Kiwalow-Kolesnitschenko-Sprachgesetz – Das Aus für das Ukrainische?
Die Sprachsituation in der Ukraine sowie der manipulative Gebrauch der Sprachfrage vor den Parlamentswahlen wurde bereits von Andreas Stein und Kyryl Savin in dem Artikel „Kurz vor dem Wahlkampf: Die Partei der Regionen macht Druck“ und „Der Sprachenstreit in der Ukraine“ präzise dargestellt. In meinem Artikel werde ich einige Aspekte wiederholen, allerdings mehr auf die Fragen eingehen „Welche Tücken enthält das vor Kurzem verabschiedete Sprachgesetz und warum ist eine gleichberechtigte Zweisprachigkeit unter der heutigen Regierung von Janukowytsch nicht möglich?“
Am 26. August 2011 wurde durch die Partei der Regionen der Gesetzentwurf Nr. 9073 „Zu den Grundlagen der Sprachpolitik“ eingebracht, der im Volk zum Kiwalow-Kolesnitschenko-Sprachgesetz getauft wurde. Das Gesetz stützt sich auf die Europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen, die seit dem 1. Januar 2006 in der Ukraine in Kraft ist, und sieht vor, die Regional- und Minderheitssprachen vor dem Aussterben zu schützen. Am 5. Juni 2012 stimmten 234 Abgeordnete von 450 in erster Lesung für den Gesetzentwurf, darunter aus der Fraktion der Partei der Regionen 187 von 192, alle 25 Abgeordneten der Kommunisten, zwei von 64 des Blockes „Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung/Nascha Ukrajina – Narodna Samooborona“, zwei von 20 des Blockes Lytwyn (Volkspartei), sechs von 19 aus der Fraktion „Reformen für die Zukunft“ und zwölf von 29 fraktionslosen Abgeordneten. Die wilde Schlägerei im Parlament und die Empörung in der Bevölkerung stellten für die derzeitige Regierung kein Hindernis dar und im Ergebnis wurde das Gesetz am 3. Juli mit 248 Stimmen von Abgeordneten der Partei der Regionen, der Kommunistischen Partei, des Blockes Lytwyn, der Fraktion „Reformen für die Zukunft“ und von einigen anderen fraktionslosen Abgeordneten verabschiedet.
Dem stenographischen Bericht der Parlamentssitzung vom 3. Juli zufolge wurde während der Abstimmung für das Gesetz gegen die ukrainische Parlamentsordnung verstoßen. In der Parlamentssitzung bat Oleksandr Jefremow (Partei der Regionen), den Gesetzentwurf auf die Tagesordnung zu setzen und der erste Stellvertretende des Parlamentspräsidenten Adam Martynjuk legte den Gesetzentwurf zur Abstimmung vor. 219 Abgeordnete stimmten zu, jedoch war das nicht ausreichend, und Adam Martynjuk stellte den Gesetzentwurf erneut zur Prüfung vor, dabei stimmten 241 Abgeordnete zu. Danach hätte Adam Martynjuk eigentlich die Redaktion des Gesetzentwurfs №9073 nennen sollen, was dem Stenogramm zufolge nicht gemacht wurde. Somit wurde das Gesetz, dessen Redaktion für die Abstimmung nicht mitgeteilt wurde, mit 248 Stimmen der Abgeordneten verfassungswidrig angenommen. Dabei, was kein Einzelfall im ukrainischen Parlament ist, wurde für das Gesetz mit den Abstimmungskarten von eigentlich abwesenden Abgeordneten gestimmt, was automatisch gegen den Artikel 84 Abs.3 der ukrainischen Verfassung über Sitzungen der Werchowna Rada verstößt.
Die fast 2040 Änderungen, die von der Opposition nach der ersten Abstimmung für den Gesetzentwurf eingebracht wurden, hätte der zuständige Fachausschuss prüfen müssen. Danach hätte er diese Änderungen mit dem Gesetzentwurf in einer Tabelle vergleichen, einen Bericht darüber erstellen und zehn Tage vor der zweiten Abstimmung den Abgeordneten zur Verfügung stellen müssen. In diesem Fall wurde auch darauf verzichtet. Nach der Verabschiedung des Sprachgesetzes sagte Myhajlo Tschetschetow (Partei der Regionen) zufrieden „Was für eine klasse Arbeit! Wir haben sie wie Kätzchen an der Nase herumgeführt. Ich weiß nicht, was die bei den Wahlen tun werden“.
Obwohl die darauf folgenden Proteste, die in der Ukraine und im Ausland stattfanden, nicht von großem Ausmaß waren, zeugt das nicht davon, dass die Ukrainer passiv sind, sondern davon, dass die Opposition, die sich als eine „vereinte“ Opposition bezeichnet, in Wahrheit keine gemeinsame Strategie hat.
Bereits am 31. Juli unterschrieb Parlamentspräsident Wolodymyr Lytwyn das Sprachgesetz, der sich vorher noch vehement dagegen wehrte, und das Gesetz wurde dem ukrainischen Präsidenten zur Unterzeichnung vorgelegt. Am 8. August unterzeichnete Präsident Janukowytsch das Gesetz und veranlasste, eine Fachkommission ins Leben zu rufen, die sich mit der Umsetzung des Sprachgesetzes befassen wird. Mit der Veröffentlichung im Amtsblatt „Holos Ukrajiny“ ist das Sprachgesetz am 10. August vorerst in Kraft getreten.
Was steht in dem berüchtigten Gesetz № 9073 „Zu den Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“?
Laut Artikel 7 des Gesetzes über „Regional- und Minderheitssprachen in der Ukraine“ sind Regional- und Minderheitssprachen „im Kontext der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen“ die Sprachen, deren „Sprachträger 10% und mehr“ der Bevölkerung auf einem Territorium ausmachen. Zu den 18 Regional- oder Minderheitssprachen zählen: Russisch, Belarussisch, Bulgarisch, Armenisch, Gagausisch, Jiddisch, Krimtatarisch, Moldauisch, Deutsch, Neugriechisch, Polnisch, Romani, Rumänisch, Slowakisch, Ungarisch, Russinisch, Karaimisch und Krimtschakisch. Mykola Melnyk weist in seinem Artikel „Sprachgesetz: Grundlagen der Sprachpolitik oder eine Falle“ auf ZN.UA darauf hin, dass die Verteidiger des Sprachgesetzes nicht um die Interessen aller Minderheiten kämpfen, sondern auf der Durchsetzung einer der Regional- und Minderheitssprachen nämlich auf Durchsetzung des Russischen pochen. Er vergleicht das Gesetz der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik „Über Sprachen in der USSR“ von 1989 mit dem Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz und stellt fest, dass der ukrainischen Sprache im sowjetischen Gesetz eine höhere Bedeutung zugestanden wurde als im neuen Gesetz. Das sowjetische Gesetz besagte, dass die ukrainische Sprache einer der entscheidenden Bestandteile der nationalen Eigenart des ukrainischen Volkes sei und dass die USSR der ukrainischen Sprache den Status der Amtssprache mit dem Ziel garantiere, die geistig-schöpferischen Kräfte des ukrainischen Volkes vielseitig zu fördern und seine souveräne national-staatliche Zukunft zu garantieren. In der Präambel des Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetzes steht jedoch Folgendes: „eine wichtige Bedeutung der Stärkung des Status der Amtssprache – der ukrainischen Sprache als einer der wichtigsten Bestandteile der nationalen Eigenart des ukrainischen Volkes, einer Garantie seiner nationalstaatlichen Souveränität – verleihend (…) werden mit diesem Gesetz die Grundlagen der Sprachpolitik in der Ukraine bestimmt“. Wie der Präambel zu entnehmen ist, wurde im Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz das Wort „entscheidende“ durch das Wort „wichtigste“ ersetzt und die Pflicht des Staates „der ukrainischen Sprache den Status der Amtssprache zu garantieren, mit dem Ziel geistig-schöpferische Kräfte des ukrainischen Volkes vielseitig zu fördern und seine souveräne national-staatliche Zukunft zu garantieren“ völlig weggelassen.
Der Autor hebt auch den verfassungswidrigen Charakter des Gesetzes hervor, dessen Wurzeln bereits in der Definition der Amtssprache liegen (Artikel 1 Abs. 2 “Definition der Begriffe“): Die Amtssprache sei eine Sprache, die durch die Gesetzgebung festgelegt sei, deren Verwendung in Staatsverwaltung und Geschäftskommunikation, Behörden und Organisationen, Unternehmen, staatlichen Bildungs-, Wissenschafts- und Kultureinrichtungen, Postverkehr und Informatik u.a. verpflichtend sei. Wenn der Gesetzentwurf, so der Autor, in Kraft trete, dann werde er automatisch ein Teil der Gesetzgebung, was bedeuten würde, dass Bestimmungen über die verpflichtende Verwendung des Russischen der Definition der Amtssprache entsprechen würden und somit die russische Sprache auf dieser verfassungswidrigen Weise zur zweiten Amtssprache würde.
Der Autor des Artikels weist auch darauf hin, dass die russische Sprache neun Mal im Gesetz hervorgehoben wird, im Gegensatz zu den anderen regionalen oder Minderheitssprachen, die nur ein Mal, nämlich in der Auflistung, erwähnt werden. Interessant ist auch die Tatsache, dass ungeachtet dessen, dass Vertreter der Partei der Regionen immer wieder betonen, dass das Gesetz keine Gefahr für das Ukrainische darstellt, im Artikel 10 Abs.1 „Sprache der Staatsorgane auf nationaler und kommunaler Ebenen“ Folgendes steht: „Akte der staatlichen Organe auf nationaler Ebene werden in der Amtssprache verabschiedet, und deren Veröffentlichung wird in der Amtssprache, Russisch oder anderen regionalen Sprachen oder Minderheitssprachen erfolgen“. Artikel 11 Abs. 5„Sprache der Arbeit, Verwaltung und Dokumente auf der nationalen sowie kommunalen Verwaltungsebenen“ hebt die russische Sprache wieder hervor: „Texte offizieller Ankündigungen, Mitteilungen erfolgen in der Amtssprache. Auf dem Territorium, wo laut Artikel 8 Abs.3 dieses Gesetzes eine regionale Sprache (Sprachen) verwendet wird, steht es der kommunalen Verwaltung offen, Texte in diese Regionalsprache (Sprachen) oder ins Russische zu übersetzen“. Verständlich wäre es, wenn die Übersetzung in die Amtssprache oder Regional- und Minderheitssprachen erfolgen würde, aber dass die Übersetzung auch ins Russische erfolgen sollte, ist unter Berücksichtigung der Europäischen Charta schwierig zu erklären. Auch Artikel 18 „Sprache der wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeit“ besagt, dass die Amtssprache in wirtschaftlicher und sozialer Tätigkeit Staatsunternehmen, Behörden und Organisationen eine Hauptsprache sei. Freie Sprachverwendung genießen auch die russische Sprache und andere Regional- oder Minderheitssprachen. Absatz 3 dieses Artikels verbietet es Unternehmen, Regeln aufzulegen, die seine Mitarbeiter in der „Verwendung der Amtssprache, des Russischen, anderer Regional- oder Minderheitssprachen“ einschränken. Die russische Sprache wird auch im Artikel 22 Abs.1 „Sprache im Computerbereich“ hervorgehoben, in dem Ukrainisch, Russisch und Englisch Hauptsprachen im Computerbereich in der Ukraine seien. Die Tatsache, dass in oben genannten Beispielen neben dem Ukrainischen das Russische erwähnt wird, macht deutlich, dass die Absicht der Partei der Regionen nicht darin besteht, die Regional oder Minderheitssprachen zu schützen, wie das in der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen verankert ist, sondern dem Russischen den Status der zweiten Amtssprache zu verleihen und die ukrainische Sprache in einigen Gebieten völlig abzuschaffen.
Diese Absicht wird durch weitere tückische Aspekte bekräftigt. Laut Artikel 5 Abs. 3„Ziele und Prinzipien der staatlichen Sprachpolitik“ fördere der Staat Mehrsprachigkeit, das Erlernen von Sprachen der internationalen Kommunikation, insbesondere von Sprachen, die Amtssprachen der Vereinten Nationen, UNESCO und anderer internationalen Organisationen seien. Explizit wurde in diesem Absatz die russische Sprache nicht zur Rede gebracht, implizit bedeutet das allerdings, dass nämlich das Russische gefördert wird, da es neben dem Englischem, Französischem, Arabischem, Chinesischem, Spanischem zu den offiziellen Amtssprachen der UNO sowie UNESCO zählt. Die explizite Erwähnung dieser beiden Organisationen ist schwerlich zu nachvollziehen. Es wäre vielleicht in Anbetracht des Wunsches, die EU-Mitgliedschaft zu erlangen, sinnvoller, die Europäische Union statt der oben genannten Organisationen zu erwähnen, deren Amtssprachen unter anderem Bulgarisch, Deutsch, Polnisch, Rumänisch, Slowakisch, Ungarisch sind. Diese sechs unter den 18 Sprachen gehören nach dem Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz zu den Regional- und Amtssprachen in der Ukraine. Und eine Erwähnung der Europäischen Union wäre logischer, was mehr dem Sinn der europäischen Charta entsprochen würde.
Die Verwendung der Regional- und Minderheitssprachen im Artikel 5 Abs. 2 Satz 2, 3, 5 wird nicht plausibel und sogar irreführend erklärt, weil man sich Begriffe bedient, die auf verschiede Weise zu deuten sind. Solche Begriffe wie „in Fällen, wo es sinnvoll ist“ oder „in Anbetracht des Zustandes einer einzelnen Sprache“ geben unklare Grenzen für die Verwendung der Regional- oder Minderheitssprachen an und stellen einen Spielraum in Aussicht, der unter den heutigen politischen Umständen leicht zu missbrauchen ist. Und angesichts dessen, dass die heutige Regierung Gesetze missachtet und sie auf eigene rechtswidrige Weise deutet, ist es fraglich, ob diese Begriffe zum Guten des ukrainischen Staates interpretiert werden.
Das Gesetz zeichnet sich auch durch Absätze aus, die keiner Logik unterlegen: Passbesitzer dürfen laut Artikel 13 „die Sprache der Dokumente, die die Person ausweisen oder Informationen über sie liefern“ wählen, ob sie Übersetzung ihrer Daten neben dem Ukrainischen in eine Regionalsprache haben möchten. Diese Regelung erstreckt sich auch auf „Hochzeitsurkunden, Bildungsabschlusse, Arbeitsbücher, Militärausweise und andere offizielle Dokumente“. Was in diesem Artikel auffällt, ist die Tatsache, dass auch „Dokumente, die einen Ausländer oder eine Person ohne Staatsangehörigkeit ausweisen, im Falle einer schriftlichen Mitteilung der Person“ auch in einer Regional- oder Minderheitssprache erfolgen können. Das würde dasselbe bedeuten, wie wenn sich Ausländer in Deutschland an die Ausländerbehörde wenden und schriftlich bitten würden, ihren Aufenthaltstitel z. B. auf Sorbisch neben dem Deutschen zu verlängern, ohne dabei einen plausiblen Grund dafür zu nennen und notwendige Unterlagen vorzulegen.
Im Artikel 20 Abs.1 „Sprache des Bildungswesens“ steht, dass die freie Wahl der Unterrichtssprache ein unabdingbares Recht der Bürger der Ukraine sei und dass im Rahmen dieses Gesetzes ein verpflichtendes Erlernen der Amtssprache auf einem solchem Sprachniveau zu erfolgen habe, das ausreichend für die Integration in die ukrainische Gesellschaft sei. Es wäre nachvollziehbar, wenn dieser Absatz sich auf Ausländer beziehen würde, die die ukrainische Sprache, Kultur erlernen sollten, um sich in die ukrainische Gesellschaft zu integrieren. Die Rede ist aber von den Bürgern der Ukraine, die ukrainische Sprache auf ausreichendem Niveau erlernen sollen, um so zu sagen, in die eigene Gesellschaft eingebürgert zu werden!
Der oben genannte Artikel 20 „Sprache des Bildungswesens“ und Artikel 24 „Sprache der Massenmedien und Verlage“ muss m. E. mehr unter Lupe genommen werden, da nämlich Bildungswesen, Massenmedien und Verlage einen Kern der staatlichen sprachlichen und kulturellen Politik ausmachen.
Wie die bereits erwähnten Beispiele sowie der obengenannte erste Absatz des Artikels 20 zeigen, machen Befürworter dieses Gesetzes keinen Hehl daraus, dass sie Bürger der Ukraine in einigen Gebieten, die Ukrainisch lernen oder einfach hören wollen, in ihren Rechten einschränken, obwohl das Ukrainische die Amtssprache ist. Diese Tatsache wird durch folgende Beispiele bekräftigt. Laut Absatz 2 des Artikels 20 werde Bürgern der Ukraine das Recht garantiert, Bildung in der Amtssprache sowie in Regional- oder Minderheitssprachen zu erhalten. Dies erfolgt durch „Einrichtungen der vorschulischen Bildung, Einrichtungen der allgemeinen Schulbildung, durch berufstechnische Einrichtungen und durch staatliche sowie kommunale Hochschulen“. Die Eltern, deren Kinder nicht mündig sind, können entscheiden, welche Unterrichtssprache sie haben wollen, und dafür reicht es, eine ausreichende Zahl von Anträgen zu stellen. Was unter „ausreichend“ verstanden wird, ist auch unklar, und die Grenzen können regionalunterschiedlich geregelt werden.
Leider setzt sich die Regierung nicht dafür ein, eine ausreichende Zahl an ukrainischsprachigen Schulen auf der Krim zur Verfügung zu stellen. Eine Untersuchung von Texty.org.ua und „Prostir Swobody“ zum „Stand der ukrainischen Sprache 2011“ zeigt, dass es im Laufe der letzten Jahre nur sieben Schulen mit Ukrainisch als Unterrichtssprache auf der Krim, darunter eine Schule in Sewastopol (Anmerkung: 22 Prozent der Bevölkerung sind ethnische Ukrainer, Stand 2001) gebe. In den meisten Rayons (Kreisen) und Städten auf der Krim, ganz zu schweigen von Dörfern, gebe es keine Schulen mit dem Ukrainischen als Unterrichtssprache. Ungeachtet dessen, dass Eltern einen langjährigen Kampf für die Gründung ukrainischer Schulen führen, erlaube die Regierung im besten Falle, ukrainische Klassen im Rahmen der Schulen mit Russisch als Unterrichtssprache zu gründen, was kein gleichberechtigter Ersatz sei. Auch die Umfrage, die durch die Research & Branding Group im Zeitraum vom 12. -22. August 2011 durchgeführt wurde, zeigt, dass im Westen der Ukraine 95 Prozent der Bevölkerung Ukrainisch spricht, im Osten und Süden – 66 Prozent und im Zentrum – 60 Prozent.
Diese Tatsache scheint für die Befürworter dieses Gesetzes, kein Grund zur Besorgnis zu sein. Stattdessen wird in diesem Artikel (Abs.8) festgeschrieben, dass in staatlichen und kommunalen Bildungseinrichtungen, in denen der Lernprozess in einer Regionalsprache erfolgt, würden die Fächer „Ukrainische Sprache“ und „Ukrainische Literatur“ ausnahmsweise auf Ukrainisch unterrichtet, was sich in diesem Fall nicht auf die Minderheitssprachen bezieht, sondern nur auf Regionalsprachen oder genauer gesagt auf Russisch. Abiturienten können auch nach „eigenem Wunsch“ entscheiden, in welcher Regional- oder Minderheitssprache sie ihren Schulabschlusstest (Abs.9) ablegen möchten und in welcher Sprache, d. h. in Amtssprache oder in Sprache, die Unterrichtssprache einer Hochschule ist, sie ihre Eignungsprüfung und Bewerbungsgespräch (Abs.10) durchführen lassen und auch in einer Regional- oder Minderheitssprache studieren möchten (Abs.2). Durch solche Regelungen, die sich von vorschulischen Einrichtungen bis hin zu Hochschulen erstrecken, erfolgt eine schrittweisende Ausrottung der ukrainischen Sprache, da bereits für Kinder die Verpflichtung entfällt, die Amtssprache Ukrainisch zu lernen, was auch in Belarus der Fall ist.
Diese Regelungen werden noch durch den Artikel 24 „Sprache der Massenmedien und Verlage“ verstärkt. Laut Absatz 2 werden offizielle Informationen über die Tätigkeit der Organe der Staatsmacht und Organe der kommunalen Verwaltung in der Amtssprache oder in Regionalsprachen erfolgen. Allerdings endet dieser Absatz mit einem aberwitzigen Satz, der besagt, dass wenn die Information in einer Sprache verbreitet werde, die sich von der staatlichen Sprache unterscheide, soll derjenige, der für diese Information zuständig sei, eine authentische Übersetzung in die Amtssprache zur Verfügung stellen. Allen ist bekannt, dass sich Sprachen voneinander unterscheiden. Oder heißt dass, dass sich die russische Sprache von der ukrainischen gar nicht unterscheidet?
Laut Absatz 3 „können Rundfunk- und Fernsehanstalten Sendungen nach eigenem Ermessen in der Amtssprache, Regional- oder Minderheitssprachen führen“. Laut Absatz 6 können Besitzer der gedruckten Massenmedien die Sprache bestimmen. Der Staat „garantiert“ auch die Übertragung von Sendungen aus Nachbarländern (Abs.5), deren „Sprache der Amtssprache oder Regional- und Minderheitssprachen ähnelt“. Nun stellt sich die Frage: Gibt es heute irgendwelche Einschränkungen, die das nicht ermöglichen und warum wird jetzt diese Regelung im Sprachgesetz festgeschrieben?
Es lässt sich schlussfolgern, dass es im Gesetz „Zu den Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ nicht um die Rechte der Minderheitssprachen geht, sondern um die Durchsetzung der russischen Sprache und dass die Befürworter dieses Gesetzes, die stets mit der Charta ihr Gesetz verteidigen, sich nicht um Befolgung der Grundrechte der Charta kümmern, sondern ganz andere Ziele bestreben, nämlich auf verfassungswidrige Weise dem Russischen den Status einer Amtssprache zu verleihen.
Die Sprachpolitik des Regimes Janukowytsch – Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitssprachen oder doch Sprachgenozid?
Die bereits oben genannte Untersuchung zum „Stand der ukrainischen Sprache 2011“ bestätigt, dass sich im Laufe der Jahre 2010-2011 die Situation der ukrainischen Sprache als Amtssprache auf der Ebene der Gesetzgebung, die ihre Verwendung hätte sichern sollen, nicht verbessert, sondern verschlechtert habe. Es seien eine Reihe von Gesetzentwürfen eingebracht worden, die die Verwendung der ukrainischen Sprache gezielt einschränken und Bedingungen für die faktische Dominanz der russischen Sprache ermöglichen. Dazu gehört unterdessen der Gesetzentwurf №1015-3 „Über Sprachen in der Ukraine“ von Oleksandr Jefremow, Serhij Hrynewezkyj und Petro Symonenko, der im September 2010 eingebracht wurde und Zweisprachigkeit in der Ukraine vorsah. Der Gesetzentwurf setzte zum Ziel allerdings keine berechtigte Zweisprachigkeit, sondern verlieh der russischen Sprache eine wichtigere Bedeutung als der ukrainischen. Der Gesetzentwurf wurde von Experten der Nationalen Akademie der Wissenschaft der Ukraine, Universitäten sowie von der Venedig-Kommission heftig kritisiert. Als Ergebnis wurde er im Parlament nicht zur Prüfung vorgelegt, allerdings auch nicht völlig zurückgenommen.
Im August 2011 wurde das Gesetz Nr. 9073 „Zu den Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ von Wadym Kolesnischenko und Serhij Kiwalow eingebracht und trat am 10. August in Kraft. Wie die bereits oben durchgeführte Analyse zeigt, steht es nicht für die Rechte der Regional- und Minderheitssprachen, die vor dem Aussterben stehen, sondern setzt sich verschleiert für die Verleihung des Status der zweiten Amtssprache der russischen Sprache ein. Gleichzeitig bremst das neue Sprachgesetz wie auch der Gesetzentwurf „Über Sprachen in der Ukraine“ die Entwicklung der ukrainischen Sprache in vielen Bereichen aus und stellt eine Gefahr für die in der Tat bedrohten vom Aussterben Minderheitssprachen in der Ukraine dar.
Am 3. November 2011 wurde das Gesetz № 6342 „Über die Rundfunk- und Fernsehausstrahlung“, der von Olena Bondarenko eingebracht wurde, vom Parlament verabschiedet, das den minimalen Umfang (50 Prozent) an nationalen Medienprodukten im Rundfunk abgeschafft und Mindestanteil an nationalen audiovisuellen Produkten im Fernsehen auf 25 Prozent halbiert hat. Somit wurde die Situation im Bereich der Musik- und Kinoindustrie in der Ukraine weiter verschlechtert, da das Radio, als auch die Fernsehsender diese Norm zu ihrem Vorteil nutzen können. Somit wurden auch Künstler, die keine richtige staatliche Förderung in der unabhängigen Ukraine genießen, ganz zu schweigen von der Unterdrückung in der Sowjetunion, nunmehr wieder auf sich alleine gestellt. Daher ist es kein Wunder, dass viele Künstler sich für den russischsprachigen Markt entscheiden, der ihnen mehr Gewinn verspricht.
Auch in Parlamentssitzungen erlauben sich einige Abgeordnete, obwohl sie der ukrainischen Sprache mächtig sind, ihre Vorträge auf Russisch zu halten, ungeachtet dessen, dass das Gesetz „Über die Parlamentsordnung der Werchowna Rada“ festlegt, dass sich nur Redner, die der Amtssprache nicht mächtig sind, einer anderen Sprache bedienen dürfen. Auch die Sitzungen von Ausschüssen, Ministerien zeichnen sich durch diese Tendenz aus.
Eine Reihe von kommunalen Verwaltungen in den Gebieten Luhansk, Donezk, Odessa sowie auf der Krim verliehen der russischen Sprache einen besonderen Status, was gegen den Artikel 92 der ukrainischen Verfassung verstößt, der besagt, dass ausschließlich Gesetze der Ukraine die Verwendung von Sprachen bestimmen. Obwohl Beschwerden eingelegt wurden, wurden sie von Gerichten abgewiesen. Auch das Gerichtswesen ist keine Ausnahme: Laut der Untersuchung der Einheitlichen Registrierung von Urteilen, wurden 4% aller Urteile, deren Zahl etwa fünf Millionen beträgt, auf Russisch verfasst, was wiederum gegen die Rechtsordnung der Ukraine verstößt.
Die Situation im Bildungswesen zeichnet sich genauso durch Willkür aus. Im Juli 2011 wurde von der Verwaltung Odessa eine Verordnung verabschiedet, die es vorschulischen und schulischen Einrichtungen ermöglichte, ihren Erziehungs- und Lernprozess auf Russisch zu gestalten. Das Bildungsministerium unter Leitung von Dmytro Tabaschnyk, der als ukrainophob gilt, erlaubte es, den Schulabschlusstest in einer anderen Sprache als Ukrainisch abzulegen. Dabei ist zu betonen, dass der “künstliche Charakter der Russifizierungspolitik des Bildungsministeriums“ durch die Tatsache illustriert wird, dass sich nur 5.488 Personen bereit erklärten, den Test im Fach „Russisch“ abzulegen. Am Prüfungstag war die Zahl von Prüflingen noch niedriger und betrug nur 3.398 Personen. Insgesamt gab es 200.000 Schulabgänger, die Tests darunter in Fächern „Geschichte der Ukraine“ und „Mathematik“ (mehr als 100.000), „Englisch“ (mehr 70.000) und anderen ablegten. Das Bildungsministerium sieht seit 2010 keine Verpflichtung für ausländische Studierende, Ukrainisch zu lernen. Sie dürfen auch, ohne Ukrainisch zu können, in der Ukraine zu studieren. Dabei ging das Bildungsministerium von falschen Tatsachen aus, als ob die Zahl von ausländischen Studierenden wegen des verpflichtenden Erlernens des Ukrainischen gesunken wäre. Die Realität zeigt jedoch ein ganz anderes Ergebnis: 2008/09 belief sich die Zahl von ausländischen Studenten auf 35.599, 2009/10 – auf 37.342, 2010/11 dagegen stieg die Zahl nur um 506 gegenüber 1.743 im Jahr zuvor, was die Zahl von 37.848 ausländischen Studierenden ausmachte. Auch in anderen Ländern, z. B. in Deutschland, sind ausländische Studierende verpflichtet, Deutsch zu lernen und somit wird der Status des Deutschen geschützt. Die Regierung von Janukowytsch treibt dagegen eine Sprachpolitik, die keine Ganzheit eines sprachlich-kulturellen Raums garantiert. Auch die obengenannte Umfrage von Research & Branding Group zeugt von der künstlichen Russifizierung: Ungeachtet dessen, dass im Westen der Ukraine 95 Prozent der Bevölkerung Ukrainisch spricht, im Osten und Süden – 66 Prozent und im Zentrum – 60 Prozent, gaben 63 Prozent der Befragten im Osten und im Süden an, dass sie in der Arbeit oder im Studium Russisch sprechen. Im Westen der Ukraine macht dieser Unterschied 7 Prozent statt 5 Prozent aus.
Laut der Untersuchung zum „Stand der ukrainischen Sprache 2011, die auch die acht wichtigsten Fernsehsender untersucht hat, beträgt der Ukrainischanteil unter allen Sendungen 22,2 Prozent, der in russischer Sprache dagegen – 46,8 Prozent. Der Rest – 31 Prozent – ist zweisprachig. Zur Prime-Time fällt die Situation zugunsten des Russischen aus: 56 Prozent aller Sendungen sind auf Russisch und nur 16 Prozent – auf Ukrainisch. Auch zur Prime-Time betrug der prozentuale Anteil von ukrainischen Liedern im Radio nur fünf Prozent – zwölf ukrainische Lieder, 146 – russische und 105 – anderssprachige (Englisch, Französisch, Italienisch). Hervorzuheben ist, dass die Ausstrahlung von Filmen, die in Russland produziert werden und die Zahl von Talkshows, an denen russische Popsänger, Künstler neben den ukrainischen teilnehmen, steigen. Und das größte Problem liegt nicht darin, dass Filme oder Sendungen in Russisch sind, sondern daran, dass sie eine proputinische mit einem sowjetischen Beigeschmack versehene Denkweise vorsetzen und somit Putins Russland und seine Vorstellung eines einheitlichen Raums im Form von der Eurasischen Union verbreiten. Daher ist der Sprachenstreit in der Ukraine emotional aufgeladen: Beim Sprachenstreit ist nicht nur die Rede vom Kampf um Rolle des Ukrainischen oder Russischen als Verständigungsmittel in der Ukraine, sondern vom Kampf um die Werte in der Ukraine als einem unabhängigen Staat, vom Kampf um die Zugehörigkeit der Ukraine zum demokratischen europäischen Westen oder dem sowjetischen Putin-Russland und insbesondere vom Kampf um den mentalen Kulturraum.
Angesichts der verfassungswidrigen Methode der Partei der Regionen, besteht kein Zweifel, dass die Regierung Janukowytsch die Weichen in Richtung Putin-Russland stellt, eine künstliche Russifizierung vorantreibt und die Europäische Charta der Regional- und Minderheitssprachen zu ihrem eigenen Nutzen missbraucht. Die Sprachsituation in der Ukraine ähnelt nicht der Sprachsituation in Ländern wie der Schweiz oder Belgien, in denen die Gesetzgebung funktioniert und alle Sprachen schützt, sondern mehr der Sprachsituation wie in Belarus, in dem es de jure zwei Amtssprachen gibt, de facto allerdings – nur Russisch. Auch ist zu betonen, dass die ukrainische Sprache jahrhundertelang unter Verboten litt und im Vergleich zu den Sprachen wie Französisch, Deutsch, Russisch oder Englisch, die eine umfassende Förderung von unterschiedlichen Staaten genießen, nur in einem Staat gesprochen und unter dem Regime Janukowytsch kaum gefördert, sondern in ihren Rechten als Amtssprache eingeschränkt wird. Wenn die Partei der Regionen weiter eine solche Sprachpolitik betreibt, dann haben die ukrainische Sprache sowie auch die Minderheitssprachen in der Ukraine, kaum Chancen sich durchzusetzen.