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Die Weisheit der Jahrhunderte, begraben von Hammer und Sichel - Über die „Popularität“ der lateinischen Kultur in der Ukraine

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Lateiner
In der Sowjetunion gab es nicht nur keinen Sex, sondern auch einige wichtige Dinge nicht. Zum Beispiel Latein. Aber wenn sich mit dem ersteren noch jemand beschäftigte, so ist das mit dem zweiten überhaupt nicht geschehen. Denken Sie mal daran, „Was für ein Land wurde verkackt“ (Sowjetnostalgikern zugeschriebene Äußerung, A.d.R.), aber in ihm gab es nur einige Zentren, Klassiker zu lernen: Moskau, Leningrad, Tiflis und Lwiw. Wahrscheinlich zurecht, denn was hätten die ehrlichen bienenfleißigen Erbauer des Kommunismus dem veralteten und toten Latein abgewinnen können? Der Sprache des „verlogenen“ Cicero und des „geschwätzigen“ Aristoteles? Was sind diese beiden Ignoranten im Vergleich mit dem ewig jungen Lenin? Gleichwohl kann man sie noch irgendwie verstehen – die Sichel hat geschnitten, der Hammer aber erschlug die lateinische Sprache aus ideologischen Überlegungen. Aber wir? Wir sind blinde und geistlose Nachfolger eines fremden Erbes. Latein steht bei uns ohne irgendeine Verurteilung am Rande. Es interessiert einfach nicht, besondere Gründe dafür bedarf es nicht. Es ist so gekommen. Man ist es gewöhnt. Platon mit seinem Höhlengleichnis „steuert“.

Denken Sie an den König der Rus Danylo und seine Krönung, an die Absolventen aus den gegenwärtigen ukrainischen Territorien an den angesehensten europäischen Universitäten, den Lehranstalten des 16. und 17. Jahrhunderts und auch an eben jene Kiewer Mohyla-Akademie (zuvor das Kiewer Collegium), an dem die meisten Vertreter der Kosakenältesten ihre Bildung und Erziehung empfingen. Wäre das ohne die lateinische Sprache möglich gewesen? Natürlich nicht! Chmelnyzkyjs Latein bewunderten viele seiner Zeitgenossen, darüber schreiben die Forscher noch heute. Iwan Masepa stellte man für seine Beherrschung des Lateinischen auf eine Ebene mit den „besten Jesuitenvätern“. Auf Lateinisch wurde 1863 die für die Kirchengeschichte der Ukraine beispielhafte Arbeit «Annales Ecclesiae Ruthenae» herausgegeben. Einer der Verantwortlichen für das Erscheinen dieser Arbeit, der Theologe Mychajlo Harasewytsch, formulierte sein Grußwort anlässlich der Wiederherstellung der Galizischen Metropolie in Latein.

Latein beherrschten die galizischen Intellektuellen von Antin Petruschewytsch bis zu Metropolit Andrej Scheptyzkyj und Ivan Franko. In der Mitte des letzten Jahrhunderts wurde in Lwiw Solomon Lurje bestraft, aber dieses Exil trug bei zur Entstehung der Lemberger Schule und zum Eintrag der Stadt in die Liste der wenigen Studienzentren der Klassiker in der UdSSR. Vielleicht ist diese bescheidene und oberflächliche Liste wenig, um zu verstehen, was bei uns mit den Klassikern passiert? Diese Themen sollte man besprechen, ausgiebig lernen, nicht aber einfrieren im Kühlschrank des Lebens, den es momentan bei uns gibt.

Hier könnte man noch das moderne Russland verstehen, das keinen Jurij Drohobytsch, Stanislaw Orichowskyj (Stanisław Orzechowski), Hryhoryj Skoworoda und das Netz der katholischen Orden hatte, das nicht die Erfahrung der intensiven Kontakte mit der europäischen lateinischen Kultur zu verschiedenen Zeiten hatte. Die moderne Ukraine freilich zu verstehen ist schwer. „Der Apfel fällt nicht weit …“ Ok. Wozu brauchen wir Latein in der Schule, an der Universität und in der Öffentlichkeit, wenn es sie in diesen Bereichen auch in der Sowjetunion nicht gab. Damals nahm man Latein aus dem Lehrplan der Mittelschule, wir aber haben einfach nicht darüber nachgedacht, es zurückzubringen. Weshalb auch. Diese „widerlichen“ Chronisten-Wiederkäuer, die von einem Werk zum anderen Angaben übertrugen, sind überhaupt nicht interessant. Uninteressant sind etwa Jurij Nemyrytsch, der Kurse in Oxford, Cambridge und Paris hörte und „Reflexionen über den Krieg mit den Moskowitern“ (Discursus de bello Moscovitico) schrieb, in denen er die Struktur und das politische System Moskowiens und der Rzeczpospolita [Polen] verglich. Er war übrigens auch Autor des Entwurfs des Vertrages von Hadjatsch, den wir in der Regel nur mit der Person des Hetman Iwan Wyhowskyj assoziieren. Das alles aber ist für uns uninteressant, auch in Hinblick auf die Vorgänge der letzten Jahre im Lande.

Vor kurzem hat man versucht, die Praxis des Lernens der lateinischen Sprache an einigen Schulen vorzuschlagen. Irgendwo hat sie Wurzeln geschlagen, irgendwo überhaupt nicht. Gut, das waren vielleicht Versuche, denn für ein Land mit einem ähnlichen Erbe lateinischer Texte mag eine solche Entwicklung etwas beschämend sein. Es gelingt insofern, als man im öffentlichen Raum gelegentlich einige Hinweise auf lateinische Literatur anführt, die friedlich in den Regalen unserer Bibliotheken und Archive ausgebreitet sind. Deshalb ist alles gut, es tut niemandem in den Ohren weh. Schade ist nur, dass man sie in der letzten Zeit zusammen mit den millionenfachen Auflagen der Werke Stalins und Lenins zusammenstellt. Leute, warum lest Ihr denn nicht die Klassiker?

Im Ernst, die Schwierigkeit besteht auch im gewählten Modell des Lernens auf der Ebene der Schule. Die Belastung der Schüler ist fraglos bereits so groß. Die Einrichtung von Kursen der lateinischen Sprache, deren Sinn sie nicht immer verstehen werden, wird bei den Schülern keine große Begeisterung hervorrufen. Wer möchte die Sprache des Vatikans und einer weit entfernten unverständlichen Welt lernen, wo die USA, deren Kontakt man durch Fastfood und Hollywood-Filme spürt, englisch spricht? Die moderne Welt versteht sich als fortschrittlich. Ihr Blick richtet sich auf die Zukunft, die Vergangenheit vergisst sie schnell, sie verliert für sie ihr Gewicht. Über die ferne Vergangenheit braucht man gar nicht erst zu sprechen. Deshalb sind die oben skizzierten Tendenzen irgendwie verständlich.

Andererseits könnte die lateinische Sprache einen Platz an der Schule finden. Hierbei geht es nicht um einen verpflichtenden normativen Kurs. Als Modell könnte man Wahlkurse nehmen, was es auch so in einzelnen Schulen gibt, wo die Schüler Polnisch, Französisch, Deutsch, Spanisch und anderes als zweite Fremdsprache wählen. Wahrscheinlich wäre es nicht schlimm, wenn zu dieser Liste auch die lateinische Sprache hinzukäme. Eine Existenzberechtigung von Latein in der Schule könnten landeskundliche Kurse geben, die ebenfalls auf der Basis von zusätzlichen speziellen Kursen stattfinden (diesbezüglich gibt es regionale Besonderheiten: In Lwiw beispielsweise kann man das mit den lateinischen Inschriften in den Kirchen gut machen). Eine weitere Option könnten extracurriculare Geschichts- und Literatur-Kurse sein, in denen man mit den Schülern über Beispiele lateinischer Kultur in unserem Land sprechen kann. Zunächst müsste solch ein Luxus wie die lateinische Sprache in der Schule vor allem an spezialisierten, genauer sozial- und geisteswissenschaftlichen Lyzeen und Gymnasien existieren, auf lange Sicht könnte man je nach Interesse über eine konkrete umfassende Umsetzung des Faches nachdenken. Das Wichtigste ist der Wunsch danach. Diesen gibt es aber augenblicklich anscheinend nicht.

Es gibt ihn nicht nur im Bereich der Schule nicht, sondern auch in breiter Sicht. Die lateinische Sprache und Kultur sind bei uns in einem Ghetto. Sie sind leider unpopulär, wenig bekannt, und oft überhaupt negativ besetzt. Das letztere trifft insbesondere auf die ukrainische lateinische Literatur zu. Es gibt wenige Inseln, auf denen Forscher dieses Erbe studieren, aber selbst diese ertrinken wegen der globalen Erwärmung der Gleichgültigkeit. Vom Kontinent her reicht man ihnen nicht die helfende Hand, manchmal schreit man überhaupt, dass wir diese Inseln nicht brauchen und macht Wellen, damit dieses unnötige Zeug schneller ertrinkt. An den Universitäten steht das Klassische ebenfalls nicht an der Spitze. Wir können alles auf der Welt studieren und Tonnen unnützes Zeug für das praktische Leben und Information in unseren Kopf stopfen, aber die grundlegenden Kategorien und einen Begriff, deren Verständnis auf der Kenntnis der klassischen Sprachen beruht, überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen. Ein Semester lateinische Sprache ist ziemlich gut, aber auch wenig. Was kann man in einem Semester lernen? Vielleicht dass „Historia est magistra vitae“ (die Geschichte ist Lehrerin des Lebens) und „Homo homini lupus est“ (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf). Vermutlich ist das zweite etwas wichtiger, vor allem für die Praxis des Lebens.

Die Polen produzieren Filme in Latein… oh, erneut das unbequeme Thema der Filme (bei uns kann man weiterhin nicht fernsehen. Sehe ich es richtig, dass die russischsprachige Reklame noch weiter zugenommen hat?). Wenn Du einmal alle fünf Jahre ins Theater gehst, wirst Du nicht anfangen, es zu lieben. Du wirst nicht einmal einen Eindruck gewinnen. Man wünschte sich deshalb etwas System bei der Betrachtung der lateinischen Sprache, von der Schule bis hin zur Universität. Einst war diese Sprache die Grundlage der klassischen Bildung, heute aber gibt es nicht einmal eine klassische Basis. Wozu braucht sie an der Universität der Programmierer? Für Häkchen und Kreuzchen? Vielleicht ist das erneut eine Spezialisierung? Latein als Wahlfach und auf der Ebene einer höheren Schule? Vielleicht wäre das beste Modell: Spezialisiertes Studium des Lateinischen an den Universitäten, entsprechend den beruflichen Bedürfnissen, aber kein umfassendes und vollständiges Studium aller für ein Semester! Vielleicht nicht Quantität, sondern Qualität?

Was gibt es noch Schönes? Irgendwo auf dem Grunde des Ozeans liegt das Schiff der Antike, daneben eine byzantinische Ikone und einige verwandte Disziplinen. Neben ihnen ruft bereits die Alte Geschichte nach Erbarmen, aber wir werden uns bei ihr nicht weiter aufhalten, denn dies ist eine Entwicklungstendenz der Geschichtswissenschaft, und nicht nur in unserem Land. Der Tod alter Menschen wird bereits nicht mehr als eine so schreckliche Katastrophe angesehen, wenn Säuglinge in Massen sterben. Entschuldigen Sie bitte eine solche Metapher, aber sie schien hier zu passen. Und unser Säugling, das ist die Neolatinistik. Eine junge und interessante Disziplin, äußerst vielversprechend, aber .. nicht bei uns. Es gibt einige Zentren, sogar einige Kreise, aber hier gibt es erneut die Situation wie bei allem anderen, bei einem solchen Erbe und solchen Ansatz. Und ich spreche jetzt nicht darüber, dass die Neolatinistik an den Universitäten und akademischen Einrichtungen unterrepräsentiert ist (wir könnten damit vielleicht „prahlen“), aber mehr darüber, dass wir sie irgendwie von ihrem „gesunden Leib“ abschneiden wie ein bösartiges Geschwulst, sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen.

Ein wenig über die Zusammensetzung des Geschwulstes:

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1) Stanislaw Orichowsky-Roksolan (Stanisław Orzechowski-Roksolan). Fremdsprache, Latein. Unsichere Identität. Ausbildung an „auswärtigen“ Hochschulen“. Korrespondenz mit dem Papst, unterrichtete den polnischen König. Unterzeichnete „Ruthenorum me esse“ (Ich bin Ruthene), daher unverständlich. Wahrscheinlich ein Verräter, ganz sicher ein Feind.

2) Georgius Drohobicz de Russiae (Jurij Drohobytsch aus der Rus). Fremdsprache, Latein. Identität sollte unsere sein. Rektor der ältesten Universität der Welt und der Autor des ersten gedruckten Buches, gebürtig aus dem ukrainischen Territorium. Wahrscheinlich ein feindlicher Agent.

3) Sebastjan Klonowytsch (Sebastian Klonovic). Fremdsprache, Latein, hat aber irgendwie über Lemberg und über die Rus geschrieben. Sieht aus nach einem Multikulturalisten und tut so, als sei er ein Russyne.

Meine Sie nicht auch, für wen ist das überhaupt interessant? Machen wir einen Schnitt! Es ist doch unverständlich, was das alles mit uns zu tun hat. Ach, einen habe ich noch nicht erwähnt, Michal Bojim (Michał Boym), auch bekannt als Pu Mi Ko Che Iuan. Besonders gefährlich. Er studierte bei den Jesuiten, „listig“, „heimtückisch“ und „verlogen“. Vielleicht hat er als erster die Eigenschaften von grünem Tee beschrieben, Nilpferde in Realität gesehen und den Europäern gezeigt, wie der Puls gemessen wird. Entschuldigen Sie, aber er passt überhaupt nicht in den sowjetischen, äh, ukrainischen Kanon. Also rausschneiden!

Nach der chirurgischen Operation wären alle zufrieden und glücklich. Heutzutage setzt man den Studenten nicht Geplauder vor, dass es früher eine Zeit gab, als die ganze Welt Latein sprach – sie wissen auch so, dass die internationale Sprache Englisch war und ist. Versuchen Sie auch nicht zu überzeugen – es wissen auch so alle, dass die lateinischen Schriftsteller des XVI. bis XVIII. Jahrhunderts auf den modernen ukrainischen Territorien – Verräter und Verräter der ukrainischen Idee (früher des sowjetischen Vaterlandes) sind. Latein an den Hochschulen bedeutet «Gutta cavat lapidem» (der Tropfen höhlt den Stein). Kurz gesagt, besser nicht Latein lernen, denn es ist eine Sprache, in der teuflische Verzauberungen ausgesprochen werden, brauchen wir das? Natürlich nicht! Wir kennen auch so unseren Weg und den richtigen Pfad in eine bessere Zukunft!

Es ist schwierig endgültig zu sagen, wessen Erbe unsere Vernachlässigung des Lateinischen ist. Es ist auch unbekannt, in wessen Köpfen diese Krankheit steckt, in ideologischen oder unseren unorganisierten und gleichgültigen. Aber es ist sehr schade, dass wir heute nicht ausreichend über das erste gedruckte und auf ukrainischen Territorien gedruckte Buch sprechen, die medizinischen und geografischen Entdeckungen Michal Bojims (Michał Boym), die kulturpolitischen und ethischen Muster der Werke von Stanislaw Orichowsky-Roksolan (Stanysław Orzechowski-Roksolan) und vieles Vergleichbares. Ich würde wünschen, dieses Erbe würde aus dem lateinischen Ghetto unserer Kultur herausgeholt und aktiver in den Bereich öffentlicher Debatten treten. Bei Orichowskyj gibt es den Vergleich des Staates mit einem Organismus, der König-Arzt sollte diesen Leib heilen. Vielleicht ist es Zeit, sich unseres lateinischen Teils unserer Seele anzunehmen, der unter nordöstlichen Schichten versteckt ist?

3. März 2017 // Jewhen Huljuk

Quelle: Zaxid.net

Anm. des Übersetzers:
Die klassischen Sprachen werden zur Zeit beispielsweise in Lemberg an der Ukrainischen Katholischen Universität gelehrt. Ein neues ukrainisch-lateinisches Wörterbuch haben Ende der 90er Jahre Myroslaw und Oleksandra Trofymuk erstellt: Latyns’ko-ukrainskyj slovnyk. L’viv 2001. 2. Auflage L’viv 2012. Mit den klassischen antiken Texten beschäftigt sich in der Ukraine seit Jahrzehnten beständig übersetzend und verdienstvoll der Lemberger Professor Andrij Sodomora, der dieses Jahr seinen 80. Geburtstag feiert. Der Übersetzer selber hat vor mehreren Jahren erstmals die „1. Verfassung“ der Ukraine von Pylyp Orlyk aus dem Lateinischen ins Deutsche übersetzt und publiziert. Einige der angeführten Vertreter der lateinischen Kultur Lembergs werden in der mehrbändigen „Encyklopedija L’vova“ in Artikeln gewürdigt.

Übersetzer:    — Wörter: 2130

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

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