SBU-Chef Wassilij Grizak, Generalstaatsanwalt Jurij Luzenko und der wiederauferstandene Arkadij Babtschenko bei der Pressekonferenz im SBU-Gebäude. Quelle: SBU
Ja, am Freitagabend wurde ich zum (Geheimdienst) SBU vorgeladen. Wie auch viele andere meiner Kollegen. In Verbindung mit der Sache Babtschenko und der berüchtigten Liste von 30, oder auch 47. Es kam so, dass ich nicht hin konnte. Später, von den Vorgängen beim Treffen erfahrend, widmete ich die nächsten Tage der Analyse des Geschehenen. Und traf für mich folgende Entscheidung: Ich werde nirgendwohin gehen, nichts unterschreiben und keinen Personenschutz in Anspruch nehmen. An einer Farce nehme ich nicht teil. Und hier folgt warum.
Die erste Geschichte: Babtschenko
Die Geschichte mit „Drohungen gegenüber Journalisten in Verbindung mit der Babtschenko-Sache“ muss sehr klar in zwei Teile getrennt werden. Den ersten – die Inszenierung der Ermordung Arkadij (Babtschenkos) und seine nachfolgende „Wiederauferstehung“.
Nachdem sich die Emotionen legten (und dort konnte es für jeden normalen Menschen nichts anderes geben als Freudentränen), blieben viele Fragen. Auf die es lediglich Antworten zu geben hat. Fragen, die sich mit jedem Tag mehren.
A.) Hätte man ohne „Inszenierung“ auskommen können? Vielleicht hätte man es. Wahrscheinlich werden die oberen Chargen von SBU und Generalstaatsanwaltschaft irgendwann darüber detailliert berichten. Irgendwann, doch nicht jetzt.
In jedem Fall, wenn die Rede von der Rettung eines konkreten Menschenlebens geht, verlieren andere Argumente ihre Stichhaltigkeit. Darunter zur Berufsehre und so weiter. Die eine Sache ist es, schnell in Facebook zu kommentieren; die andere – mit einer realen Bedrohung des eigenen Lebens konfrontiert zu werden. Oder der eigenen Familie. Wer damit konfrontiert war, der versteht das. Die übrigen bewahre Gott davor, auch nur annähernd begreifen zu müssen, wie das ist. Also, hier trifft jeder die Entscheidung für sich. Und diese Wahl unterliegt nicht der Bewertung der breiten Masse, wer du auch immer sein magst – Journalist oder Kindergartenerzieher.
B.) Wann werden die Beweise für die „russische Spur“ in der Babtschenko-Sache präsentiert?
Für die Wahrung des Renommees der ukrainischen Sicherheitsorgane vor den westlichen Partnern, ja und auch vor der gesamten zivilisierten Welt, ist das kritisch wichtig. Die Formulierung „vor Gericht erfahren Sie alles“ funktioniert nicht. Und geschlossene Treffen mit Botschaftern helfen ebenfalls nicht.
Ja, nebenbei gesagt, wenn in der Geschichte mit Babtschenko tatsächlich die russische Seite im Spiel war, muss Arkadij die nächsten Jahre unter dem aufmerksamen Auge von Personenschützern leben. Rund um die Uhr. Da der nördliche Nachbar derartiges nicht verzeiht.
Das vom SBU präsentierte Dossier zu Babtschenko.Die Liste: mal 30, mal 47
Zuerst tauchte die Information über die „Liste der 30“ sofort nach der „Wiederauferstehung“ Arkadij Babtschenkos auf. Gemäß der offiziellen Version brauchte es die Mordinszenierung eben dafür, um nicht nur Babtschenko zu retten, sondern auch Angaben über die nächsten potenziellen Opfer zu erhalten.
Den Worten von (Generalstaatsanwalt) Jurij Luzenko nach wurde erwartet, dass die Liste gemeinsam mit der zweiten Tranche der Zahlung für den Killer eintrifft. Doch irgendetwas ist offensichtlich nicht so gekommen und schon bald erläuterte der Generalstaatsanwalt: Die Liste geriet in die Hände der Generalstaatsanwaltschaft dank einer neuen Spezialoperation bei der Bearbeitung dritter Personen aus dem Umfeld von Boris German (der festgenommene angebliche Auftraggeber, A.d.Ü.), da German die Liste nicht hatte. Obgleich German vor Gericht sagte, dass er die Liste der ukrainischen Spionageabwehr bereits vor dem „Mord“ übergeben hätte.
Es ist völlig möglich, dass German lügt, doch bringt das trotzdem keine Klarheit in die Geschichte.
Wichtig hervorzuheben: Sogar in dieser Etappe ging die Rede noch über 30 Familiennamen. Nicht mehr und nicht weniger.
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Luzenko und Babtschenko gab SBU-Chef Wassilij Grizak zu: zum Stand Ende Donnerstag waren den Sicherheitskräften lediglich „einige Familiennamen potenzieller Opfer“ bekannt. Nicht alle. Einige.
Am gleichen Abend befragte LB.ua eine Reihe von hochgestellten – und was weitaus wichtiger ist – hochqualifizierten Informanten in den Organen. Aus dem, was zu erfahren gelang: eine gewisse Liste existiert tatsächlich. Eine Liste der Feinde der Russischen Föderation, vorzugsweise russischer Oppositioneller und Aktivisten, die zum ständigen Aufenthalt in die Ukraine oder/und nach Europa gezogen sind. Mehr noch existiert diese bereits seit langem. Doch fehlen Angaben über die Präsenz einer solch großen Zahl ukrainischer Journalisten in dieser.
Und siehe da einen Tag später stellt sich heraus, dass es nicht 30, sondern 47 Familiennamen sind.
Urplötzlich.
Die Figuranten werden zum SBU bestellt, doch zum Hauptgebäude des Dienstes auf der Wladimir-Straße kommen nur 17 Leute. Nehmen wir an, dass einige Leute nicht hinfuhren (wie beispielsweise ich oder Jekaterina Sergazkowa), doch wo sind die anderen?
Und wie konnte es kommen, dass in weniger als 24 Stunden die Liste um 17 Familiennamen „anwuchs“? Wurde sie nicht etwa in der Nacht „vervollständigt“?
Man sollte meinen: Teuere ukrainische Sicherheitskräfte, stellt das Dokument offiziell vor und alle Fragen haben sich erledigt. Zumal eben die Veröffentlichung zum besten Schutz für alle Beteiligten wird.
Doch nein, die Liste wurde angeblich zur „Verschlusssache“. Wenn es so ist, dann gibt das Raum für unbegrenzte Manipulationen. Diese beobachten wir im Grund genommen schon. So dauerte es nicht sehr lange und gestern veröffentlichte die Internetseite Strana etwas, was „Liste“ genannt wurde. Zwei zusammengetackerte A4-Blätter – ohne Anfang, ohne Ende, mit groben Fehlern in Namen und Familiennamen, holprigen Links zu Facebook-Profilen und so weiter.
Eine „Erschießungsliste“. Mit Amt und Siegel. Aha.
Wie Sergej Schtscherbina richtig hervorhob, fehlt in der Liste „namens Babtschenko“ der Familienname eben jenes Babtschenko. Doch das ist noch nicht alles. In der Liste – der Version von „Strana“ – fehlt mindestens noch ein weiterer Name. Der dort früher – LB.ua weiß das wirklich sicher – war. Der Familienname eines nahen Verwandten eines hochgestellten Staatsangestellten, der nicht in den besten Beziehungen zur aktuellen Regierung steht (gemeint soll der Sohn von Innenminister Arsen Awakow sein, A.d.Ü.).
Da erinnert man sich an den Esel Ia (aus dem sowjetischen Trickfilm Winnie Pooh, A.d.Ü.) mit seinem geplatzten Luftballon und dem Tontopf: „geht rein – geht raus, geht rein – geht raus“.
Wenn sie es wünschen, wird jemand reingeschrieben oder durchgestrichen.
Wofür das Ganze eigentlich auch in Gang gebracht wurde.
Die zweite Geschichte: ukrainische Journalisten
Wie bereits angemerkt wurde, gingen am Freitagabend 17 ukrainische Journalisten ins SBU-Hauptgebäude. Ja, unter ihnen waren auch die, welche früher in der Russischen Föderation lebten oder/und arbeiten oder mit der Krim/dem Donbass verbunden waren, doch diese stellten nicht die Mehrheit. Dafür waren es diejenigen, welche die derzeitige Regierung offen kritisieren. Sowohl in den Massenmedien als auch in den sozialen Netzwerken. Schmerzhaft und beißend.
Alle wurden im großen Saal versammelt, wo die Chefs von SBU, Generalstaatsanwaltschaft, der Polizeichef und andere hochgestellte Chargen waren, sowie ebenfalls Ermittler. Jedem Journalisten wurde ein „eigener“ Ermittler zugeordnet. Von jedem wurde eine „Unterschrift unter die Geheimhaltungsverpflichtung“ (von der es zum Zeugenstatus nur einen Schritt ist) genommen. Jedem wurde ausdrücklich empfohlen, Personenschutz anzunehmen.
Man fragt sich: wenn die Figuranten der Liste so ein „Geheimnis hinter sieben Siegeln“ sind, warum wurden sie nicht in Extrazimmer geführt? So, damit niemand jemand anderes sehen kann? Und was machte eine Stunde später die Kamera des «Prjamyj Kanal» (und nicht nur diese; der Prjamyj Kanal ist ein für Poroschenko arbeitender Nachrichtensender, A.d.Ü.) vor dem zentralen Eingang des SBU. Zufällig vorbeigegangen? Ernsthaft?
War nicht etwa das Ziel der Organisatoren eine Séance massenhafter Einimpfung gewesen? Der Einimpfung von Angst, des Gefühls der Ungeschütztheit, der Unsicherheit? Den „Faktor Putin“ hat niemand abgeschafft, aber mit diesem kann man leider Gottes alles was man will verschleiern.
Der Selbsterhaltungstrieb ist einer der Basisinstinkte für jedes lebendige Wesen. Wenn er sich bei einem Menschen einschaltet, sind die Folgen unvermeidbar – depressiver Zustand, Neigung zum Fehlermachen, die im normalen Leben nicht zugelassen worden wären, der Wunsch abzutauchen, jegliche Aktivität zu minimieren. Letzteres ist genau das, was die derzeitige ukrainische Regierung von denen will, die sich am Freitag beim SBU versammelten und ebenfalls von denen, die nicht hinfuhren.
Aber: Angst ist eine schnell vorübergehende Emotion. Und die Sicherheitskräfte haben weitaus zuverlässigere Mittel, um missliebige an sich „zu binden“.
Beispielsweise eben jene Unterschrift unter eine Geheimhaltungsverpflichtung. Oder der auf den ersten Blick harmlose Zeugenstatus.
Man sollte glauben: Kam zum SBU, antwortete auf eine Reihe dummer Fragen im Sinne von „was denken Sie über die russisch-ukrainischen Beziehungen?“ (wenn sie anstandshalber gefragt hätten, ob du mit Babtschenko bekannt bist, jedoch war das nicht der Fall) und du kannst wieder gehen. Doch nein. Jetzt muss du – die Unterschrift und ebenso deinen Status im Blick habend – hundertmal nachdenken, bevor du etwas sagst. Zudem – schreibst. Da man die Verpflichtung der „Nichtverbreitung“ weit auslegen kann. Sehr weit. Bis hin zum Schwachsinn. In der Ukraine kann man das.
Und wenn an die „Babtschenko-Sache“ noch einige resonanzreiche Sachen „angehängt“ werden … Och, dann kann man sich komplett gehen lassen.
Und so bis zu den Wahlen. Bis zum Moment des Wechsels der politischen Stimmung im Lande.
Was habe ich für mich selbst beschlossen
Aufmerksam das öffentliche Feld studierend, mit Informanten redend, mit Juristen und Sachkundigen beratend, habe ich für mich eindeutig beschlossen: Bei dieser Farce mache ich nicht mit.
Und wenn man mich zur Befragung ruft (aus der Ferne wurde das schon annonciert), denjenigen befragen, der dazu bestimmt ist zu befragen. Nicht, nun und was? Die professionelle Routine kannst du nicht verstecken. Und in der Tat habe ich viele Fragen.
Erstens: Wie kann ich als Zeuge in der „Babtschenko-Sache“ auftreten, wenn ich von der Sache überhaupt nichts weiß, mir ganz und gar nichts bekannt ist? Ja und Babtschenko kenne ich nur oberflächlich, persönlich unterhielten wir uns gerade ein Mal und ich erinnere mich nicht mehr wann.
Zweitens: Was macht hier die Bedrohung durch die Russische Föderation, wenn ich persönlich über die Russische Föderation nicht schreibe? Mit dem Ziel der Destabilisierung der Situation auf dem innenpolitischen Feld? Das nützt der ukrainischen Regierung mehr als der russischen.
Drittens: Wo ist die Liste? Warum wird sie nicht offiziell gezeigt? Wo sind die Expertisen? Wo ist die Bestätigung der Glaubwürdigkeit dieser Liste? Wo ist ihre russische Herkunft? Wo sind die Beweise dafür, dass mir auf der Grundlage dieses Papiers wirklich Gefahr droht?
Nun, und so weiter. Ich kann das fortsetzen.
Derartige Formulierungen beleidigen die einheimischen Sicherheitskräfte natürlich stark. Darin ähneln sie Präsident Poroschenko mit seinem sakralen: „Warum magst du mich nicht?! Bin ich doch der Präsident!“ Als ob der Faktor der Präsidentschaft wirklich ein gewichtiges Argument dafür ist, dass man sich zum Menschen/der Institution so und nicht anders verhält.
Hier ist es analog.
Beim Wahlkampfstart ist der Versuch der „Zähmung“ einer Reihe führender Journalisten und Blogger mit derartigen Methoden „das Beste“, was man sich im Prinzip ausdenken kann. „Ach so hätte man das machen können?“, würde der Janukowitsch von gestern fragen. „Bring das Boot nicht zum Kentern. Putin greift an“, würde man ihm heute antworten. Wenn man nur mal annimmt, dass die „überflüssigen“ 17 Familiennamen nicht durch den Willen Moskaus, sondern Kiews auftauchten, was früher oder später aufgedeckt werden wird. Einmal aufgedeckt wird das zu ernsthaften Problemen für das Land und irreversiblen für einige ihrer derzeitigen Entscheidungsträger führen – wenn man nirgendwohin mehr mit nichts in der Hand fliehen kann.
Das einzige Mittel die Katastrophe zu vermeiden ist, so schnell wie möglich öffentlich, eben öffentlich, auf alle zugehörigen Fragen antworten. Fragen, welche ukrainische Journalisten und die ukrainische Gesellschaft stellen. Nicht nur die ukrainischen und nicht nur die ukrainische.
P.S. „Du begreifst schon: Dafür, um den Wahrheitsgehalt der ‚Liste der 47‘ glaubhaft zu machen, muss unbedingt jemand der Figuranten kalt gemacht werden. Wirklich, ohne Inszenierung. Nun, oder wenigstens richtig erschrecken“, sagt mir ein Kollege, er ist ein Nachbar auf der Liste. Ich verstehe das. Leider Gottes verstehe ich das. Und ich verharre im Schrecken davon, dass wir heute, im Jahr 2018, nach zwei Maidanen und vier Jahren Krieg, im Prinzip in der Lage sind, die einheimischen Geheimdienste der Bereitschaft zu verdächtigen, dass sie etwas derartiges im Namen politischer Interessen verüben können. Ich möchte mich sehr irren.
P.P.S. „Was tun? Wie weiter mit diesem Schwachsinn?“, fragt ein anderer Kollege. Auch, versteht sich, ein Figurant der Liste. Meine Antwort ist einfach: leben und arbeiten. So, als ob nichts geschehen wäre. Das ist unsere Verpflichtung, unsere Pflicht als Journalisten und unsere einzige Waffe.
6. Juni 2018 // Sonja Koschkina, Chefredakteurin von LB.ua
Quelle: Lewyj Bereg
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