Wie sich die gesellschaftlichen Einstellungen in den besetzten Teilen des Donbas verändern, ist eine schwere Frage. Denn die Arbeit von Soziologen ist dort praktisch unmöglich, aus welchem Grund fast keine repräsentativen Daten vorliegen. Jedoch wurden vor kurzem Ergebnisse einer vom IFAK-Institut durchgeführten und vom Ministerium für Informationspolitik in Auftrag gegebenen Umfrage veröffentlicht. Den Experten gelang es, 600 Leute zu befragen und erhielten dadurch eine Kenntnis von der dortigen Stimmungslage.
Natürlich ist bei den Resultaten solcher Umfragen zu beachten, dass Leute unehrliche Antworten geben oder den Fragen ausweichen. Um eine vollwertige Forschung zum Bewusstsein der Menschen in solchen schweren Situationen zu erhalten, braucht es mehr als nur eine einfache Umfrage (die vorliegende Umfrage ist erst die zweite – die vorhergehende wurde 2016 durchgeführt). Dennoch existieren momentan keine anderen Methoden sich in diesem “Labyrinth” zurechtzufinden. Den paar vorliegenden Ergebnissen zu urteilen, ist aber die Lage in der besetzten Region Donezk alles andere als eindeutig.
Die erste gute Nachricht ist, dass sich lediglich 13 Prozent der Befragten als Bürger der “DNR” (Donezker Volksrepublik) sehen, denn der Anteil derer ist zurückgegangen: im Jahre 2016 waren es 18 Prozent. Aber im Allgemeinen ist die Identität der Leute in den besetzten Gebieten sehr widersprüchlich. So sehen nur sieben Prozent, dass sie mehr Gemeinsamkeiten mit den Bewohnern der Ukraine als denen Russlands haben. Die Ansicht, mehr mit der anderen Seite gemeinsam zu haben, vertreten 41 Prozent und 34 Prozent sind davon überzeugt, dass sie sowohl mit den einen als auch mit den anderen wenig gemeinsam haben. Die restlichen 18 Prozent haben keine feste Meinung. Gleichzeitig findet die Mehrheit der Befragten (57 Prozent), dass sie (!) die Kultur und die Traditionen mit den Bewohnern der Ukraine verbindet. Aber daneben behaupten 62 Prozent, dass sie Werte und Denkweise von der Ukraine trennt. Dennoch herrscht bei der Bewertung der konkreten vereinenden und trennenden Faktoren durch die Bewohner der besetzten Territorien keine Einstimmigkeit. „Liebe zur Ukraine“ nennen 32 Prozent als vereinenden Faktor, 42 Prozent als trennenden; Zugehörigkeit zur staatsbürgerlichen Gemeinschaft der Ukrainer – 32 Prozent bzw. 52 Prozent; konfessionelle Zugehörigkeit – 35 Prozent bzw. 51 Prozent usw. Augenscheinlich ist ebenfalls, dass in den okkupierten Territorien ein schmerzhafter und schwieriger Prozess des Überdenkens der Beziehungen zur Ukraine vonstatten geht und die gesellschaftliche Meinung sich in einem Stadium des schnellen Wandels befindet.
Auch bei Fragen zu Themen mit mehr Bezug zu den Lebensrealitäten herrscht unter den Bewohnern der ORDLO (allgemein gebräuchliche Abkürzung für „Einzelne Kreise der Gebiete Donezk und Luhansk“, womit die Separatistengebieten gemeint sind, A.d.R.) keine Einstimmigkeit. So denken 55 Prozent, dass in der Ukraine ein Bürgerkrieg herrscht, wobei ein Anstieg von knapp 10 Prozent zum vergangenen Jahr zu verzeichnen ist. Gleichzeitig sehen nur acht Prozent die Ereignisse im Donbas als Krieg mit Russland. Interessant ist, dass sich das Bild in den von der Regierung kontrollierten Territorien wesentlich unterscheidet: dort nehmen 31 Prozent einen Krieg mit Russland wahr, einen Bürgerkrieg sehen nur 22 Prozent. Was jedoch die ORDLO betrifft, so trägt der Glaube an einen Bürgerkrieg eher die Handschrift der Propaganda, als das er Teil einer umfassenden Weltanschauung ist. Davon zeugt die Abwesenheit einer gefestigten DNR-Identität, wodurch der Krieg seine Grundlage verliert. Denn wenn sich einer der Seiten des Krieges nicht mit dem Separatisten-Projekt identifiziert, dann kommt die Frage auf, worum es sich in diesem Krieg dreht? An dieser Stelle wurden die Befragten gebeten, zusätzliche Erklärungen für die Ereignisse zu geben: der Kampf der ukrainischen Oligarchen um Einflusssphären (33 Prozent), der Kampf ausländischer Staaten um Einfluss in der Ukraine (27 Prozent), die politische Krise (22 Prozent).
Nicht weniger paradox erscheint, dass 43 Prozent der Befragten in den ORDLO die Unabhängigkeit der DNR und LNR (Lugansker Volksrepublik) unterstützten. Das heißt, dass sich vier Jahre nach der Proklamation der “Republiken” die Mehrheit der Anhänger sowieso nicht als ihre Bürger sieht. Interessant, dass ebenfalls 43 Prozent der Befragten für eine “Rückkehr” in die Ukraine eintreten, obgleich diese Rückeingliederung, gemäß den Minsker Abkommen, einen “besonderen Status” für die Gebiete vorsehen würde. Hier ist eine Dynamik zu erkennen: Im Jahr davor, 2016, war die Gruppe der Unterstützer der “Rückkehr” in die Ukraine um zwölf Prozent geringer. Und ebenfalls reduzierte sich die Gruppe der Unterstützer einer Unabhängigkeit – um etwa fünf Prozent. In der Zukunft wird diese Tendenz sich höchstwahrscheinlich intensivieren, denn im Kampfe Fernseher vs. Kühlschrank (als Metaphern für Propaganda bzw. sozio-ökonomische Sicherheit, A.d.Ü.) gewinnt letzterer. Denn, dass das Wohlstandsniveau in der DNR höher ist als in der Ukraine ist, glauben lediglich elf Prozent der Befragten, ebenfalls so viele denken, dass es einfacher ist, eine Arbeit zu finden und nur acht Prozent finden, dass die Lebensmittelpreise in der “Republik” niedriger sind.
Dafür gibt es aber in Bezug auf den „Fernseher“ positive Veränderungen. Wie eine Umfrage gezeigt hat, stieg das Vertrauen in den besetzten Territorien in die ukrainischen Medien in den Jahren 2016-17 erheblich. Solche, die den ukrainischen Medien voll und ganz vertrauen, hat die Umfrage zwar nicht aufgenommen, dafür ist aber die Zahl der teilweise Vertrauenden auf 39 Prozent gestiegen (zuvor 25 Prozent). Der Anteil derer, der den ukrainischen Medien überhaupt nicht traut, sank von 40 Prozent auf 26 Prozent. Insgesamt teilt diese Einstellung die Bewohner der ORDLO in zwei fast gleich große Teile, was im Angesicht der aggressiven Informationspolitik der Okkupanten ein gutes Resultat ist. Umso mehr, da zugleich auch das Vertrauen in die russischen Medien gesunken ist. Der Anteil derer, die ihnen eher vertrauen, ging von 19 Prozent auf 15 Prozent zurück und der Anteil derer, die ihnen eher nicht vertrauen, verdoppelte sich (von 11 Prozent auf 23 Prozent). Natürlich sind diese und andere Indikatoren, wie in allen Krisengemeinschaften, einer ständigen Schwankung unterlegen. Und darin liegt die hauptsächliche gute Nachricht für die Ukraine. Gegensätzlichkeit gesellschaftlichen Denkens, Uneinigkeit und Vielfalt in den Ansichten der Bewohner der ORDLO zeugt davon, dass die Besatzer das Hauptziel verfehlten: diese Leute zu standardisierten Russen oder “Neurussen” zu machen.
Die derzeitige Trennung von der Ukraine führte nur zu einem Wirrwarr und brachte die Problematik der eigenen Selbstidentifikation auf. Daher wird die Reintegration des Donbas’ in die Ukraine keine leichte Aufgabe sein, aber trotz der derzeitigen Umstände eine höchst wichtige.
8. Mai 2018 // Anatolij Rubljow
Quelle: Zaxid.net
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