Sich an alles erinnern
In der Ukraine liebt man sich an die Vergangenheit zu erinnern – sowohl die weit entfernte, als auch die erst kürzliche. Einerseits die Ereignisse der Jahre 1917-1921, den Zweiten Weltkrieg, den sowjetischen Totalitarismus. Andererseits den Euromaidan, die Annexion der Krim und die ersten Monate des Krieges im Donbass.
Doch zwischen den nahen und fernen historischen Dramen hat ein Zwischenspiel Platz gefunden, dass von unserer Aufmerksamkeit übergangen wird. Ein Abschnitt der neueren ukrainischen Geschichte, der nicht durch irgendetwas Heroisches gekennzeichnet ist und schrittweise aus dem kollektiven Gedächtnis gespült wird – obgleich er auf seine Weise wichtig und aufschlussreich ist. Eben mit ihm ist das Jubiläum verbunden, an das sich heute nur wenige erinnern.
Vor fünf Jahren, am 1. Juli 2012, endete in der ukrainischen Hauptstadt die Europameisterschaft im Fußball.
Ein Ereignis, das zum epochalen Meilenstein für unseren Staat erklärt wurde und in einem gewissen Sinne wirklich bedeutsam war. Die sattsam bekannte Euro-2012 wurde zum Entwicklungshöhepunkt, dem Glanzpunkt der vorherigen Ukraine – einer amorphen, stagnierenden, mehrvektoriellen und mit inneren Widersprüchen überfüllten.
Das war das größte Trugbild, das sich ein Land schaffen konnte, das mit Illusionen lebte. Für einige Wochen vereinigten sich in einem einzigen entschlossenen Ruck alle: der eitle Janukowitsch, die egoistischen Oligarchen, die korrupten Beamten, die oppositionellen Eurooptimisten, die von Stolz beseelten Patrioten, die an die Fernsehbildschirme gefesselten Normalbürger.
Von der Seite konnte es scheinen, dass dies das echte Leben ist, der ständige Fortschritt, die unverfälschte Annäherung an Europa – und so wird es weiter gehen.
Wenn in diesem Moment ein zufälliger Gast aus der Zukunft den Ukrainern von Scharfschützen auf der Institutskaja, „grünen Männchen“ auf der Krim oder Kämpf um den modernisierten Donezker Flughafen erzählt hätte, so wäre seine Erzählung als schizophrener Schwachsinn abgetan worden. Doch derweil waren alle Voraussetzungen für die kommenden Erschütterungen bereits vorhanden.
Wiktor Janukowitsch machte einen friedlichen Regimewechsel bereits unmöglich, indem er die ehemalige Ministerpräsidentin und den ehemaligen Innenminister hinter Gittern versteckte. Der Preis der Trennung von der Macht stieg jäh an, uns ein unvermeidliches Blutvergießen verheißend.
Wladimir Putin seinerseits machte die Beibehaltung der ukrainischen Mehrvektorenpolitik oder ein friedliches Driften in Richtung Westen unmöglich. Die Kremlführung ging die Errichtung der UdSSR-2 unter der Hülle der Zollunion bereits an und erprobte bereits vorher in Georgien die militärischen Methoden des Kampfes mit den Unnachgiebigen.
Derweil wollten wir glauben, dass alles sich auflöst und sich entwickelt, dass alle unlösbaren Widersprüche sich irgendwie auflösen und wir glaubten an das Beste.
Solange sich die Oberen die illusionäre Stabilität genossen, gaben sich die Unteren mit der illusionären Eurointegration in Form des pompösen Fußballfestes zufrieden.
Die Ukraine der fünfjährigen Vergangenheit bewies, dass das klar an der Wand hervortretende „Mene, mene, tekel, u-parsin“ (Menetekel, A.d.Ü.) überhaupt nicht dabei stört zu tafeln und sich des Lebens zu freuen.
Doch der Exkurs in die neuere Inlandsgeschichte erinnert nicht nur an die einstigen Irrungen, die Kurzsichtigkeit und den Nichtwunsch die Zeichen der sich nähernden Katastrophe zu sehen. Außerdem demonstriert er, inwieweit naiv die Erörterungen über die unveränderliche „nationale Mentalität“ sind, welche die Entwicklung des Landes vorbestimmt.
Es reicht sich daran zu erinnern, wie wir 2012 waren und wie wir uns und die umgebende Welt jetzt sehen.
Jetzt ist genau bekannt, dass der Ukrainer vor allem ein geborener Krieger ist, ein Nachkomme der furchtlosen Kämpfer der UPA (Ukrainische Aufstandsarmee, 1942 gegründete westukrainische Partisanenarmee, die bis 1954 vor allem gegen die Sowjets kämpfte, A.d.Ü.), der geistige Bruder der tapferen Männer der Zahal (Armee der Verteidigung Israels, A.d.Ü.).
Noch vor fünf Jahren wurden gewaltlose Kampfmethoden als typische ukrainische Eigenschaften angesehen. Der samtenen Ukraine wurde gern das Russland mit den Moskauer Kämpfen von 1993 und den Tschetschenienkriegen gegenübergestellt. Als Beispiel wurde der erste idyllische Maidan angeführt und nur wenigen kam in den Sinn, dass sein friedlicher Charakter nicht so sehr der „Weisheit unseres Volkes“, als der Verweigerung des anrüchigen Kutschmas einer gewaltsamen Lösung, geschuldet war.
Und als idealer ukrainischer Politiker wurde zu dieser Zeit ein eigener Václav Havel oder Mahatma Gandhi gesehen und darüber schrieben die Meinungsführer, die heute über die Geburtsähnlichkeit der Ukraine mit dem wehrhaften Israel schreiben.
Jetzt machen wir uns über die russischen Oppositionellen lustig, die ziellos auf den Straßen marschieren und nicht in der Lage sind auf die Einsatzpolizei (OMON) auch nur einen unglücklichen Molotowcocktail zu werfen. Hier ist sie, die sklavische Natur des Nachbarn in all ihrer Schönheit!
Doch vor fünf Jahren wurde es in der Ukraine als Axiom gesehen, dass nur ein friedlicher Protest gegen die Regierung effektiv sein könne.
Die progressive Öffentlichkeit stritt darüber, ob es gelingt die apathischen Ukrainer aufzurütteln und auf die Straße zu bringen, wenigstens einige Zehntausend friedliche Protestierende.
Man meinte, dass es für sie ausreichend ist, auf dem Maidan zu stehen und das Regime Janukowitschs überlebt das nicht.
Doch die nicht zahlreichen Radikalen, die bereit zu aktiveren Handlungen waren, wurden ohne Umschweife zu „Provokateuren“ erklärt, die Moskau angeblich für die Diskreditierung der ukrainischen Nationalbewegung angeworben hatte.
Jetzt verfolgen wir gierig die Weltereignisse, verwandeln uns dabei leicht in Experten für die USA, Frankreich oder den Nahen Osten. Die Ukrainer sind aufrichtig gekränkt, wenn sie mit dem Unverständnis für unsere Probleme im Westen, mit der Unterschätzung der Gefahr aus dem Kreml, mit der unzureichenden Aufmerksamkeit der Europäer für die Geschehnisse im Donbass und auf der Krim konfrontiert werden.
Doch vor irgendwelchen fünf Jahren bedeutete uns das ungezählte Tor Marko Dewitschs (Dević) im Spiel Ukraine-England unvergleichlich mehr, als die verschärften Kämpfe um die syrische Hauptstadt.
Die damaligen Ukrainer konnte die Ermordung Oxana Makars oder die Erschießung von vier Wächtern im Einkaufszentrum Karawan aufrütteln, doch nicht der Sturm von Idlib, der Beschuss von ar-Rastan oder die Abschlachtung der Zivilbevölkerung in der Provinz Homs. Die fremdländischen Dramen bewegten nicht nur den inländischen Normalbürger nicht, sondern auch die aufgeklärten, nicht gleichgültigen, tiefsinnigen Bürger.
Nur wenige von uns konnten sich vorstellen, dass die Vorgänge in dem anderen Teil des Planeten in unmittelbarer Beziehung zur ukrainischen Zukunft stehen.
Ja, die Zeiten ändern sich, wir ändern uns gemeinsam mit ihnen und man braucht nicht so zu tun, als ob die Ukraine ihre Weltsicht aus der Tiefe der Jahrhunderte hervorbrachte. In vielem ist unsere jetzige „nationale Mentalität“ die Frucht einer beschleunigten Evolution, die lediglich dreieinhalb Jahre einnahm.
Für die heutigen Ukrainer ist es tatsächlich schwierig eine gemeinsame Sprache mit den russischen Liberalen zu finden und zum Teil mit den europäischen Gutmenschen. Doch wenn wir uns selbst nur fünf Jahre in die Vergangenheit begeben, wäre es für uns nur wenig leichter eine gemeinsame Sprache mit uns selbst zu finden.
1. Juli 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda