Einmalpräsident: Selenskyjs erstes Jahr


Am 22. April 2019 erwachte Wolodymyr Selenskyj erstmals als Präsident.[Gemeint ist der Tag nach der Stichwahl. Allerdings war die Amtseinführung erst knapp einen Monat später, am 20. Mai. A.d.R.]

Der ganze Stress der vergangenen Monate schien zurückgelassen zu sein: Es würde keine Challenges „Ich bin Clown“ mehr geben, keine humorvolle Fernsehwerbung, keine Welle von Schmutz, keine Vorlagen von Analysen, keine Debatten, keine Stadien.

Er gewann gegen Petro Poroschenko und das triumphal: 73 Prozent gegen 25 Prozent.

Aber als Wolodymyr Selenskyj erstmals als Präsident aufwachte, musste er sich folgende Frage stellen: Was genau hatte er gewonnen?

Während des Wahlkampfs kritisierte der zukünftige Präsident viel und versprach wenig.

Die meisten seiner Versprechen waren eher Metaphern. Selbst die beliebtesten, „Der Frühling kommt – wir buchten ein“ oder „Das Ende der Epoche der Armut“ schafften es nicht zu einem vollwertigen politischen Slogan.

Aber es gab eines unter Selenskyjs Versprechen, das er und sein Team viele Male ganz konkret wiederholten: Wolodymyr Selenskyj wird nur für eine Amtszeit Präsident sein.

„Ich möchte sogleich versichern, ich komme nur eine Amtszeit, um das System für die Zukunft zu ändern“, diese Worte hat Selenskyj sogar in seinem Programm niedergeschrieben.

Seine Abneigung, für immer in das trübe Meer der ukrainischen Politik einzutauchen, hat viele von den 73 Prozent bestochen.

Dies ist allerdings zu einem der Hauptprobleme von Selenskyjs Präsidentschaft geworden: Der Präsident „für einmal“ zieht Personen für die einmalige Verwendung an.

Die von Selenskyj in die Regierung gebrachten „neuen Gesichter“ brachten zumeist interessante, aber Ideen für den einmaligen Gebrauch hervor.

Ihre Unfähigkeit, dem Präsidenten und dem Land ein systematisches Projekt des Wandels anzubieten, nähert sich zunehmend dem Moment, in dem sich Selenskyjs Sieg von einer historischen Chance zu einem kleinen einmaligen bisschen Glück entwickeln wird.

Einwegpersonen

„Ich freue mich sehr, dass wir nun ein Parlament haben, das bereit ist, wirklich zu arbeiten. Das sich nicht auf Populismus einlässt, wichtige Entscheidungen nicht mit Tausenden bedeutungsloser Änderungsanträge befrachtet, sondern echte Reformen durchführt. Ich bin froh, dass überwiegend eine handlungsfähige und effektive Regierung zustandekommen wird.“ — Wolodymyr Selenskyj, 29. August 2019

Am 29. August 2019 fand auf der ersten Sitzung des neu gewählten Parlaments eine merkwürdige, aber sehr symbolische Szene statt.

Präsident Selenskyj hielt seine erste Rede vor dem neuen Parlament, woraufhin der neu ernannte Sprecher Dmytro Rasumkow eine Pause verkünden wollte, um den Präsidenten hinaus zu geleiten.

Aber Selenskyj unterbrach den Parlamentssprecher mit einem gereizten Lächeln.

„Was für eine Pause? Lasst uns arbeiten. Ihr müsst arbeiten. Ich bitte Sie sehr, hören Sie mich? Herr Sprecher, ich werde nirgendwo wieder hingehen“, sprach Selenskyj und setzte sich in die Präsidentenloge, während die Abgeordneten sich daran machten, zu arbeiten.

Gelächter und Applaus rollten durch den Saal. Die Abgeordneten der ersten Einparteien-Mehrheit in der Geschichte von „Diener des Volkes“ begannen abzustimmen, und ernannten den Ministerpräsidenten, die Regierung. Es schien, als würde in der Ukraine ein neues, beispielloses politisches Zeitalter einer totalen und dynamischen Reformierung beginnen.

Aber das schien nur so.

Bereits nach etwa einem halben Jahr wird die „handlungsfähige und effiziente“ erste Regierung Selenskyjs den „Schöpfer“ der Einparteienmehrheit und Ideologen des „Turboregimes“ Andrij Bohdan in den Ruhestand schicken.

Und die Werchowna Rada wird über grundsätzliche Entscheidungen nur unter dem wachsamen müden Blick Selenskyjs abstimmen. Wie damals am ersten Tag.

„Wissen Sie, ich merke sie mir im ersten Monat nicht einmal. Plötzlich werden sie wieder entlassen“, scherzte im Gespräch mit der Ukrajinska Prawda einer der Abgeordneten des „Dieners des Volkes“ über die Minister, dessen Name ebenso wenig etwas sagen würde.

Und in dieser Situation kann man wie in einem Virion den DNA-Strang des gesamten Virus betrachten, der das Regierungssystem der Zeiten von Präsident Selenskyj mit dem Virus staatlicher Leere auszehrt.

Wegwerf-Abgeordnete, deren persönliches politisches Gewicht und Aussicht auf eine Wiederwahl nahe Null liegen, ernennen ebensolche Wegwerf-Minister.

Und dann nach einem Monat wechseln sie diese leise aus, lernen noch nicht einmal die Namen!

Es ist beängstigend, dass sich bei den regulären Umbesetzungen im Land nichts ändert.

Darüber hinaus beginnen unter dem Einfluss des „Virus der Leere“ im Staatsorganismus Mutationen: der Planungshorizont verkürzt sich katastrophal. Und die Regierung erstellt bereits nicht mehr einen Staatshaushalt für drei Jahre, sondern drei Staatsbudgets pro Jahr.

Einmalige Aktionen

„Nach fünf Jahren Krieg sollte endlich eine staatliche Strategie für die sichere Wiedereingliederung des Donbass und der Krim zustandekommen.“ — Wolodymyr Selenskyj, 30. Oktober 2019

Erfolgreiche Politik besteht aus zwei obligatorischen Komponenten: Vision und Handeln. Ein Politiker, eine Partei oder ein Land müssen verstehen, wohin sie gehen, und handeln.

Unvorhersehbare Kursänderungen können nicht nur Karrieren wie die Janukowytschs [2014 gestürzter vierter Präsident der Ukraine, Wiktor Janukowytsch, A.d.R.], sondern auch die Ukraine Tausende von Menschenleben kosten.

Die gleiche Gefahr birgt eine gut durchdachte, klar formulierte und nicht realisierte Strategie.

„Man darf in der Politik nicht lange nachdenken. Man muss das Problem erkennen und schnell darauf reagieren. Ihre Entscheidung mag falsch sein, unterwegs korrigieren Sie sie, aber Sie müssen handeln. Andernfalls verlieren Sie Zeit“, erklärte der Ukrajinska Prawda einer der Top-Politiker, der es geschafft hat, fast alle Schlüsselpositionen im Land einzunehmen.

„Das Hauptproblem von Wolodja (Selenskyj – Ukrajinska Prawda) ist, er denkt viel nach und entscheidet bis zuletzt nichts. Wenn wir gegen Russland Krieg führen wollen, dann müssen wir dies und jenes und das tun. Wenn wir den Krieg beenden wollen, kann man Putin nicht verteufeln, wir müssen irgendwie verhandeln. Wir aber ‚schließen heute Frieden‘, und morgen rufen wir „Chu…lo“ [Beschimpfung Putins als „Schwanzgesicht“], sagt mit ausgebreiteten Händen einer der einstigen Tops des Se!-Teams.

Bei diesem Widerspruch sieht man deutlich ein weiteres schwieriges Problem, das Präsident Selenskyj lösen muss, um erfolgreich zu sein.

Nennen wir es das Problem der einmaligen Aktionen, des Sporadischen und der sichtbaren Systemlosigkeit der Tätigkeit der neuen Regierenden.

Denken Sie etwa einmal an das lautstark gestartete, „revolutionäre“, „volksregierende“ Lift-Projekt. Es sollte ein Portal werden, über das Menschen direkt in die Regierung kommen und ihre Ideen vermitteln, und lief tatsächlich auf die Funktionalität einer bescheidenen Personalagentur hinaus. Der durchschlagendste Erfolg des Lifts ist eine Reihe von Leitern der Kreisverwaltungen. Und im Allgemeinen ist es ein Einmal-Projekt.

Und genauso die Abstimmungen über die Kandidaturen von Ministern und Gouverneuren auf der Facebook-Seite Selenskyjs.

Obwohl das Portal und die “Dija“-Anwendung [www.diia.gov.ua, Staatliche Dienstleistungen online] zu funktionieren beginnen, ist zu hoffen, dass das Se!-Team auch in der Lage ist, „langwierige“ Aufgaben zu lösen.

Die teilweise Defokussierung des Se!-Teams wird durch die Tatsache verursacht, dass das einzige wirkliche Entscheidungszentrum Selenskyj selbst und seine „Troika“ sind.

Wenn anstelle sachkundiger Profis Wegwerf-Personen die Posten besetzen, ist der Präsident gezwungen, sich mit allem auf einmal zu beschäftigen. Infolgedessen geht der Job nicht an denjenigen, der dafür eingestellt wurde, sondern an denjenigen, der ihn ausführen kann.

Das markanteste Beispiel ist, dass bei einer gebildeten Regierung die Lieferung medizinischer Geräte an ein Krankenhaus von einem stellvertretenden Leiter des Präsidentenbüros übernommen wird, dessen Zuständigkeitsbereich die Medien sind.

Auf die Frage, warum Kyrylo Tymoschenko diese wichtige, aber nicht seine eigene Arbeit machen solle, ist die Antwort einfach und zugleich beängstigend: es gibt sonst niemanden.

Es ist klar, dass eine solche einmalige Aufbürdung für den stellvertretenden Leiter des Präsidentenbüros den normalen Betrieb des Büros beeinträchtigt. Dies ist jedoch ein kleiner Verlust im Vergleich zu dem Schaden, den die einmaligen, unsystematischen Maßnahmen in Angelegenheiten von strategischer Bedeutung wie beispielsweise die Rückkehr des Donbass verursachen können.

Die ersten sechs Monate seiner Amtszeit setzte Selenskyj daran, um das „Normandie-Format“ wiederzubeleben, das Schießen im Donbass zu stoppen, die „Vier“ zu treffen, mit Putin zu sprechen und schließlich zu versuchen, den Krieg zu beenden. Selenskyj erfand Pläne und Optionen für die Wiedereingliederung, führte den Austausch von Gefangenen durch und holte Schiffe zurück.

Aber dann gab es ein Treffen in Paris und beinahe nichts ist passiert. Eine einmalige Aktion, die schnell aus dem Rampenlicht verschwand. Nur von Zeit zu Zeit tauscht man Gefangene aus, manchmal seltsame Menschen, was noch daran erinnert, dass es das Treffen in Paris und die friedensstiftenden Ambitionen Selenskyj überhaupt gab.

Der berüchtigte Versuch, einen sogenannten „Beirat“ in der Minsker Gruppe zu schaffen, ist ein weiteres Beispiel für einmalige Aktionen.

Zunächst überredete die Bankowa [Präsidentensitz] in der Person von Andrij Jermak mühsam die Russen zur eigenen Variante des „Rats“. Und dann, sei es aus Angst vor einem patriotischen Aufstand oder nach den Andeutungen aus den europäischen Hauptstädten in Richtung Sanktionen, wird das Thema von der Tagesordnung gestrichen.

Was als einmalig, aber doch wie eine Entscheidung erschien, erwies sich als Nichts.

Und wenn man darauf schaut, fragt man sich, was sich von Selenskyjs Ankündigungen sich noch als dieselbe Leerstelle herausstellen könnte?

Das Versprechen, nichts mit Oligarchen zu schaffen zu haben? Die Zusicherungen dafür, dass man die Regionen nicht als Lehen an lokale Fürsten vergeben habe? Der geopolitische Vektor?

All dies kann in Zweifel gezogen werden. Und nicht deswegen, weil Selenskyj ein Doppelspiel führt, sondern weil alle seine einmaligen Aktionen nicht zu einem klar verständlichen strategischen Grundmuster verwoben sind.

Sobald es auftaucht, einfach und kühn, werden alle einmaligen Aktionen und Menschen ihren Platz in der großen Geschichte bekommen.

Dies wird nur dann möglich sein, wenn Wolodymyr Selenskyj persönlich die Versuchung vermeidet, nach einmaligen Prinzipien zu handeln.

Vor einem Jahr sagte Selenskyj wiederholt, wenn einer seiner Mitarbeiter in einen Korruptionsskandal verwickelt wird, werde er definitiv ins Gefängnis kommen.

„Wenn ich jemals in meinem Leben gegen das Gesetz verstoße, trete ich selbst zurück“, überzeugte der Präsidentschaftskandidat.

Seit einigen Wochen steht der Chef des Präsidentenbüros im Zentrum eines solchen Skandals.[Der Chef des Präsidentenbüros, Andrij Jermak, hat wohl über seinen Bruder Denys Posten verkauft. A.d.R.] Und kein Video von Präsident Selenskyj. Keine Neuigkeiten auf der Präsidentenbüro-Seite oder bei Instagram.

Nicht zu verstehen, wie viel von jedem gesprochenen Wort und jeder angekündigten Absicht, von jeder Ernennung und Entlassung abhängt, kann den Präsidenten teuer zu stehen kommen.

Das Ignorieren des „Parallel-Lifts“ von Jermak, dem Jüngeren kostet mehr – Vertrauen.

Man kann sich an die Telefonnummern [der Oligarchen] Achmetow oder Kolomojskyj erinnern und darum bitten, dass die Materialien von Leros nicht ins Programm kommen.[Der Skandal um die Jermak-Brüder wurde durch veröffentlichte Videos des Parlamentsabgeordneten Geo Leros belegt, kam aber im ukrainischen Fernsehen nicht wirklich vor. A.d.R.]

Doch ist es für Selenskyj besser sich an jenen sonnigen Morgen zu erinnern, als er zum ersten Mal als Präsident aufwachte.

Haben Sie sich das so vorgestellt?

22. April 2020 // Roman Romanjuk

Quelle: Ukrajinska Prawda

Übersetzer:    — Wörter: 1723

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