In Jalta wurde über die europäische Perspektive der Ukraine diskutiert


Am 1. und 2. Oktober fand im Liwadija-Palast der 7. Gipfel „Jaltinskaja Jewropejskaja Strategija/Yalta European Strategy (YES)“ statt. Hauptthema des Forums im Bereich der Politik wurde die europäische Integration der Ukraine. Ukrainische und europäische Politiker tauschten eine Reihe von gegenseitigen Anforderungen aus, wonach der Europakommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik, Štefan Füle, vorsichtig die europäische Perspektive der Ukraine anerkannte. Eine weitere Schlüsselfrage der Veranstaltung wurde die Entscheidung des Verfassungsgerichts zur Rücknahme der politischen Reformen.

Der europäische Vektor

Das jährliche Treffen „Jaltinskaja jewropejskaja strategija“ (YES) fand unter der Devise „Die Ukraine und die Welt: Neudenken der Perspektiven“ statt. Um die Gäste auf ein Gespräch über die globalen Probleme einzustimmen wurde im Liwadija-Palast eine große Installation dreier gigantischer Klappstühle um einen ebenso riesigen Tisch errichtet. „Ich wollte zeigen, dass die Probleme, die wir derzeit diskutieren, sogar noch größer sind als die, welche hier 1945 gelöst wurden (bei der Konferenz von Jalta unter Beteiligung von Iosif Stalin, Winston Churchill und Franklin Roosevelt)“, erläuterte der Gründer von YES, der Geschäftsmann Wiktor Pintschuk, die Idee einem der Gäste, dem Vorsitzenden der Partei „Front der Veränderungen“, Arsenij Jazenjuk.

Das Vertretungsniveau auf dem Forum erwies sich als so hoch wie niemals zuvor. Nach Liwadija reisten die amtierenden Präsidenten der Ukraine und Polens, Wiktor Janukowitsch und Bronisław Komorowski, Premierminister Nikolaj Asarow, der geschäftsführende Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF), Dominique Strauss-Kahn und der Europakommissar für Erweiterung und europäische Nachbarschaftspolitik, Štefan Füle. Füle reiste übrigens nach Jalta für einen dreitägigen Besuch, was ein beispielloses Zeichen der Aufmerksamkeit darstellt.

Zu den Perspektiven der europäischen Integration der Ukraine äußerten sich alle führenden Teilnehmer des Forums. Den Ton gab Janukowitsch vor, der zum ersten Mal während seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt die Position der Europäischen Union bei den Verhandlungen zur Bildung einer Freihandelszone mit der Ukraine eine harten Kritik unterzog. „Die EU schlägt uns vor gleichzeitig alle Zoll und Nichtzollbeschränkungen aufzuheben. Die Kosten dieses Schritts würden 20 Prozent der Haushaltseinnahmen aus dem Import betragen“, entrüstete sich der Präsident. Er verlieh ebenfalls seiner Unzufriedenheit darüber Ausdruck, dass Brüssel sich weigert die europäische Perspektive der Ukraine anzuerkennen. „Soweit die EU nicht bereit ist die Mitgliedschaft der Ukraine zu diskutieren, werden wir das Tempo und die Form der Annäherung selbst wählen“, warnte er.

Bronisław Komorowski unterstützte den ukrainischen Kollegen indem er erklärte, dass er die Anerkennung der Mitgliedschaftsperspektive der Ukraine lobbyieren wird. „Wir (die EU) sollten nicht bestätigen, dass Europa seine Kräfte erschöpft hat und erst danach über eine Erweiterung informieren kann, wenn es die internen Probleme gelöst hat. Man muss über parallele Prozesse reden!“, überzeugte der polnische Präsident die Versammelten. „Polen bemüht sich auf die Europäische Union einzuwirken, damit sie endlich den Mut hat von einer Erweiterung zu reden“.

Der Auftritt von Štefan Füle erwies sich als nicht weniger emotional. „Was können wir anlässlich des Wunsches der Ukraine in die EU einzutreten sagen? Das es nur Illusion und Rhetorik ist“, erklärte der Eurokommissar hinreichend scharf. „Wir haben bereits viele Zugeständnisse dort getan, wo wir es konnten. Doch es gibt Momente, wo wir keine Kompromisse eingehen können. Insbesondere beim Stand der bürgerlichen Rechte und Freiheiten“.

Nach Gesprächen zwischen Štefan Füle und Wiktor Janukowitsch mäßigte der Eurokommissar den Ton seiner Äußerungen spürbar. Und auf der Pressekonferenz am Freitagabend gab er unerwartet zu verstehen, dass es die EU-Mitgliedsschaftsperspektive für die Ukraine trotz allem gibt. Hauptbedingung dafür ist, seiner Meinung nach, die Fortsetzung der demokratischen Umgestaltung im Lande. „Wenn Sie Ihre Bewegung auf dem Reformpfad fortsetzen, dann wird in einer bestimmten Zeit, davon bin ich überzeugt, ein Konsens zwischen den Mitgliedsländern der EU bezüglich des Artikels 49 des Vertrages von Amsterdam erreicht werden“, erklärte Füle.

Das vom Europakommissar erwähnte Dokument konstatiert, dass den Antrag auf Mitgliedschaft bei der EU jeder europäische Staat stellen kann, der die Hauptprinzipien der EU beachtet – Freiheit, Demokratie, Oberhoheit des Rechts, Achtung der Menschenrechte.

Der Verfassungsvektor

Die Information darüber, dass das Verfassungsgericht am Freitag beabsichtigt das Urteil zu den Verfassungspolitreformen zu veröffentlichen, tauchte in der Presse am Vorabend des Gipfels auf. Für die ukrainischen Teilnehmer war sie keine Überraschung. „Ehrlich gesagt, habe ich bereits vor einigen Tagen den genauen Text dieses Urteils erhalten, nur ohne den vierten Punkt (darüber, dass das Urteil des Verfassungsgerichts endgültig ist und nicht angefochten werden kann)“, gab der Vorsitzende der Werchowna Rada, Wladimir Litwin, gegenüber dem “Kommersant-Ukraine“ während einer der Pausen zu.

Am Freitag versammelten sich im Liwadija-Palast fast alle bekannten ukrainischen Politiker, mit Ausnahme der Führerin von „Batkiwschtschyna/Vaterland“, Julia Timoschenko. Bemerkenswert ist, dass die Oppositionsführerin bei allen vorherigen YES-Gipfeln traditionell für eine Beteiligung an Diskussionen eingeladen wurde (Ausgabe des “Kommersant-Ukraine“ vom 28. September 2009). Wiktor Pintschuk teilte Journalisten mit, dass Timoschenko nicht auf die Einladung zum YES-Gipfel reagiert hat. „Das ist unwahr. Es gab keine Einladung“, kommentierte dessen Worte der Berater von Timoschenko bei außenpolitischen Fragen, Grigorij Nemyrja.

In Jalta erwies sich Nemyrja als Hauptauftretender im Namen von „Batkiwschtschyna“. Er bewies den Versammelten, dass die Entscheidung des Verfassungsgerichts einen Schlusspunkt hinter die europäischen Perspektiven der Ukraine gesetzt hat. „ Die fundamentalen Hauptwerte des Amsterdamer Vertrages wurden aufgrund dieser schändlichen Entscheidung verletzt!“, erklärte Nemyrja. „Ich erinnere daran, dass der erste Versuch diese Politreform zu revidieren von eben jener politischen Kraft unternommen wurde, zu der Nemyrja gehört“, entgegnete ihm der Außenminister Konstantin Grischtschenko.

Bei der EU stimmte man übrigens nicht mit der kategorischen Erklärung des Oppositionspolitikers überein. Štefan Füle teilte mit, dass die EU beabsichtigt sich bei der Bewertung der demokratischen Umgestaltung nicht an der Tatsache der Verfassungsänderung, sondern am Verlauf der anstehenden Kommunalwahlen zu orientieren: „Eben die Wahlen sind geeignet dem Image der Ukraine den demokratischen Hauptstempel aufzudrücken“.

Multivektorielle Politik

Noch am Freitagmorgen musste Wiktor Janukowitsch auf die Frage des Entwicklungsvektors der Ukraine antworten. „Wenn Sie heute zum Präsidenten gewählt worden wären, würden Sie nach Brüssel fahren?“, interessierte sich einer der Forumsteilnehmer bei ihm. „Es gibt dieses alte Sprichwort, wie mir scheint ukrainische: ‘Die Stiefel kennen den Weg‘“, wich Janukowitsch der Antwort aus.

Zum zweiten Mal wurde dieses Thema am Sonnabend diskutiert. Auf der Paneldiskussion unter der Bezeichnung „Ukraine: Bewegung nach Osten oder nach Westen“ wiesen die Organisatoren den Abgeordneten des Europaparlaments Elmar Brok, den Generalsekretär der Zollunion Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Sergej Glasew, Grigorij Nemyrja und den zweiten Präsidenten der Ukraine, Leonid Kutschma, an eine Antwort auf die Hauptfrage des Gipfels zu finden. Das Panelformat sah vor, dass die Teilnehmer auf Fragen aus dem Saal antworten sollten, doch tatsächlich wurde der Löwenanteil des Gesprächs von dem Streit zwischen Nemyrja und Kutschma besetzt. Der Ex-Präsident begann mit einer Kritik der vorhergehenden Machthaber, die den Kurs auf die europäische Integration genommen haben, dabei das Niveau der bilateralen Beziehungen zu Russland absenkend. „Zu sagen, dass wir dorthin und hierhin gehen, ist die Politik der Multivektorialität, die wir bereits 15 Jahre hatten“, entgegnete ihm Grigorij Nemyrja. Diese Bemerkung verletzte Leonid Kutschma. „Ihre Julia war ein solcher ‘Hansdampf in allen Gassen/ (многостаночница)’, dass sie jeder beneiden kann. Haben wir ihre Treffen mit Putin nicht gesehen? Kennen wir nicht den Preis für die Unterzeichnung der Gasverträge? Ist das Multivektorialität oder Monovektorialität?“, entrüstete er sich.

Der Streit darüber, ob die Ukraine durch die Unterzeichnung der Gasverträge gewonnen hat, unterbrach die Moderatorin des Forums Christi Freeland. „Schlussfolgerung: die ukrainischen Politiker wählen das europäische Modell. Doch sie möchten es so tun, dass Russland es nicht bemerkt und nicht den Gaspreis erhöht“. Jedoch gefiel dieser Schluss nicht jedem der Diskussionsteilnehmer. Glasew versuchte zu zeigen, dass die Schaffung einer Freihandelszone mit der EU Kiew schadet. „Wenn die Ukraine eine Freihandelszone mit der EU gründet, kann sie die existierende Freihandelszone mit Russland, Weißrussland und Kasachstan beibehalten? Eine sehr strittige Frage“, sagte Glasew. „Soweit ich weiß, gibt es einfach keine tiefergehenden Rechnungen dazu“. Er wurde von Leonid Kutschma unterstützt, der erklärte, dass die Verringerung des Warenumsatzes der Ukraine mit der Russischen Föderation „dem Tode ähnelt“. „Die Frage der Vereinbarkeit der beiden Freihandelszonen ist in der Tat sehr wichtig und sehr ernst“, stimmte mit ihm der ukrainische Diplomat Alexander Tschalyj überein. „Nichtsdestotrotz hat das ukrainische Volk bereits die Integrationsrichtung gewählt. Wir machen alle bei uns in den Häusern ‘Euro-Remonts’ und niemand von uns macht einen ‘Russia-Remont’.“

Sergej Sidorenko

Quelle: Kommersant-Ukraine

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1361

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