Wird es zum Gericht kommen? Wird es eine Strafe geben? Der Potjomkin'sche Antikorruptionskampf in der Ukraine
Nach der Verabschiedung des Gesetzes über das Oberste Antikorruptionsgericht und der Ernennung der Prüfer für das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) (von welchen der letztere – „der Fall Schebriwskyj“ – für viel Furore sorgte; gemeint ist Pawlo Schebriwskyj, der aufgrund der Präsidentenquote von Poroschenko vom Gouverneursposten in Donezk in die Position eines NABU-Prüfers gehieft wurde, A.d.R.) ist die Schaffung der Antikorruptionsinfrastruktur in der Ukraine ans Ziel gekommen. Formal. Denn Gesetze allen reichen nicht aus. Die Institutionen müssen arbeiten und Resultate liefern.
Bis dato kann man den Kampf gegen Bestechung nicht gerade als effektiv bezeichnen. Es gibt laute Festnahmen à la Hollywood mit Sonderpolizei und Hubschraubern. Für Verdächtige gibt es fantastische Kautionssummen, die durch gerichtliche Entscheidungen auf ein „stemmbares“ Maß reduziert werden. Dank dessen kommen die Figuranten resonanzreicher Fälle aus dem Knast.
Ja, die Verfahren laufen, aber das Interesse der Gesellschaft erlischt ziemlich schnell. Es findet sich immer ein Thema, das das vorherige Ereignis überdecken und übertrumpfen wird. Viele Hochgestellte und VIPs sind nicht bestraft worden. Im Gegenteil sie gehen in die Gegenoffensive: sie beweisen ihre „Rechtschaffenheit“ und „Unschuld“ und holen sich sogar ihre Posten zurück, und erstreiten sich zudem gerichtlich beim Staat die nicht erhaltenen Gehälter.
Es sind die Gerichte, die vielleicht das schwächste Glied im Anti-Korruptions-Kampf bleiben, und nicht nur sie. Davon zeugen eindringlich die Bewertungen des (Nicht-)Vertrauens in das Justizsystem. Kein Akt im Parlament über die Wiederherstellung des Vertrauens ist in der Lage dieses durch das Schwenken eines Zauberstabs oder das Drücken des magischen Knopfes „dafür“ im Sitzungssaal der Werchowna Rada wiederzubeleben.
Praktisch und bequem
Natürlich liegt das Problem nicht nur auf der Gerichtsebene. Oft „kollabieren“ Fälle aufgrund unzureichender Ermittlungen, aufgrund der unzureichenden Beweisbasis, schwacher Anträge. Schlupflöcher und Unvollkommenheiten der Gesetzgebung ausnutzend, wehren die Anwälte verdächtiger Top-Korrupter die Angriffe der NABU-Ermittler und der Staatsanwälte der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft ab.
All dies beseitigt jedoch nicht die Fragen an die Gerichte. Ihre Reformierung hat bisher die höchsten Ebenen berührt, darunter den Obersten Gerichtshof, der in bedeutendem Maße erneuert wurde. Im Allgemeinen hört die Judikative nicht auf, Gegenstand von Kritik zu sein. Zumal es im Richterkorps viele verhasste Menschen gibt, die Abneigung in der Gesellschaft hervorrufen.
Diese ehrenwerten Leute in Talaren sprechen Recht im Namen der Ukraine und zur gleichen Zeit füllen sie ihre Taschen mit astronomischen Summen, vergraben Drei-Liter-Gläser voller Bargeld im Garten, schießen sich mit einer Pistole gegen NABU-Mitarbeiter den Weg frei, bieten dem Chef der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft direkt im Arbeitszimmer Bestechungsgeld an, fliehen eilig in die Russische Förderation oder in die von ihr vorübergehend besetzten Gebiete. Und so weiter und so fort.
Kann denn in einem solchen Fall überhaupt von irgendeinem Vertrauen in die Gerichte und die Richter die Rede sein? Wohl kaum. Das Kastensystem, das kreisförmige Bürgschaftssystem, drängt fremde Elemente aus seinen Reihen, „säubert“ sich von Illoyalen. Daher stellt sich natürlich die Frage nach der Schaffung neuer Gerichte, denen die Gesellschaft trauen könnte. Der Wunsch der Bürger allein reicht jedoch nicht aus. Notwendig ist auch der berühmte politische Wille, dessen Mangel wir oft beobachten, wenn es dem eigenen Gesang an den Kragen geht.
Weil es so gut ist, kontrollierte Gerichte zu haben. Es ist praktisch zahme Richter an der Leine oder am Haken zu haben, die bereit sind, jedem Herrn zu dienen und seine Forderungen im Austausch für Unantastbarkeit zu erfüllen. Daher auch die ganze Diskussion, dass ein Antikorruptionsgericht für die Ukraine nicht notwendig ist. So etwas gibt es in der zivilisierten Welt nicht. Dass alle Gerichte gegen Korruption sein müssen. Warum noch eine weitere Institution schaffen und so einen Schatten auf die gesamte Richterschaft werfen, die automatisch als käuflich und unehrlich gilt? Dort arbeiten doch anständige, professionelle Leute.
Lange haben die ukrainischen Behörden solche Argumente in Debatten mit zivilgesellschaftlichen Aktivisten und Oppositionspolitikern verwendet, die den Präsidenten und die Koalition aufforderten, ein Antikorruptionsgericht zu schaffen. Ohne ihn, so sagen sie, werden alle Bemühungen vom Nationalen Antikorruptionsbüro und der Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, ganz zu schweigen von der diskreditierten Nationalen Agentur zur Korruptionsprävention (Organisation, welche bei Politiker und Staatsangestellten Unstimmigkeiten zwischen tatsächlichem Lebensstil und dem offiziell deklarierten Vermögen und Einkommen nachgehen soll und neben Untätigkeit vor allem durch unangemessene Prämienzahlungen auffiel, A.d.R.), zu nichts führen, und die korrupten Mächtigen bleiben unbestraft.
Diese Aufrufe und Beschwörungen hat die Regierung gewöhnlich ignoriert, bis die Kreditgeber von IWF und Weltbank entsprechende Forderungen an Kyjiw stellten. Die Drohung im Wahljahr und am Vorabend des Jahres, in dem Auslandsschulden zurückgezahlt werden müssen (es handelt sich um etwa elf Milliarden Dollar), keine weitere Tranche zu bekommen, hat die Staatslenker ein wenig zur Besinnung gebracht.
Die Forderung der Geldgeber erfüllte die Rolle eines magischen Tritts, nachdem die Regierung sich in Bewegung setzte und dem Parlament einen Gesetzesentwurf zum Antikorruptionsgericht vorlegte, der mit internationalen Partnern abgestimmt wurde. Angeblich abgestimmt. Denn wie sich während der Geschichte mit der endgültigen Verabschiedung herausstellte, wollten weder die Autoren des Dokuments noch die Abgeordneten dem Westen zuliebe handeln.
Der Hauptstolperstein war der Punkt zum Öffentlichen Rat internationaler Experten, der das Recht bekommen sollte, gegen die Auswahlkommission für die Besetzung der Richterposten des Obersten Antikorruptionsgerichts ein Veto einzulegen zu können. Parlamentarier der Opposition und sogar der Regierungsfraktionen sahen darin Elemente einer externen Steuerung, wovon Moskau ständig spricht, und einen Eingriff in die Souveränität der Ukraine.
In den Tiefen der Seele der Abgeordneten wurden patriotische Gefühle wach, im Feuereifer verkündeten die vom Volk Auserwählten nicht nur, dass sie nicht nur nicht für ein solches Gesetz stimmen würden, sondern dass sie sich sogar an das Verfassungsgericht wenden würden, um dessen Bestimmungen für verfassungswidrig zu erklären. Dies verkündete lauthals der Oppositionsblock, kategorisch dagegen waren auch die Radikalen von Ljaschko. Beim Petro-Poroschenko-Block hoffte man, dass das Gesetz sogar nach einer erfolgreichen Abstimmung in der Werchowna Rada durch das Verfassungsgericht „begraben“ werden kann.
Einen Kompromiss mit dem IWF und den Juristen der Venedig-Kommission zu erzielen, war kompliziert. Ohne ein Entgegenkommen hätte man das Projekt „durchfallen“ lassen oder in der verzerrten Redaktion verabschieden können, welche der Westen nicht akzeptierte. Schließlich stimmten die Autoren des Gesetzes und die internationalen Aufseher zu. Der Einfluss des Öffentlichen Rats internationaler Experten blieb wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Die Mehrheit der Stimmen in der Auswahlkommission bleibt bei der Höchsten qualifizierten Richterkommission.
„Sie“ – das sind „wir“
Aber das ist noch nicht alles. Fast im letzten Moment wurde im allgemeinen Lärm in den Gesetzesentwurf eine Änderung eingebracht, nach der die Berufung in den Verfahren, die gerade vom Nationalen Antikorruptionsbüro geführt werden, in den „fairen“ allgemeinen Gerichten behandelt werden und nicht in der Berufungs-Kammer des Obersten Antikorruptionsgerichts. Das hießt, die Amtsträger, die der Korruption verdächtigt werden, können erleichtert aufatmen. Die Chancen unbehelligt zu bleiben steigen.
Präsident Petro Poroschenko verkündete nach einem Schwall an Kritik, dass es die Abgeordneten waren, welche die skandalöse Korrektur vornahmen. Er selbst ist auf der Seite der progressiven Öffentlichkeit und meint, dass alle Fälle an das Oberste Antikorruptionsgericht übertragen werden müssen. Um dies zu tun, müssen Änderungen am neu angenommenen und unterzeichneten Gesetz vorgenommen werden, wie es insbesondere vom US-Außenministerium gefordert wird. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Abgeordneten sich mit einem Szenario einverstanden erklären, welches ihnen so gar nicht passt. Auch beim letzten Mal schon stemmten sie sich bis zuletzt dagegen (Anfang Juli wurde das trotzdem korrigiert, A.d.R.).
In diesen vielsagenden Details besteht das ganze Wesen des Anti-Korruptions-Kampfes in der Ukraine. Es gibt eine Nachfrage in der Gesellschaft. Es gibt beharrliche Forderungen der westlichen Partner. Und es gibt eine eigenartige Sicht der Regierenden, wie man auf diese Appelle reagiert. Erschaffen von Institutionen für die Fassade. Der Welt wenigstens irgendeinen Fortschritt bei der Überwindung der Korruption demonstrieren, um danach eine Auszeit bis zur nächsten Revision nehmen.
„Wenn unsere westlichen Partner wollen, dass wir ein Anti-Korruptionsgericht gründen, was sollen wir dagegen haben? Lass uns ihnen diesen Gefallen tun“, ungefähr in diesem herablassenden Ton äußerte sich einer der regierungsfreundlichen Experten zur Situation.
Als ob Washington oder Brüssel den Kampf gegen die Korruption nötiger hätten, als Kyjiw. Als ob Kyjiw hier großzügig dem quengeligen Westen einen Gefallen tun würde. Jedoch nicht wirklich, sondern simuliert und widerwillig. Denn bisher erinnert die gesamte Antikorruptionsvertikale an ein Potjomkin’sches Dorf, ein farbenfrohes Schaufenster, das der Welt in der Hoffnung auf eine weitere Tranche finanzieller Hilfe demonstriert wird. Die unter anderem (und das ist schon eine Ironie des Schicksals!) auf die Korruptionsbekämpfung abzielt.
Übrigens wurde das 2016 geschaffene Staatliche Ermittlungsbüro nicht zu einem inländischen Analogon des FBI und nahm nicht einmal wie es eigentlich sollte seine Arbeit auf. Es gibt nur einen Vorsitzenden und zwei seiner Stellvertreter, die im letzten Jahr über die Quoten der Koalitionspartner ernannt wurden. Und es gibt immer noch keine Fälle.
Statt eines effektiven und koordinierten Kampfes sind wir Zeugen zwischenbehördlicher Konfrontationen, die bereits unter dem Teppich hervorkriechen: die Generalstaatsanwaltschaft gegen das Nationale Antikorruptionsbüro, das Nationale Antikorruptionsbüro gegen die Nationale Agentur zur Korruptionsprävention, die Generalstaatsanwaltschaft und das Nationale Antikorruptionsbüro gegen die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft. Zur gleichen Zeit werden die einen zu Heiligen Kühen erklärt und andere für Korruptionsschemen, „Maskenshows“ (Medienbegriff für Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durch vermummte Polizisten, A.d.R.) und „Verbrechensdeckung“ gebrandmarkt. Obwohl einige sehr korruptionsgenerierende „Themen“ und „Futtertröge“ mit den minimierten Anstrengungen der alten Ordnungshüter beseitigt wurden. Antikorruptionsrhetorik und Antikorruptionsaktivismus wurden zum Mainstream und zum potenziellen Sprungbrett in die große Politik.
Die Gesellschaft braucht ein Resultat. Echte Taten und die „Verknastungen“ von Spitzenbeamten. Damit das Gesetz für alle gelte. Damit es wenigstens so wäre, wie in Rumänien. Das ist das neue Nachahmungsmodell. Dort gibt es Analogien zu unseren Nationalen Antikorruptionsbüro und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft, die Nationale Antikorruptionsbehörde (Direcţia Naţională Anticorupţie, DNA), die ungeachtet von Rang und Status, Fälle gegen Ex-Regierungschefs, Parlamentssprecher, Reiche und Verwandte des Präsidenten vor Gericht brachte.
Aber gleichzeitig nehmen die großen Antikorruptionsproteste im Land nicht ab. Denn selbst beim effektiven Kampf gegen die Bestechlichen stimmen die Menschen für politische Kräfte, deren verurteilte Führer die Entlassung der DNA-Chefin Laura Kövesi anstreben und die Entkriminalisierung der Antikorruptionsgesetzgebung mit einem Regierungsdekret planten. Für einen dem Staat zugefügten Schaden über eine Summe von weniger als 44 000 Euro würden keine Strafverfahren mehr eingeleitet werden können. Die halbe Not ist, wenn es solche Politiker gibt. Ein noch größeres Problem ist es, wenn die Wähler, die dieser unterstützen auf diesem Wege die Korruption akzeptieren.
Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass es in der Ukraine keine solche Wählerschaft gäbe. Es gibt sie und das nicht wenige. Die Menschen sind bereit sich über die überzogenen Bezüge von Abgeordneten und Ministern aufzuregen, die in ihren eDeklarationen (gesetzlich vorgeschriebene jährliche elektronisch eingereichte und zum Teil veröffentlichte Deklaration über Vermögen und Einkommen von Staatsbediensteten und ihren Familienangehörigen, A.d.R.) abgebildet sind und mit Detailwissen über die Lipezker Fabrik von Roshen (Konzern von Präsident Petro Poroschenko, A.d.R.), die räuberische Rotterdam+-Formel (überhöhte Tarife für Kohlelieferungen zugunsten des Konzerns des Oligarchen Rinat Achmetow, A.d.R.) und Steuerparadiese zu erzählen. Und gleichzeitig vor Ort für Bürgermeister und Direktmandatsträger, „hart zupackende Wirtschaftler“ und „unsere Jungs“ zu stimmen, die vielleicht auch aus dem Haushalt und den Subventionen des Kreises stehlen, jedoch auch mit den Leuten teilen. Krümel vom Herrentisch.
Auf der unteren Ebene wird die Korruption toleriert, akzeptiert, angenommen und begrüßt. Das ist Dankbarkeit. Ähnliche Erscheinungen in den oberen Regierungsebenen rufen Zornesausbrüche und Verratsvorwürfe hervor. Also liegt das Problem vielleicht nicht nur in der Regierung, sondern auch beim Volk, das diese wählt, dabei nicht wünschend wenigstens von Zeit zu Zeit einmal in den Spiegel zu blicken? Wie viel leichter ist es an ein ehrliches, herzliches, geistreiches und arbeitsames Volk zu glauben, als anzuerkennen, dass „sie“ „wir“ sind. Und allein wollen weder „sie“ noch „wir“ uns ändern. Doch gut, dass „wir“ „ihn“ haben, den Westen mit Zuckerbrot und Peitsche.
2. Juli 2018 // Serhij Schebelist
Quelle: Zaxid.net