Zerfall in den Köpfen



Herrscht in der Ukraine eine politische Krise, die den Rücktritt der Regierung und die Schaffung einer neuen Regierungskoalition erfordert? Befindet sich das Land wirklich am Rande des wirtschaftlichen Kollaps und der einzige Ausweg sind Rücktritt der Regierung und ein Wechsel des Ministerpräsidenten? Können die Fraktionen der Regierungskoalition wirklich kein gegenseitiges Verständnis bei grundlegenden Fragen der ökonomischen Reformierung finden?

Meine Antwort: ja, tatsächlich. Nur findet diese Krise nicht im realen Leben statt. Das ist eine Krise in den Köpfen. Und es ist überhaupt nicht wichtig, welche Köpfe das sind – die Köpfe der Zuschauer des Senders Inter, der Abgeordneten Oleg Barna oder Mustafa Najem, des russischen Oligarchen Konstantin Grigorischin oder sogar von Präsident Pjotr Poroschenko. Wichtig ist etwas anderes: dass die virtuelle Krise nicht zu einer realen wird.

Eine reale Krise würde im Lande vorherrschen, wenn die Staatsmacht sich nicht mit den internationalen Finanzorganisationen einigen könnte, wenn uns unsere Verbündeten die Hilfe verweigern würden, wenn Bedingungen für eine Revanche der staatsfeindlichen Kräfte und eine Rückkehr der Ukraine vor den Stand des Jahres 2014 geschaffen würden. Nichts dergleichen passiert – der Vizepräsident der USA verkündete während seines kürzlichen Besuches eine Unterstützung der ukrainischen Regierung und rief zur Einheit auf. Der Internationale Währungsfonds bereitet die Gewährung der nächsten Tranche vor, das allgemeine Rating der demokratischen Kräfte übersteigt das Rating des Oppositionsblocks bei weitem und ja selbst der Oppositionsblock sagt sich von Nähe zu Putin und Janukowitsch los. Bedeutet das, dass die Regierung effektiv und fehlerfrei arbeitet? Nein, das bedeutet es nicht. Doch dafür existiert die Koalition, damit die Beteiligten rechtzeitig Schlüsse ziehen, ein gegenseitiges Verständnis der Minister und Parlamentsabgeordneten anstreben, geschlossenes Handeln und Absichten von Präsident, Regierung und Werchowna Rada erreichen.

Doch für diejenigen, in deren Köpfen Krise herrscht, besteht der einzige Ausweg aus der Situation im Rücktritt des Ministerpräsidenten der Ukraine und der Bildung einer neuen Regierung mit einem unbekannten Leiter an der Spitze. Übrigens gibt es weitaus realistischere Leute. Sie sind überzeugt davon, dass ein solcher neuer Ministerpräsident ein weiterer Schritt zur Stärkung der Vollmachten des Staatsoberhaupts und eine Überwindung des Dualismus in der Staatsmacht ist, die – was auch immer einer sagen mag – sich nicht aus der Verfassung ergibt, doch die man leicht mit politischen Methoden erreichen kann. Wenn an der Spitze des Staates ein starker Politiker steht.

Und an der Spitze des Staates steht ein starker Politiker. Pjotr Poroschenko, dem es in der Zeit auf dem Posten des Staatsoberhauptes ohne eigene Partei und sogar ohne eigenes Team gelang, wenn schon kein Team, so doch wenigstens eine Partei zu bilden, die die größte Fraktion im Parlament stellt, den größten Einfluss in der Koalition hat und die größte Zahl der Ministerposten stellt. Eben diese Umstände des Erfolges in der Wählerschaft erlauben es auch, von zwei Machtzentren zu sprechen. Und warum sollte man sich wundern, dass eines dieser Zentren sich auf Kosten des anderen stärken will?

Doch notwendig zu begreifen ist, dass diese Stärkung ihre Grenzen hat – ebenfalls wieder festgelegt durch den Erfolg bei der Wählerschaft. Man kann soviel wie man will über die Umfragewerte für die Volksfront und Jazenjuk reden, doch arbeiten wir mit dem Ergebnis, dass bei den letzten Parlamentswahlen erreicht wurde. Dieses Ergebnis diktiert die einfachen Bedingungen der Regierungsbildung – entweder wird sie vom Pjotr-Poroschenko-Block, der Volksfront und weiteren drei, zwei (oder einer) der demokratischen Parteien gebildet, oder die Volksfront scheidet aus der Koalition aus und die übrigen Beteiligten müssen eine Koalition mit dem Oppositionsblock gründen. Soweit ich nicht sehr daran glaube, dass die Führer der demokratischen Parteien bereit sind, Ministerposten mit Bojko oder Ljowotschkin zu teilen, so kehren wir erneut zur einzig möglichen Variante der Koalitionsbildung zurück – Pjotr-Poroschenko-Block, Volksfront und die demokratischen Parteien.

Könnten die Koalitionspartner das etwa nicht begreifen? Können sie nicht, denn jeder kann zählen. Doch in den Köpfen einiger Vertreter des Pjotr-Poroschenko-Blocks existiert die Idee, die gestern von Mustafa Najem als „Heimvariante“ (und diese Variante ist um einiges gefährlicher, und verantwortungsloser als der unglückselige Blumenstrauß von Barna) verkündet wurde: die Volksfront verbleibt in der Koalition und schlägt einfach einen anderen Kandidaten für den Regierungschef vor. Welchen Kandidaten ist übrigens nicht klar, doch klar ist, dass diese Kandidatur überhaupt nicht aus der Volksfront sein könnte.

Vielleicht sollte es überhaupt ein Ausländer sein. Die Hauptsache ist, dass das zweite Machtzentrum ein für allemal verschwindet. Wenigstens bis zu den nächsten Parlamentswahlen. Doch ist die Volksfront eine politische Partei, die einen Führer hat. Und diese Partei, wenn sie bestehen bleiben oder sogar wenn sie sich umbilden will, sollte nicht wie eine „Partei der Duldsamen“ wirken. Denn in diesem Fall ist das nicht eine Katastrophe für die Partei und nicht einmal für einzelne Mitglieder der Partei. Es ist eine Katastrophe für das Land.

Wer das nicht versteht, sollte schauen, was im benachbarten Moldau vor sich geht. Dort führte der Kampf der beiden Machtzentren – des Oligarchen und faktischen Führers der Demokratischen Partei Vlad Plachotnjuk und des Führers der Liberaldemokraten Vlad Filatov – anfänglich dazu, dass die Regierung Filatovs wegen Korruption von der Macht entfernt wurde, danach wurde Filatov per Entscheidung des Verfassungsgerichts verboten, den Posten des Regierungschefs zu bekleiden, danach wurde er mit den gleichen Korruptionsvorwürfen verhaftet. Die Gerechtigkeit scheint triumphiert zu haben, das Machtzentrum ist „fast eines“, es gibt keine Regierungskoalition, keine stabile Regierung im Land und Finanzhilfe gibt ihm auch keiner. Die Kreditgeber warten auf eine Stabilisierung, das was von der Wirtschaft übrig geblieben ist, ging zum Teufel, die europäischen Perspektiven Moldaus, des vor kurzem noch „Lieblingskindes“ der Europäischen Union lösen sich in Luft auf und das alles vor dem Hintergrund, dass Moldau nicht mit Russland kämpft und unser Krieg noch nicht beendet ist.

Man muss ein sehr einfaches Ding begreifen. Die Sache ist nicht die, ob uns Jazenjuk gefällt oder nicht, ob Sie seine Reformen für effektiv halten oder ob Sie sich wünschen, dass alles sich schneller bewegt, auf die Hilfe internationaler Finanzorganisationen hoffen oder wie Michail Saakaschwili sagt, bereit sind, ohne sie auszukommen. Die Sache liegt in der elementaren politischen Logik. Wenn diese Logik einem nicht gefällt, dann muss man die Regierung entlassen und zu vorgezogenen Wahlen greifen. Doch dabei gibt es keinerlei Garantien dafür, dass die jetzigen Umstürzler bei den Wahlen gewinnen, denn dann beginnt bereits eine wirkliche und keine virtuelle Krise, ein wirklicher und kein virtueller Zerfall und die öffentliche Meinung kann leicht zur Seite derjenigen neigen, die gerade aller Sünden bezichtigt werden. Relativ gesprochen werden bei einem Hrywnjakurs von 70 diejenigen gewählt, bei denen er bei 25 lag und einiges bleibt für diejenigen, die die Währungsreserven dafür ausgaben, dass er bei acht blieb. Und alle anderen könnten außen vor bleiben. Daher ist es aus politischer Sicht für Arsenij Jazenjuk und seine Regierung tatsächlich vorteilhafter zu gehen, dabei alle Verantwortung für die reale Zukunft des Landes auf ihre Gegner übertragend.

Doch aus staatlicher Sicht ist es besser zu bleiben.

12. Dezember 2015 // Witalij Portnikow

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1134

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