Der schwierige Dialog über Amnestie: Womit beginnen?
In der Ukraine, die die traumatische Erfahrung der „hybriden Aggression“ durchlebt, stößt die Frage der Amnestie verständlicherweise auf Ablehnung. Für viele sind sogar bereits die Gespräche darüber ein Zeugnis staatlicher Schwäche. Aber in der Praxis des Strafrechts ist alles umgekehrt. Die Amnestie ist ein Indiz für Stärke, steht sie doch für die Fähigkeit der Gesellschaft und des Staates, straffällig gewordene Menschen wieder zu integrieren, ohne Risiko für die Oberhoheit des Rechts und eine Verschlechterung der Kriminalität im Lande.
Amnestie heißt nicht, allen ausnahmslos zu vergeben – Die internationale Praxis
Die Amnestie ist nicht reiner Selbstzweck. Sie ist lediglich ein Teil der Übergangsjustiz und muss zusammen mit anderen Maßnahmen das Recht der Opfer auf Gerechtigkeit wiederherstellen, die Schuldigen zur Verantwortung ziehen und zukünftige Konflikte verhindern.
Übrigens bildet diese Art und Weise genau die öffentliche Meinung ab. Entsprechend einer kürzlich vom Rasumkow-Zentrum durchgeführten Umfrage ist die Mehrheit der Ukrainer (63 Prozent) nicht einverstanden mit einer „völligen“ Amnestie für diejenigen, die an Kampfhandlungen im Donbass teilgenommen haben. Für sie ist ein solcher Kompromiss zum Erreichen des Friedens unannehmbar.
Es ist interessant, dass die sogenannten „breiten“, „bedingungslosen“ oder „blinden“, „Blanko“-Amnestien noch in den 80ern des vorigen Jahrhunderts negativ bewertet wurden. Die internationale Gemeinschaft verstand, dass „allen ohne Ausnahme verzeihen“, um Frieden zu erreichen, sie diesem Ziel nicht näher bringt. Mehr sogar: Es ermutigt zur Durchführung neuer Verbrechen, was das Vertrauen in den Rechtsstaat und in seine Einrichtungen untergräbt.
Seit 1946 wurden weltweit über 650 Amnestien erlassen. Dies ist eine reichhaltige Erfahrung und verdient fraglos Aufmerksamkeit. Nicht nur die Aufmerksamkeit der Experten, die an dem Konzept der im Übergang befindlichen Justiz in der Ukraine arbeiten, sondern der Gesellschaft im Ganzen. Kann doch das „Versuch und Irrtum“ der Anderen uns helfen, das optimale Modell zu finden.
Was sollte man als Erstes beachten?
Natürlich sogenannte Rote Linien. Die Normen des internationalen humanitären Rechts und die UN-Resolutionen machen Amnestien unmöglich für Personen, die man folgender Vergehen beschuldigt oder die wegen solcher verurteilt wurden: Kriegsverbrechen, Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, grobe Verletzungen der Menschenrechte.
Im Ergebnis darf eine Amnestie die Verfolgung solcher Personen nicht behindern oder gesellschaftliche Unruhen provozieren infolge einer ungerechten Entscheidung, die Verbrecher auf freien Fuß setzt. Außerdem kann eine Amnestie nicht internationalen Verträgen, die für das Land verpflichtend sind, oder dem Menschenrecht der Opfer auf effektiven Schutz ihrer Rechte einschließlich Wiedergutmachung widersprechen.
Es lohnt sich anzumerken, dass begrenzte Amnestien für einen kleinen Teil von Kriegsgefangenen gleichwohl möglich sind. Ihre unverzichtbare Eigenschaft ist die Übereinstimmung mit den Normen des internationalen Rechts und den Statuten der UN. Aber solche Amnestien sind eher die Ausnahme und können nur für normale Mitglieder militärischer Einheiten oder Gruppierungen angewandt werden. Oft wird auch dem Fakt Aufmerksamkeit geschenkt, dass einfache Mitglieder unter Zwang illegale Befehle der Führung ausführten. Das Hauptmotiv für die Durchführung einer solchen Amnestie ist der Umstand, dass ohne sie die Erhaltung des Friedens und der Sicherheit gefährdet ist und Friedensverträge wieder gebrochen werden könnten.
Ein zweiter wichtiger Punkt ist die erwartete Effektivität der Amnestie. Gibt es für sie eine dringende Notwendigkeit zum Erlangen des Friedens und der nationalen Aussöhnung? Es gibt ausreichend prägnante Indikatoren, um die Frage mit Ja oder Nein beantworten zu können.
Zum Beispiel kann eine Amnestie eine „Tür“ sein für Friedensvereinbarungen und die Umsetzung von Aussöhnungsprogrammen, für Kapitulationen und die Entwaffnung irregulärer paramilitärischer Gruppierungen, die Befreiung politischer Gefangener und die Rückkehr von Flüchtlingen, die Beteiligung der Verbrecher bei der Feststellung der Wahrheit u.a.
Kommen wir zu den Prinzipien, Regeln und Bedingungen der Amnestie. Diese müssen ausformuliert werden, wenn möglich noch vor dem endgültigen Ende der Kampfhandlungen. Es müssen die Verbrechen genau definiert werden, die unter die Amnestie fallen und welche nicht, ebenso die Kategorien der Personen, die amnestiert werden können (unter Berücksichtigung ihres sozialen Status und der Art der Tätigkeit, Funktion, der konkreten Beteiligung an ungesetzlichen Handlungen, vorheriger Gesetzesverstöße usw.).
Die Bedingungen für die Gewährung der Amnestie können verschieden sein (gewöhnlicherweise werden diese detailliert beschrieben). Zum Beispiel müssen die Konfliktbeteiligten individuelle Erklärungen abgeben über Straferlass, ausgeführte Straftaten gestehen und vollständig darüber Auskunft geben, an öffentlichen Anhörungen und traditionellen Gerichtsverfahren teilnehmen, Schaden wiedergutmachen sowie gemeinnützige Arbeit leisten.
All das und vieles anderes muss von uns beachtet werden. Aber es gibt so manches, das unsere Situation wirklich einzigartig macht.
Herausforderungen des „hybriden Kriegs“: Unter welchen Bedingungen ist eine Amnestie möglich?
Den Worten Präsident Wladimir Selenkjis [ukr. Wolodymyr Selenskyj] nach kann eine Amnestie für die Mitglieder von Gruppierungen der „DNR/LNR“ [Donezker und Lugansker Volksrepubliken, A.d.R.] nur diskutiert werden nach dem Abzug der russischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten des ukrainischen Donbass, die Entwaffnung der Kämpfer, eine Sicherheitsgarantie und die Durchführung regionaler Wahlen. [Offiziell geht Kiews davon aus, dass auf der Gegenseite faktisch die russische Armee kämpft, auch wenn die Einheiten aus örtlichen Einwohnern rekrutiert werden. Daher werden die Separatistengebiete auch als russisch besetzt bezeichnet. A.d.R.]
Aber es ist wichtig, das Grundkonzept bereits jetzt zu erstellen, ist es doch ein bedeutender Teil der Strategie einer gefahrlosen Reintegration der zeitweilig besetzten Gebiete. Die Ukraine muss den Verantwortlichen „der anderen Seite“ ein deutliches Signal geben und versichern, dass wirklich Schuldige bestraft werden und das Leben unter der Besatzung nicht negativ angerechnet wird, so wie es in Sowjetzeiten war.
Aus diesem Grunde muss in der ukrainischen Konzeption einer Transformationsjustiz zumindest teilweise vorgesehen werden, unter welchen Bedingungen die Amnestie stattfindet, wen sie betreffen wird, wie die eigentlichen Prozeduren der Amnestie durchgeführt werden und welche Behörden dies tun sollen.
Eine solche Konzeption sollte nicht nur die internationale Erfahrung berücksichtigen, sondern auch spezifische Herausforderungen, die verbunden sind mit dem hybriden Charakter des Kriegs im Osten der Ukraine.
Die Anwendung der Amnestie erstreckt sich nur auf nationale Konflikte. Der „hybride Krieg“ vereint äußere Aggression und Teilnahme illegaler bewaffneter Gruppen, bestehend aus ukrainischen Staatsbürgern, am Konflikt. Daher sollten im Gesetzestext zur Amnestie detailliert die zeitlichen und geografischen Grenzen der Ereignisse beschrieben werden, die unter die Definition des nationalen Konflikts fallen, und ebenso die Beschreibung dieser Ereignisse. Nicht weniger Aufmerksamkeit sollte man der Definition der Rollen der Personen bei der Durchführung gesetzeswidriger Handlungen während des militärischen Konflikts oder massenhaften Widerstands gegen die Staatsgewalt schenken.
Für eine genaue Abgrenzung der Ereignisse und Teilnehmer im Rahmen des hybriden Kriegs ist es unabdingbar, den Verlauf möglichst vollständig und objektiv zu dokumentieren. Gemeint ist damit nicht die behördliche Sammlung von Fakten für die Staatsanwaltschaft, SBU [ukr. Geheimdienst; Anm. d. Ü.], Armee oder das Außenministerium. Möglicherweise lässt sich die Wahrheit nur unter der koordinierten Zusammenarbeit des Staats und des nichtstaatlichen Sektors herausfinden und beschreiben.
Eins der kürzlichen Beispiele ist Syrien, wo 2011 ein bewaffneter und politischer Konflikt zu einem Bürgerkrieg auswuchs. Die Dokumentation der Kriegsverbrechen bleibt eine ernsthafte Herausforderung, sind doch auf dem Staatsgebiet bewaffnete Gruppen der Türkei, des Irans, Russlands und der USA anwesend. Das macht Informationen über den Verlauf des Konflikts widersprüchlich und schwer zugänglich. Daher befassen sich fast seit Beginn des Konflikts sowohl speziell dafür gegründete Institute als auch nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen mit der Dokumentation. Ein Teil der Zeugnisse wird nie verwendet werden für Strafverfolgungen von Kriegsverbrechern wegen ihre schlechten Qualität und schwachen Beweiskraft. Aber die gesammelten Informationen bleiben sehr wichtig für die Durchsetzung der Rechte der Opfer auf die Wahrheit, auf das nachfolgende Gedenken und Aussöhnung.
In der Ukraine wurde bereits ein erster Schritt in diese Richtung unternommen. Am 31. Januar diesen Jahres wurde auf der Sitzung der Behördenübergreifenden Arbeitsgruppe zur Lösung von Fragen der Donezker und Lugansker Regionen [ukr. Luhansk], der Autonomen Republik Krim und der Stadt Sewastopol, unter Vorsitz des Premierministers vereinbart, ein Nationales Dokumentationszentrum zu gründen. Ich hoffe, dieses Zentrum kann aus verschiedenen Quellen Fakten sammeln zu Verstößen gegen internationales Recht, Rechte und Freiheit der Menschen und entsprechend bei der Formulierung der Amnestiebedingungen helfen.
Es lohnt sich, daran zu erinnern, dass eine Amnestie nach einem bewaffneten Konflikt eine eher untypische Aufgabe für eine formale Justiz mit bereits festen Formen und Mechanismen ist. Daher ist ihre Durchführung eine Herausforderung nicht nur für Diplomaten, sondern auch für Juristen, Politiker, Leitfiguren der öffentlichen Meinung. Zum Beispiel sollte die ukrainische Gesetzgebung in Übereinstimmung mit dem internationalen Strafrecht gebracht werden.
Der Prozess der Amnestie ist Teil der sicheren Reintegration. Wir müssen daher für die Wiederherstellung der Gerechtigkeit sowohl gerichtliche als auch nichtgerichtliche Mechanismen anwenden. Zum letzteren gehört die sogenannte Kommission für Wahrheit und Versöhnung. Gewöhnlicherweise entsteht sie nach dem Ende von Konflikten und zu ihr gehören internationale unbefangene Experten. Eine wichtige Rolle bei der Arbeit dieser Kommission spielen Mediationsprozesse und solche des internationalen Dialogs.
Zum Beispiel war es in Osttimor nach dem Konflikt von 1999 notwendig, die Mitglieder der proindonesischen Freiwilligenmiliz (Pam Swakarsa) in das friedliche Leben zurückzubringen, solange sie keine schweren Verbrechen begangen haben. In den Regionen entstanden vermittelnde Anhörungen, die Praktiken der traditionellen Justiz vereinen, der Arbitrage, der Mediation und verschiedene Aspekte des Zivil- und Strafrechts.
Bis zum Beginn der öffentlichen Anhörungen kam die Generalstaatsanwaltschaft bei jedem konkreten Problem, welches während der Aussöhnung untersucht werden kann, zu einem Ergebnis, aber nicht bei den regulären Gerichtsverfahren. Ehemalige Kombattanten gestanden freiwillig ihre Teilnahme am Konflikt, beantworteten die Fragen der Geschädigten, erklärten sich einverstanden mit der Leistung gemeinnütziger Arbeit zur Wiederherstellung zerstörter Infrastruktur oder zum Schadensersatz den Opfern gegenüber (die Vereinbarungen wurden durch das Gericht bestätigt), und nur danach wurden sie von der Gemeinschaft angenommen.
Demzufolge muss der Amnestieprozess möglichst beratend und demokratisch ablaufen, damit er den allgemeinen Zielen der Reintegration dient. Sowohl bis dahin als auch nach der Durchführung der Amnestie muss die Mehrheit der staatlichen Institutionen nach dem vorher ausgearbeiteten Plan handeln.
Es geht nicht nur um die Rechtsschutz- und Gerichtsorgane, die die Kontrolle über die Durchführung der Amnestie und die Erfüllung der Bedingungen durch konkrete Personen ausüben. Ein gewisses Gewicht liegt auch bei den Mitarbeitern der sozialen, Bildungs- und Informationsbereiche, befassen sie sich doch mit der Resozialisierung der Amnestierten. Ihren Platz in diesem Prozess haben auch die Vereinigten Territorialgemeinden [Gebietskörperschaften im Rahmen der Dezentralisierungsreform, A.d.R.], nichtstaatliche und religiöse Organisationen, welche den Dialog auf der Ebene der örtlichen Gemeinden gestalten.
Gerade befinden wir uns erst am Anfang eines langen Weges.
09. März 2020 // Oleg Martynenko
Quelle: Serkalo Nedeli