Cristian Newman
Am 13.März 1996 erschien in dem schottischen Städtchen Dunblane der 43jährige Thomas Hamilton in der örtlichen Grundschule, bewaffnet mit vier Pistolen und Revolvern. Er eröffnete das Feuer, tötete 16 Schüler und deren Lehrerin und erschoss sich im Anschluss selbst. Die britische Gesellschaft war schockiert. Und im Jahr 1997 wurde der Besitz von Kurzfeuerwaffen verboten. Als Folge stieg innerhalb von sieben Jahren die Gesamtzahl der Gewaltverbrechen in England um 88 Prozent, die Zahl der bewaffneten Raubüberfälle um 101 Prozent, der Vergewaltigungen um 105 Prozent, der Morde um 24 Prozent an. Mehr noch, in fünf Jahren verdoppelte sich die Zahl der mit Schusswaffen begangenen Verbrechen, die nach dem Verbot ausschließlich von Kriminellen benutzt wurden. Hat die britische Regierung also richtig reagiert?
Aus Sicht des gesunden Menschenverstands natürlich nicht. Aber auf emotionaler Ebene sind 16 in einem Moment erschossene Schüler eine deutlich schmerzhaftere Tragödie als viele tausend Menschen, die im Laufe mehrerer Jahre einzeln getötet, verstümmelt, vergewaltigt und überfallen werden. Und für die gesellschaftliche Meinung sind Gefühle wichtiger als kalte Logik, praktisch immer und praktisch überall. Die emotionale Komponente spielt die allergrößte Rolle im Leben eines jeden Mitmenschen und wird zur unerschöpflichen Quelle von Paradoxien.
Der Tod einiger Europäer durch einen Terrorakt ruft mehr Trauer hervor als die Vernichtung Hunderter Afrikaner oder Araber. Erkrankt der eigene Hund oder die eigene Katze, erschüttert das mehr als das Erdbeben am anderen Ende der Welt. Über die ertrunkenen Passagiere der „Titanic“ weint man bis heute, aber an die 160.000 Opfer des zugleich beginnenden Ersten Balkankriegs erinnert niemand. Könnte das anders sein? Anscheinend nicht.
Wirklich starke Gefühle werden durch das hervorgerufen, was aus dem gewohnten Bild der Realität herausbricht. Der Tod eines Angehörigen oder Freundes, der Unfall eines Kollegen werden immer schockieren, denn zugleich mit den bekannten Menschen verlieren wir einen Teil unserer gewohnten Welt. Aber sobald es um Fremde geht, wird alles schwieriger.
Hunderte durch Terror umgebrachte Iraker oder Nigerianer lassen uns gleichgültig, denn in unserem Bild von der Wirklichkeit sind Afrika und der Nahe Osten schon lange Länder voll Blut und Gewalt. Dagegen erscheinen Paris und Nizza als Gegenden von Festen, Küsschen, Croissants und Champagner – und deshalb ruft jeder dort begangene Terrorakt einen Sturm von Emotionen hervor.
Aufschlussreich in diesem Sinne ist auch die jüngste Geschichte der Gefühle in der Ukraine. Vor dem Krieg war es vor allem die Kriminalstatistik, die tiefe Schocks verursachte: Killer-Autos auf den Bürgersteigen, die Ermordung Oksana Makars, die Schießerei im Kiewer Einkaufszentrum „Karawan“ (= einzelne aufsehenerregende Straftaten vor dem Maidan, A.d.Ü.). Danach erschienen alle vorausgegangenen Erlebnisse klein und unbedeutend und wurden von unvergleichlich stärkeren Erschütterungen abgelöst.
Die brutal verprügelten Protestierenden auf dem Majdan – wie war so etwas in der Ukraine möglich? Die ersten Toten in der Gruschewski-Straße bei den Zusammenstößen mit der Berkut-Spezialeinheit – wie soll man damit leben? Im Zentrum der Hauptstadt schon Dutzende Tote – ist das vorstellbar? Aber dann folgten die Krim, der Donbass, Odessa, Ilowajsk, Debalzewo… In diesem Moment begann sich herauszustellen, dass es mit den Vorkriegs-Emotionen in der Ukraine für immer vorbei war, und das ab jetzt alles Schockierende ausschließlich mit dem Krieg und der Front verbunden sein würde.
Aber es vergingen ein paar Jahre, und die schockierenden Neuigkeiten aus der Zone der Antiterroroperation treffen in der Gesellschaft schon nicht mehr auf die Resonanz wie zuvor. Dagegen hat ein schwerer Verkehrsunfall in Charkow das ganze Land erschüttert – ganz wie zu Friedenszeiten. Es ist selbstverständlich so: nicht das Tragische erschüttert, sondern das Ungewohnte.
So bedauerlich es ist, aber die weit entfernte Front, an der regelmäßig ukrainische Kämpfer sterben, ist schon in das alltägliche Bild der Realität integriert. Aber ein „Lexus“, der plötzlich auf den Bürgersteig fliegt und auf einen Schlag fünf zufällige Passanten tötet, fällt nach wie vor aus diesem Bild heraus – und trifft den Nerv der Ukrainer. Nun ja, die gesellschaftlichen Gefühle können nicht anders sein, und man muss sie als gegeben hinnehmen.
Es ist sinnlos, unsere Gesellschaft für ihre unangemessenen emotionalen Reaktionen anzuklagen, den Ukrainern den Mangel an Gefühlen in dem einen Fall vorzuwerfen und das Überquellen von Leidenschaften in dem anderen Fall. Und wenn Sie sich für den Besitzer eines kühlen Kopfes halten, bereit, die Gesellschaft tendenziell zu beeinflussen, dann wäre es besser, sich nicht auf die eigenen Gefühle zu konzentrieren, sondern auf deren Auswirkungen.
Erstens sollte man sich daran erinnern, dass Gefühle der effektivste Mobilisator der Gesellschaft sind. Viele historische Bewegungen, wichtigste Schritte, schicksalhafte Wendungen haben sich nur vollzogen aufgrund eines spontanen Gefühlsaufwallung. So hätten uns im Winter 2013/14 Logik und Vernunft allein offensichtlich nicht ausgereicht, um den europäischen Sektor zu verteidigen und die Umwandlung der Ukraine in einen Polizeistaat zu verhindern.
Zweitens, entpuppen sich genau diese Emotionen als zerstörerische Waffe in den Händen von Demagogen, Populisten und autoritären Führern. Ein erfolgreicher Angriff auf die persönlichen Freiheiten ist nur in einer Situation möglich, wenn der kollektive Verstand unter dem Ansturm von Gefühlen zurückweicht. Und vor dem Hintergrund der in diesem Moment anschwellenden Emotionen fasst man nicht selten Entschlüsse, für die man Jahre und Jahrzehnte lang zahlt.
Drittens, bei aller Macht gesellschaftlicher Gefühle – handelt es sich doch um ein Produkt mit begrenzter Haltbarkeit. Das, was heute bis in die Tiefen der Seele erschüttert, mag morgen im Verlaufe eines Tages abstumpfen und vergessen werden. Die Mutter, die die Kinder neun Tage ohne Essen einsperrt, der Streifenpolizist, der einen jungen BMW-Fahrer tötet, der Beamte, der sich blasphemische Äußerungen erlaubt (gemeint sind aktuelle Kulturminister Jewgenij Nischtschuk, der den Donbass-Bewohnern 2016 schlechte Gene bescheinigte und Ex-Bildungsminister Dmitrij Tabatschnik, der 2010 den Holodomor als Soziozid, jedoch nicht als Genozid bezeichnen wollte, was der Geschichtsauffassung der Nationalisten widerspricht, A.d.R.), sie alle rufen einen reichen Reigen an Gefühlen hervor, und teilweise sehr blutrünstige. Aber es vergehen einige Monate, ein halbes Jahr, ein Jahr – und niemandem aus der virtuellen Richterschaft kommt es auch nur in den Sinn, sich dafür zu interessieren: Was ist aus dem Personal dieser reißerischen Geschichte geworden?
Diese Vergänglichkeit kann sowohl verhängnisvoll sein als auch erlösend. Sehr oft verglimmt das vielversprechende Auflodern von Gefühlen wieder, ohne als Impuls zur Entwicklung der Gesellschaft zu dienen. Aber manchmal ist schon ein kurz Aufblitzen genug, um den gröbsten Fehler zu begehen. In einigen Fällen ist es wichtig, den Moment nicht zu verpassen, in dem der spontane Gefühlsausbruch sich zu etwas Stabilem und für das Land Wichtigem auswachsen könnte. Und in anderen Fällen genügt es, sich nicht dem ersten Aufbäumen hinzugeben, nur ein bisschen zu warten, bis sich die gesellschaftlichen Gefühle etwas gesetzt haben. Und so etwas Dummes und Irreparables zu vermeiden.
Bleibt nur eine klitzekleine Kleinigkeit – die Fähigkeit, die eine Situation rechtzeitig von der anderen unterscheiden zu können.
2. Dezember 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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