Niemand mag das Wort „Feind“. Dieses in einem Gespräch zu verwenden, ist wie aus der eigenen Haut zu fahren, seine tierische Essenz zu entblößen. Es ist „viel zu aggressiv“, zu hart und es sollte keine Verwendung in einer „anständigen Gesellschaft“ finden – wie uns die englischsprachige Wikipedia warnt. Wenn ich jemanden als „Feind“ bezeichne, so sagt dies viel mehr über mich aus, als über denjenigen, den ich eigentlich meine. Ich habe einen Feind, also habe ich jemanden dazu degradiert, weil ich – offensichtlich – verschlossen und böse bin, nicht bereit zu Kompromissen, nicht zuhören kann, schnell mein Urteil fälle, Details übersehe. Ich habe einen Feind, also kommt dies von meinem Inneren heraus, großzügig mit meiner Anwesenheit umgeben, meiner Bildung, meinem Fernsehprogramm und meiner politischen Propaganda. Der Feind ist eine Handlung und ich dessen Hauptcharakter. Er ist lediglich ein Instrument, als Lösung für mein Gefühl der Ungerechtigkeit und Kränkung. Mein Feind: das bin vorrangig ich selbst. Die schlechteste Seite meiner selbst.
Ich lese das Buch „This Thing of Darkness: A Sociology of the Enemy“ von James A. Aho und hier ist alles so, wie es in einer „anständigen Gesellschaft“ zu sein hat: Das Bild des Feindes lebt in den Köpfen der bösen amerikanischen Neonazis, diese sind für den Großteil der „anständigen“ Gesellschaft … Ja, was sind sie eigentlich? Genau davon ist die Rede. Eine anständige Gesellschaft hat sich wie ein vergebender Vater zu benehmen, der die Köpfe seiner verlorenen Söhne streichelt, selbst wenn diese mit einem PKW in Menschenmassen reinfahren oder mit einem Flugzeug in Wolkenkratzer reinkrachen (das Buch von Aho wurde vor dem 11. September 2001 geschrieben, sonst würde er – vermutlich – das Bild eines Feindes in den Köpfen anderer suchen).
Aber: kann es überhaupt anders funktionieren? Ist das Wort „Feind“ immer eine Waffe des Angriffs? Kann es nicht als Schutzschild, als Schloss verwendet werden? Mit dem ich mich von Innen verschließe, um in mein Haus keinen Angreifer hereinzulassen? Aus Verzweiflung und der eigenen Unbeholfenheit spreche ich das Wort„Feind“ mit sinkenden Schultern vor der Wand der Ablehnung aus. Ich möchte mit diesem Wort niemanden umbringen, lediglich mich selbst schützen. Ich bin mir nicht sicher, ob eine Person, die vom Krieg unberührt blieb, dies verstehen muss.
Manchmal tritt so ein Feind unerwartet und plötzlich hervor, wie Konquistadoren vor der amerikanischen Küste. Normalerweise ist dies jedoch ebenfalls eine lange Geschichte, wenn auch eine ganz andere, als die eingehendst beschriebe. Das ist die Geschichte von Vertrauen und friedlicher Nachbarschaft mit jemanden, der zu einem bestimmten Zeitpunkt an Stärke gewinnt und von seinen Vorteilen ganz trunken wird und somit immer mehr dominieren will, immer mehr nach „Lebensraum“ suchend. So begangen die meisten Kriege.
Es ist leicht einen Krieg zu beginnen, jedoch fast unmöglich ihn zu beenden. Den Feind in einen Freund zu verwandeln – also den Feind als Prozess„zurückspulen“ – ist eine beinah unerfüllbare Mission. Und definitiv ist es dabei nicht lediglich nur mit einem Federstrich oder einem Kompromiss getan. Mit Hoffnung darauf zu reagieren ist naiv und gefährlich.
Es wurde bereits mehrmals geschrieben, dass „Friedensgespräche“ nur eine Verlängerung des Krieges sind. Denn auch wenn Feinde sich an einen Tisch setzen, so sind es keine gleichberechtigten Partner, zwischen denen das Win-Win-Prinzip funktioniert. Ganz im Gegenteil: hier erlangt das Prinzip der Zerstörung und Unterdrückung seine Gültigkeit. In diesem Prozess kann nur derjenige genesen, der eine für ihn lebenswichtige Grenze bezüglich des Ausmaßes der Kompromisses setzt und diese bis zum Ende bewahrt. Wenn man diese nur kurz aus den Augen verliert, kommt es dem gleich, den Dieb selbst ins Haus zu lassen: so kann er schnell durch den Türspalt huschen und wird dann all das anstellen, was ihm in den Sinn kommt.
Ich weiß nicht, ob im Prozess der Realisierung der „Friedensgespräche“ die Grenze für den Donbass bereits überschritten wurde (wie manche Beobachter dies behaupten). Formal kann dieser Prozess noch gestoppt werden, wenn das Dokument über die Bildung eines Beirates verabschiedet oder eben nicht verabschiedet wird. Ich möchte daran erinnern, dass der Beirat aus bevollmächtigten Mitgliedern auf Paritätsbasis besteht. Also in einem Verhältnis von 50/50: nebst ukrainischen Vertretern sollen zu gleichen Anteilen Vertreter der sogenannten „Volksrepubliken“ im Beirat beteiligt sein. [Mit Stand 21. April 2020 ist das Dokument noch nicht verabschiedet worden. A.d.R.]
Wenn also die Verhandlungen in Form eine Beirates beginnen, so wird die Ukraine hier eine schwache Position haben und aller Wahrscheinlichkeit nach wird diese Position in Laufe der „Konsultationen“ noch schwächer werden. Was kann die Ukraine hier erreichen? Die Wiederherstellung der territorialen Integrität? Eher zweifelhaft. Keines solcher Szenarien, die durch Russland in den Gang gesetzt wurden (Transnistrien, Abchasien, Südossetien) haben ein Ende in der Wiederherstellung der territorialen Integrität des jeweiligen Staates gefunden. Eine Feuereinstellung? Selbst diese minimale Bedingung, die „friedliche“ Verhandlungen erst möglich macht, wird nicht eingehalten. Warum sollte dies also dann in der Zukunft anders sein?
Was kann die Ukraine verlieren? Das Allerwichtigste: der Versuch zu behaupten, dass der Krieg im Osten des Landes ein zwischenstaatlicher Konflikt sei, der die Folge der Aggression von außen war. Wenn dies geschieht, wird alles zuvor umsonst gewesen sein: alle Bemühungen (überwiegend erfolgreich!) die darauf ausgerichtet waren, die Welt davon zu überzeugen, dass Russland der Aggressor-Staat ist, werden wir somit mit den eigenen Füßen niedertreten. Ich weiß nicht, ob die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit jemals in solch einer beschämenden Situation gewesen war. Wozu dann die ganzen Sanktionen?
Ich denke, dass für die ukrainischen Akteure dieses Szenario (ja Akteure, ich habe mich nicht in der Wortwahl vergriffen) – also den Präsidenten Selenskyj, den Leiter seines Büros [Andrij] Jermak und den Rest aus seinem Kreise, Russland tatsächlich nicht für den Aggressor-Staat hält. Ich nehme an, dass in ihrem Bewusstsein die Leuchttafel „Feind“ des Sicherheitsalarms einfach nicht funktioniert – jene Leuchttafel, die auf das Bedürfnis die eigene Position sekündlich zu verteidigen, reagiert. Die Ukraine sollte es nicht zulassen, sich von der Welt in dem Quarantäne-Zelt „Bürgerkrieg“ isolieren zu lassen und auch nicht, dass ein anderer Staat mit den Händen seiner Marionetten einen Einfluss auf deine Verfassung hat: dies sind die Basics der Überlebens- und Sicherheitsmaßnahmen, dies sind die benötigten Bedingungen der Souveränität.
Wir sollten wachsam bleiben, die Hände beobachten und zum Widerstand bereit sein. Und vor allem sollten wir daran denken, dass die Leuchttafel „Feind“ sich dann in der Praxis als nötig erweist, wenn der Feind selbst dieses Wort um jeden Preis meidet. So eine Asymmetrie.
24. März 2020 // Ostap Slywynskyj
Quelle: Zaxid.net
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