen ganz anderen Charakter als das, was gerade die terroristischen Separatisten machen.
Genauso richtig ist die Idee, dass Gelehrten und Studenten aus dem Osten der Ukraine in den Ferien in den Westen reisen. Solche Programme gibt es schon lange, und mit ihrer Hilfe findet ein kultureller Austausch statt, durch den Stereotype aufgebrochen und neue Bekanntschaften geschlossen werden und durch den man außerdem die Kultur und Traditionen des Westens kennenlernen kann. Eine solche Idee braucht mehr Aufmerksamkeit, und außerdem muss es mehr private Initiativen geben, die insbesondere auch in der umgekehrten Richtung funktionieren – also aus dem Westen in den Osten oder Süden.
In Anbetracht der Spezifik der östlichen Region, die von der Industrie geprägt ist, muss man den Diskurs verändern und die humanitäre Bildung in diesem Land popularisieren. In den Industriezentren existieren oft Vorurteile über die humanitären Wissenschaften: Sie sind perspektivlos, unnütz und zwecklos.
Ein wichtiger Bereich, der zur Priorität für die Entwicklung des Donbass und der Sloboda-Ukraine (Gebiet im Nordosten der Ukraine) gemacht werden sollte, ist die Informationstechnologie.
Nicht weniger wichtig ist die Ausweitung unterschiedlicher Programme zur Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, der Durchsetzung und Wahrung ihrer Rechte, des Ausbaus von Wohnungsbaugesellschaften, der Kontrolle der Regierung, lokaler Initiativen usw.
Kunst und Kultur
Vor dem Hintergrund der russischen Aggressionen kann ein beachtliches Aufleben des patriotischen Geistes sogar in den Regionen, die sich noch vor kurzer Zeit als prorussisch sahen, beobachtet werden. Aber es kann auch schnell wieder zu einem Absturz kommen, wenn die Gefahr vorbei ist oder wenn die ukrainische Regierung es nicht schafft, etwas Nachhaltiges zustande zu bringen beim Versuch, die Gefahr des Terrorismus abzuwenden. Darum ist es notwendig, die Gelegenheit zu nutzen und die Präsenz ukrainischer Kultur in der Region zu stärken. Ein Teil der Leute boykottiert das russische Kulturprodukt, und für sie braucht man einfach etwas, womit sie dieses künstlerische Vakuum füllen können.
Gut wäre es, wenn die heimatlichen Mäzene und die Regierung unterschiedlichste künstlerische und kulturelle Aktivitäten im Osten und Süden anstoßen und unterstützen könnten: Tourneeaktivitäten (durch den Wegfall von Konzertgebühren), Eröffnungen von Ausstellungen ukrainischer Künstler, Bücherpräsentationen und Kunstveranstaltungen anderer Art. Natürlich alles nur unter den Bedingungen, dass das Leben der Künstler nicht in Gefahr ist.
Alle diese Punkte sehen auf dem Computerbildschirm ziemlich einfach aus, aber ihre Umsetzung braucht viel Zeit. Genau dies ist erforderlich, wenn die Ukrainer sich wünschen, dass der Donbass Ukrainisch wird. Diese Mission ist sehr schwer, da die Leute im Osten und Teilen des Südens viele Jahre in einem anderen mentalen Raum lebten, in von russischen Propagandisten geschaffenen Pseudorealitäten, wo alles Ukrainische feindlich oder gefälscht ist, es lediglich ein künstliches Konstrukt war, welches kein Recht zum Leben hatte. Das bedeutet jedoch nicht, dass nichts daraus werden könnte.
23 Jahre passive Kulturpolitik seitens der Regierung haben gezeigt: Ukrainisierung findet zumindest deswegen statt, weil die Ukraine existiert. Wenn man sich darüber hinaus noch anstrengt, dann wird das Bild positiver. Natürlich wird es Widerstand geben, sogar trotz des sanften Prozesses der Wiedereingliederung, da die russisch-sowjetische Quasi-Identität von Natur aus streitlustig ist und nichts außer sich selbst toleriert. Aber mit jedem weiteren Jahr einer erfolgreichen unabhängigen Ukraine wird diese „Identität“ mehr und mehr an den Rand gedrängt werden, bis sie schließlich verschwindet. Und mit ihrem Niedergang wird es viel wahrscheinlicher, dass sie auf dem Gebiet ihrer ursprünglichen Schutzzone bleibt, wo sie sorgfältig gehegt und gepfleg wird.
14. Mai 2014 // Nasarij Sanos
Quelle: Zaxid.net