Wladimir Selenski: Die Paranoia der Oligarchen


Wissen Sie, was eine „induktive Psychose“ ist? Es ist eine Art gesellschaftliche Verrücktheit, die nicht unbedingt pathologisch sein muss. Die umgangssprachliche, grobe und dabei erstaunlich präzise Analogie ist das „Herdenverhalten“, das auftritt, wenn jemand, der in den Einfluss seiner Umgebung geraten ist, anderen in dessen Umgebung folgt, ohne nachzudenken.

Im letzten Jahr, dann nämlich, als Swjatoslaw Wakartschuk kaum seine politischen Ambitionen erst angedeutet hatte und in hypothetischen Ratings für eine Präsidentschaft erschienen war, erkrankten Vertreter der ukrainischen Eliten, eine Reihe von Top-Politikern und sogar Diplomaten an der induktiven Psychose bezüglich seiner politischen Perspektiven. Über das Rating von Wakartschuk, seiner Chancen die zweite Wahlrunde zu erreichen oder gar einen Wahlsieg sprach man in allen Büros von Petschersk [Regierungsviertel in Kiew, A.d.R.], dessen Nachbarbezirken und Botschaftsresidenzen. Man sprach davon so erregt, dass man sich häufig überreden wollte (was ein Symptom der induktiven Psychose ist), dass seine Wahlchancen felsenfest seien.

Ende Frühling, Anfang Sommer, als Anatoli Grizenko sein Spitzenrating besaß, ereilte diesen „echten Haudegen“ dasselbe Schicksal.

Mittlerweile erinnern sich all diese Eliten, Top-Politiker und sogar Diplomaten kaum noch an ihre eigenen früheren Präferenzen. Unter anderem deshalb, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf Wladimir Selenski umgerichtet haben. Dieser hat noch nicht mal seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt, aber seine Taten lassen wenig Raum für Zweifel daran.

Filmstudio „Kvartal-95“ als Wahlressource

Wer ist er? Wie ist er? Wie abhängig ist er von Kolomoiski? Mit diesen Fragen machen sich die Bürobewohner der verschiedenen Stockwerke des Gebäudekomplexes „Parus“, unweit des Außenministeriums, wo sich die legendärsten historischen Bürozimmer des alten Petschersk befinden, gegenseitig Angst. Die letzte Frage ist dabei die Schlüsselfrage und meint: Ist es wahr, dass Selenski ein Avatar von Kolomoiski ist oder gibt es für ihn Chancen auch „selbständig zu schwimmen“? Die Antwort auf diese Frage wird seine Attraktivität als Investitionsobjekt für die Präsidentschaftswahl entscheiden.

„Schon vor drei Jahren, dann als die erste Staffel der TV-Serie von Selenski „Diener des Volkes“ erschienen war, hatte ich gesagt, dass Selenski vorhatte, in die Politik zu gehen und den Grund dafür im Voraus bereitete. Das war offensichtlich“, teilt eine unverwüstliche Säule der ukrainischen Regierungsinhaber mit.

„Plus“ ist eines der beliebtesten TV-Sender in der Ukraine, aber der Sender „Ukraina“ hat mehr Prestige. Stellen wir uns mal vor, was passiert, wenn Selenski eine „Kompromissfigur“ für eine ganze Reihe von Oligarchen wird und damit den Zugang zu eben jenem „Ukraina“ bekommt, sowie – warum auch nicht – zu den Sendern der Holding von Pintschuk. Und dann auch noch eine kleine Konzerttournee durch die Fabriken von Achmetow unternimmt, in denen gerade noch Oleg Ljaschko unablösbar soliert. In einem solchen Fall gilt ihm ein Erreichen der zweiten Wahlrunde als sicher. Und vielleicht auch noch der Wahlsieg, wenn man sich seine letzten Umfragewerte anschaut.

Stand heute mag es wie eine Übertreibung aussehen. Die Annahme ist aber nicht irrational. Die Sendungen „Der abendliche Block“, sowie andere Produktionen des Filmstudios „Kvartal-95“ („Diener des Volkes“, „Liga des Lachens“ und viele andere) sammeln stabil ein mehrfaches Millionenpublikum vor den Bildschirmen. Mehr noch: das Filmstudio „Kvartal-95“ ist schon längst selbst zu einer Wahlressource geworden.

Laut eines ukrainischen Strategieberaters der Spitzenklasse (der sich allerdings zuletzt auf europäische Kommunikation spezialisiert hat), dessen Einschätzung wir im Zuge der Vorbereitung dieses Materials eingeholt haben, verschreibt er seinen Top-Kunden ein einfaches Rezept: Danach zu streben in einem der Shows von „Kvartal-95“ erwähnt zu werden, gleichwohl in welchem Rolleneinsatz, um auf diese Weise sofort in ganz Ukraine bekannt zu werden. Und wenn es nicht möglich sein soll, dann sollte man wenigstens im Saalpublikum bei den Dreharbeiten zu den Shows sitzen und mit der Kamera „empathieren“.

So geschah es, übrigens, zu seiner Zeit, mit dem Präsidenten der Werchowna Rada, Arseni Jazenjuk. Oder erinnern Sie sich doch mal an das „plötzliche“ Erscheinen einer Figur, die Gennadi Korban („Das ist mein Freund Gena, mit dem ich immer spazieren gehe“, empfahl Wladimir Selenski, der die Figur von Igor Kolomoiski darstellte) in der Szene über die Entlassung des Oberhaupts der Dnjepropetrowsker Gebietsadministration darstellen sollte. Eine Szene, die sich im Büro des Staatspräsidenten abgespielt hat.

„Eine Parodie von den Machern des Kvartal-95 reicht aus, um einen Menschen buchstäblich entweder zu zerstören oder ihn bis in den Himmel emporzuheben. Das Geheimnis dahinter ist denkbar einfach: ein ukrainischer Bürger, der einer Comedyshow im Saal oder über das Fernsehen zuschaut, schaltet dabei seine Fähigkeit zur rationalen Kritik völlig ab. Er wird dabei offen und empfänglich für einen Konsum von Information jedweder Art und, ich wiederhole, kann sie dann nicht mehr kritisch einschätzen“, sagt unser Strategieberater.

Auf diese Weise werden die Medienprodukte des Kvartal-95 zum besten Lieferdienst für Information an die Bevölkerung. So wie es früher mal die Live-Sendungen von Sawik Schuster waren. Mit diesem hatten übrigens die Macher von Kvartal-95 einen gemeinsamen TV-Sender gründen wollen, noch bevor der Sender „3STV“ erschienen war. Das Projekt fiel aber ins Wasser.

„Der Stern wird im Osten aufgehen.“

Selbst nach dem Verlust der Halbinsel Krim und der Donbass-Region, ist der „weiß-blaue“ Wähler (bildlich gesprochen), nach wie vor repräsentativ für einen Großteil der Wählerkarte der Ukraine. Genauer gesagt, sind es ca. 37-38 Prozent und dabei sind, Stand heute, 10-12 Prozent von den letzteren „verseucht“. Die übrigen sind zugänglich. Auf den ersten Blick ist die Auswahl auf diesem Feld groß, aber ein einfaches Rechnen legt nahe: eine „Daueranwesenheit“ beim Sender „Inter“ gibt Juri Boiko nicht das gewünschte Ergebnis, und eine bei „News One“ – keins für Wadim Rabinowitsch. Ganz zu schweigen von Michail Dobkin, Jewgeni Murajew, Wadim Nowinski und sonstigen möglichen „Kandidaten“.

„Die Polit-Technologien der Bankowaja Straße [Präsidentensitz, A.d.R.] drängeln uns die Prognose auf, dass sich in der zweiten Wahlrunde Poroschenko und Timoschenko treffen werden. Die Logik der Bankowaja erscheint klar, allerdings wird schon jetzt offensichtlich: die Chancen von Pjotr Alexejewitsch die zweite Wahlrunde zu erreichen sind nicht hoch, während die von Timoschenko hundertprozentig sind. Die einzige Frage bleibt nur, wem die Dame in der zweiten Wahlrunde begegnen würde. Ich glaube, ihr künftiger Gegenspieler hat sich noch nicht offen angekündigt. Aber, wer er auch sein mag, für mich ist mit Sicherheit eins klar: sein Stern wird, am wahrscheinlichsten, im Osten der Ukraine aufgehen“, setzt unser Strategieberater fort.

Zusätzlich sollte man sich über folgendes im Klaren sein: gerade jetzt entscheidet das Team des Rinat Achmetow über dessen mögliche Wahlteilnahme. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Kampf an der „weiß-blauen“ Flanke zwischen dessen Kandidaten und Wladimir Selenski ausbrechen kann. Und dabei steht ihnen der letztere, zumindest nach seinen formalen Kriterien, sogar nahe.

„Selenski stammt gebürtig aus Kriwoi Rog. Und er spricht Russisch! Ma stelle sich nur vor, sobald er nur anfangen würde die Menschen in dem Zentrum und dem Osten der Ukraine zu treffen und eine ihnen verständliche Sprache zu sprechen und auch ihnen verständliche Dinge zu sagen, so wie etwa: „die da oben krochen alle dem IWF in den Arsch“ und so weiter, würde es einen hundertprozentigen Effekt haben“, ist sich einer der potenziellen Ressourcenberater des Komikers Selenski sicher. Er selbst, wie auch seine „Kollegen“, von deren Entscheidung die politischen Perspektiven unserer Heldenfigur im Wesentlichen abhängen, fassen Selenski, jeder auf seine Weise, ins Auge. Einer hängt nörglerisch an den sich ändernden Umfragewerten, ein anderer bekommt stets seine eigenen, subjektiven „Einschätzungen“ aus dem Osten geliefert.

So versuchte sich Wiktor Pintschuk Klarheit über die Ereignisse zu verschaffen, als er letztens, Anfang Oktober, Igor Kolomoiski in Jerusalem getroffen hat. Man soll sich nicht wundern: Vor Gericht in London zu ziehen gehöre zum Geschäft, aber persönliche Beziehungen bleiben. Jedenfalls wurden keine konkreten Vereinbarungen hinsichtlich der Hauptperson des „Kvartal-95“ bei diesem Treffen erzielt (nach der „LB.ua“ vorliegenden Information). Und das hatte auch gar nicht auf der Agenda gestanden. Hingegen, besteht jetzt das Interesse von Igor Kolomoiski, wie auch von Wladimir Selenski, darin, die Öffentlichkeit von deren gegenseitigen vollen Unabhängigkeit zu überzeugen. Selenski würde dadurch die Chance bekommen, eine selbstständige politische Karriere zu beginnen. Und Kolomoiski würde die Zeit gewinnen, um in einem passenden Augenblick sein Siegesticket einzulösen. Daran, dass er, wenn seine Sterne gutstehen, es tatsächlich auch einlöst, zweifelt keiner, der ihn kennt.

„Je stärker wir mit Kolomoiski in Verbindung gebracht werden, desto schwieriger wird es für uns sein, eine Unterstützung von jemand anderem zu bekommen. Und gerade diese Unterstützung wird jetzt dringend benötigt. Das meiste, was nur geht. Sich vom Image einer ‚Marionette‘ von Kolomoiski zu distanzieren, ist eigentlich auch eine der wichtigsten Aufgaben für uns gerade“, sagt eine Vertrauensperson aus der nächsten Nähe von Selenski.

Einfacher gesprochen: es geht darum eine Schau der Bräutigame zu organisieren: von finanziellen Sponsoren und politischen Kapitalgebern. Diese, dazu könnte es auch kommen, würden dann faktisch eine fremde Hochzeit bezahlen.

„Wladimir meint es sehr ernst. Die Entscheidung in die Politik zu gehen ist für ihn gar schicksalhaft und man darf hier nicht kürzertreten“, fügt eine dem Komiker ebenfalls nahestehende Person hinzu, als sie uns einige Details der geplanten Strategie mitteilt.

Wie ist denn die tatsächliche Verbindung zwischen Kolomoiski und Selenski, abgesehen von deren Freundschaft?

Die Antwort ist einfach. Die Produktion von „Kvartal-95“ ist eine der kommerziell erfolgreichsten, wenn nicht gar die erfolgreichste überhaupt, unter allen Medienprojekten dieser Art in der gesamten Ukraine. Im Jahr 2012 schloss „Kvartal-95“ einen Zehnjahresvertrag mit dem TV-Unternehmen „1+1“ über den Kauf der Produktionen von „Kvartal-95“. Die Werbezeiten bekommen dabei die „Plus“-Unternehmen (diese Information hat teilweise Igor Kolomoiski selbst „LB.ua“ bestätigt). Aber in diesem Schema ist auch eine Struktur vorhanden (nicht offiziell, selbstverständlich), die eine Kommunikation zwischen den zwei Gliedern sicherstellt. Genau dieselbe, übrigens, die während der Verhandlungen über eine Zusammenarbeit von Igor Kolomoiski und Sawik Schuster verwendet wurde.

Wladimir Selenski ist nicht nur ein Showtalent, sondern auch ein pfiffiger Geschäftsmann, der ein Team von einigen Dutzend Mitarbeitern zum Erfolg führen konnte. Er hatte seinerzeit keine Angst mit Alexander Masljiakow und seinem Unternehmen „AMIK“ zu brechen, das ein absolutes Monopol auf diesem Markt gehabt hatte. Selenski und seine Jungs begannen mit Gelegenheitsaufträgen in der Hauptstadt Kiew, es gelang ihnen aber schnell ernsthafte Verdienste zu erzielen. Was zählt ist, dass diese über ehrliche Wege kamen. Heute generiert sein Team monatlich Cash in einer Größenordnung, von dem der Großteil der Geldsäcke in der Ukraine nur träumen kann. Jeder, der Bescheid weiß, wird es schließlich bejahen: einen großen Batzen Cash dem aktiven Geschäft für seine laufenden Ausgaben zu „entreißen“ ist eine ziemlich schwierige Aufgabe für einen jeden vermögenden Menschen.

Natürlich würde es bei einem Wechsel in die Politik nicht möglich sein, den jetzigen Status quo zu erhalten. Wenn, sicherlich, nicht jemand Größeres, Garantien für den Erhalt des Geschäfts gibt, oder vielleicht sogar eine Vergrößerung der Gewinne für dasselbe Unternehmen in einer anderen Gestalt. Sie verstehen ja, was ich meine.

Jedenfalls, sollte es zu einer solchen schicksalhaften Entscheidung von Selenski kommen, würde es wichtig sein auch dieses letzte Thema zu berücksichtigen. Und nun gelangen wir zu der Preisfrage: was motiviert Selenski selbst? Wie ernsthaft wäre eine Kandidatur für ihn? Wofür braucht er überhaupt in die Politik zu gehen?

Ein rein sportlicher Wettkampf um den ersten Sessel im Land?

Geht es darum bei den Präsidentschaftswahlen nur zu „trainieren“, um im Nachhinein seine Führerschaft in der Wahlliste und die entsprechenden Sitze bei den nächsten Parlamentswahlen zu verkaufen, indem man seine richtigen Leute in die Werchowna Rada schickt? Denn ein eigenes Mandat auf sich zu nehmen ist ja überhaupt nicht notwendig. Einem schlagfertigen Komiker würde es schließlich nicht schwerfallen öffentlich zu erklären, warum er es sich in der Zwischenzeit „anders überlegt“ habe.

Vielleicht um seine eigenen Ambitionen zu befriedigen?

Oder es habe ihn der Glaube an eine „Mission“ ergriffen, mit der Überzeugung, dass nur er allein die Ukraine retten kann?

Denkbar ist einiges. Die genaue Antwort kann nur die Zeit liefern; das aber nicht allzu bald.

In jedem Fall kann Wladimir Selenski auch mit den Worten eines klugen Mannes über Swjatoslaw Wakartschuk treffend charakterisiert werden: „Ein Künstler braucht Applaus. Ein populärer Künstler ist es gewöhnt große Zuschauersäle zu sammeln und in der Begeisterung des Publikums zu baden. Währenddessen geht es in der professionellen Politik nicht um Applaus. Und noch weniger um Begeisterung. Zu oft enden dort sogar richtige Taten fast schon mit Verdammnis. Ist er dazu bereit?“

Risiken und Chancen

Wie Wladimir Selenski selbst zu scherzen pflegt, ist seine fehlende Erfahrung in der Politik sein großer Vorteil. Stand heute gehören zu seinem Team Menschen, die schon seit Jahren mit ihm gearbeitet haben: Film- und Drehbuchautoren, Produzenten und all jene, die in die Produktion von „Kvartal-95“ involviert sind. Und genau sie alle müssten auf alle Herausforderungen operativ reagieren können, die mit einem möglichen Rollenwechsel von Selenski einhergehen würden. Von diesen Herausforderungen gibt es, wenn man einen näheren Blick wagt, sogar einige an der Zahl.

A) Virtuelle Wahlkampagne

„Der erste Tag einer amtlichen Bekanntmachung der Präsidentschaftskandidaten ist der 31. Dezember. Traditionell übersteigen die Umfrageergebnisse über das Neujahr hinweg die entsprechenden Jahresmittelwerte und es wäre töricht diese statistische Beobachtung nicht auszunutzen. Du hast ja schon darüber geschrieben, dass Petro Poroschenko gerade in der Neujahrsnacht seine erneute Kandidatur öffentlich bekanntgeben will. „Kvartal-95“ hat zwar so eine Entscheidung noch nicht parat, aber es ist offensichtlich, dass das Studio seine Live-Sendungen zu Feierstunden nicht ungeladen verschießen wird“, sagte einer der schon erwähnten Experten.

Dabei könnte den Hauptpreis schon derjenige gewinnen, der seinen Antrag in die Zentrale Wahlkommission gerade zum fallenden Vorhang des ausgehenden Jahres bringen würde. Vom letzteren würde Wladimir Selenski sogar noch mehr profitieren, da es ihm eine Möglichkeit in die Hand spielen würde eine Blitzkrieg-Kampagne zu starten und dabei den Raum für mögliche Gegenstiche seiner Widersacher zu verkleinern.

B) Bezüglich der „Gegenangriffe“ existieren in den Fachkreisen ganze zwei sich entgegengesetzte Meinungen.

„Selenski wurde von keinem richtig behindert. Keiner der Journalisten hat ihm ernsthafte Fragen gestellt. Z.B.: Hey, Typ, wie siehst du dich in der Rolle als Oberbefehlshaber, wie sollte man das Donbass-Problem lösen, braucht die Verfassung der Ukraine geändert zu werden usw. Es ist eine Sache Scherze von der Bühne zu reißen, und eine andere sich für das höchste Amt im Land zu bewerben“, sagen die Verfechter der ersten Meinung.

„Die Gegenangriffe der Altpolitiker braucht er nicht zu befürchten. Seine Reaktionsfähigkeit ist spitze. Einen jeden Seitenhieb kann er so humorvoll und schlagfertig parieren, dass sein Gegner es noch bereuen wird“, sagen die Verfechter der zweiten Meinung.

C) Was die Schlagfertigkeit angeht, so müssten tatsächlich nicht so sehr Selenski selbst, sondern sein Autorenteam alle Angriffe wegscherzen, die Mitarbeiter der Medienprojekte von „Kvartal-95“, geleitet von einstigen Partnern und Kollegen von Wladimir, den Gebrüdern Schefir.

Selbst der begnadetste Künstler und Showman würde augenblicklich erlahmen, wenn man ihn nur vom Team seiner Unterstützer trennt; von Film-, Drehbuchautoren und Produzenten. Auch werden Fachkräfte gebraucht, die das Fernsehbild selbst basteln. Denn Live-Sendungen und Kameraschnitte sind eine Sache, der direkte Menschenkontakt auf Plätzen, Straßen, Werkbänken, Dorfdiskotheken – eine andere. Gerade das Publikum auf dem Land wird sehr schnell sehr kritisch, wenn ihm irgendetwas nicht passt.

Gerade deshalb scheint ein Vergleich von Selenski mit dem bekannten italienischen Politiker Beppe Grillo unzutreffend. Der letztere, so sagt man in Italien, habe zwei Quellen für seine Beliebtheit: seinen Internet-Blog und den Marktplatz. Selenski verfügt heute weder über das eine noch das andere. Das einzige, was er mit Grillo gemeinsam hat, ist, dass der Anführer der „Fünf Sterne“ früher auch mal ein erfolgreicher Komiker war.

D) Für den Fall, dass das eigentliche Ziel von Wladimir eine spätere Parlamentskampagne ist, während die Präsidentschaftswahl nur einem „Aufwärmen“ dienen soll, wird es für ihn wichtig sein seine politische Aktivität nicht nur zu erhalten, sondern auch in Wahlzeiten zu erhöhen. Eine Sinnerhöhung und stetige Vertiefung seiner politischen Themen sind dabei zwingend notwendig. Das ist nicht einfach und braucht eine systematische politische Arbeit. Andernfalls geht die im März eingefahrene Ernte bis Oktober 2019 leicht verloren.

„Damit alles so wie früher wird.“

Wenn wir an den Anfang dieses Artikels zurückkehren, fragen wir uns: Was sind die Gründe für die bizarren Schwankungen der gut betuchten Strippenzieher von einem Kandidaten zum anderen? Ist es nicht die Angst davor, dass eine realpolitische Figur die Wahlen gewinnen kann?

Und wäre jetzt überhaupt eine Einigung der Oligarchen auf eine Kompromissfigur wie Wladimir Selenski möglich? Hat er das Zeug dazu als ein De-facto-Kandidat „gegen das Establishment“ zu einem kollektiven Spieleinsatz von ihnen allen bei den künftigen Wahlen zu werden?

Es hängt, wie wir sehen, von mehreren Faktoren ab. Der wichtigste dabei ist, ob in deren Köpfen sich die Überzeugung verfestigen kann, dass der Spitzenmann von „Kvartal-95“ von Igor Kolomoiski unabhängig ist.

Gerade jetzt beobachten sie alle Selenski sehr genau und ein jeder von ihnen könnte auf seine Art anfangen Selenski zu helfen: sei es, durch Medieneinfluss, politisches Fachpersonal, Technik usw. Denn vor dem Hintergrund, dass nach der Präsidentschaftswahl die Wahlen in das Parlament kommen, können sich sogar die kleinsten Investitionen bereits auf der Stufe der späteren Koalitionsverhandlungen bezahlt machen. Und wenn sie sich nicht bezahlt machen, dann würde es tatsächlich die Bezahlung einer eben „fremden Hochzeit“ sein.

Wenn man aber mit Vertretern der ukrainischen Eliten über die kommenden Perspektiven spricht, dann sind sie sich in einer Sache immer einig: dem Wunsch, dass alles „wieder so wie früher“ werde. Zu allererst: die Monopole in ihren Wirtschaftszweigen sollen wiederhergestellt und ihre Steuerhebel auf den Staatshaushalt wieder in Stand gesetzt werden. Aber ist das alles in der heutigen Ukraine noch möglich? Würde sich ein Präsidentschaftskandidat finden, der die früheren Privilegien der Oligarchen diesen seriös zusichern würde und diese es ihm wiederum seriös glauben würden? Offensichtlich nein.

Genauso offensichtlich ist, dass jemand die Oligarchen dazu bringen sollte endlich nach den Spielregeln ihres Landes zu spielen. Und das wird kaum Pjotr Poroschenko sein, dessen zweite Amtszeit für Vertreter des großen (und auch kleineren) Kapitals nur eines bedeuten würde: deren völlige Entfettung. Ihre jetzigen Positionen sind das direkte Ergebnis seiner Furcht vor dem eigenen Machtverlust. Falls im Frühjahr 2019 Poroschenko wiedergewählt wird, wird seine Angst verschwinden und dann würde ihn nichts und niemand daran hindern auf eine „neue Art“ zu regieren anfangen.

Und Wladimir Selenski? Hinter seinem Rücken geistert der Schatten des Vaters von Hamlet.

Im Ergebnis führen alle Wege nun doch zur Figur von Julia Timoschenko. Dieser fehlt für eine starke Position nur der Status einer „Kompromisskandidatin“. Tatsächlich aber ist eine Vereinbarung lediglich mit Rinat Achmetow nötig. Schon bei der Eröffnung der „Donbass-Arena“ lagen sich dieser und Julia Timoschenko in einer freundschaftlichen Umarmung.

Das ist aber schon eine ganz andere Geschichte.

18. November 2018 // Sonja Koschkina

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:   Leo Litke  — Wörter: 3052

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