Der Sprachenstreit in der Ukraine
Kurz vor den am 28. Oktober anstehenden Parlamentswahlen wurde von der regierenden Partei der Regionen ein Gesetzentwurf in die Diskussion gebracht, der vordergründig das Land erneut zu polarisieren scheint. Der bereits am 26. August 2011 von den Abgeordneten Wadym Kolesnitschenko und Serhij Kiwalow (bekannt als Vorsitzender der Zentralen Wahlkommission der Ukraine bei den Präsidentschaftswahlen 2004) eingebrachte Entwurf Nr. 9073 „Zu den Grundlagen der staatlichen Sprachpolitik“ sieht eine breitere Anwendung von Regionalsprachen im alltäglichen sowie im amtlichen Gebrauch vor. Hauptargument der Vertreter der Partei der Regionen ist die Anpassung der ukrainischen Gesetzgebung an die am 1. Januar 2006 in der Ukraine in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen. Mit der Gesetzesvorlage folgt die Partei der Regionen einer längeren ukrainischen Tradition: Seit der Unabhängigkeit wird regelmäßig vor Wahlen die Frage nach der Erhöhung des Status des Russischen bzw. die Einführung des Russischen als zweiter Amtssprache zum Wahlkampfthema gemacht.
Laut der Gesetzvorlage kann in Gebieten mit einem Anteil von wenigstens 10 Prozent Muttersprachlern von einer der im Entwurf genannten 18 Minderheitensprachen der Ukraine (darunter auch Deutsch!) diese Minderheitensprache zur Regionalsprache erhoben werden. Damit verbunden ist das Recht, mit den örtlichen Behörden in dieser Regionalsprache zu kommunizieren. Des Weiteren erhalten ukrainische Munizipalitäten das Recht, diese Regionalsprache innerhalb der Behörde und mit Behörden höherer Ebenen zu verwenden. Darüber hinaus soll die jeweilige Regionalsprache in Kunst und Kultur, in Werbung und im Alltagsleben breitere Anwendung finden. Pässe, Ortsbezeichnungen und anderes können auf Wunsch zusätzlich mit einer Übersetzung in der jeweiligen Regionalsprache versehen werden. Alleinige ukraineweite Amtssprache bliebe jedoch das Ukrainische.
Ein dem Gesetzesentwurf beigefügter Erklärungstext erläutert die Auswirkungen für die Praxis: Russisch würde, entsprechend der Volkszählung von 2001, in 13 von 27 Regionen der Ukraine faktisch zur zweiten Amtssprache werden. Der Status des Ungarischen (Transkarpaten), des Rumänischen (Bukowina) und des Krimtatarischen könnte ebenfalls steigen. Jedoch hat das Krimtatarische aufgrund der wenig kompakten Siedlung der krimtatarischen Bevölkerung und wegen des politischen Widerstandes innerhalb der Autonomen Republik nur wenig Chancen auf eine Aufwertung. Als eigentliche, wenig versteckte Zielsetzung der Autoren ist damit die Aufwertung des Russischen anzusehen.
Zustimmung in erster Lesung ohne ernsthaften Widerstand
Am 5. Juni 2012 stimmten 234 Abgeordnete aus den Fraktionen der Partei der Regionen, der Kommunisten und der aus ehemaligen Oppositionsabgeordneten bestehenden Fraktion „Reformen für die Zukunft“ nebst einigen fraktionslosen Abgeordneten in erster Lesung für den Gesetzentwurf. Für eine endgültige Verabschiedung muss der Entwurf eine zweite Abstimmung durchlaufen. Anschließend muss Präsident Wiktor Janukowytsch das Gesetz noch unterzeichnen.
Der erfolgreichen Abstimmung war ein erster Versuch am 24. Mai vorausgegangen, der in einer wilden Schlägerei zwischen Abgeordneten der Partei der Regionen und oppositionellen Abgeordneten der Partei „Batkiwschtschyna/Vaterland“ von Julija Tymoschenko und den Resten der Fraktion „Nascha Ukrajina – Narodna Samoobrona/Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung“ endete. Nach dieser gescheiterten Abstimmung wurde für weitere Versuche vehementer Widerstand gegen die Annahme vonseiten der vereinten Opposition (Wahlbündnis von Julija Tymoschenkos „Vaterlandspartei“ und der Partei „Front Smin/Front der Veränderungen“ des ehemaligen Parlamentspräsidenten Arsenij Jazenjuk, sowie einigen Kleinstparteien) angekündigt. Am Abstimmungstag selbst versammelten sich mehrere tausend Demonstranten beider Lager vor dem Parlamentsgebäude. Die Partei der Regionen hatte bereits am Vorabend für die Anreise von teilweise bezahlten Anhängern gesorgt, so dass diese den Eingang zum Gebäude bereits besetzt hatten.
Die Gegner des Gesetzes bestanden aus Parteianhängern von „Vaterland“ und „Front der Veränderung“, denen sich Anhänger von Witalij Klytschkos Partei „Udar/Schlag“ (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen) anschlossen. Im Vorfeld hatte es hierbei aber Konflikte unter den Gegnern selbst gegeben, da ein großer Teil aus der ukrainischsprachigen Intelligenz nicht unter den Flaggen von „Vaterland“ und „Front der Veränderungen“ protestieren wollte. Insgesamt fiel aber die Resonanz auf die Aufrufe „zur Verteidigung der ukrainischen Sprache“ mit zwei- bis fünftausend Demonstranten recht dürftig aus. Auch im Parlament selbst fand die Abstimmung entgegen den vollmundigen Ankündigungen der Oppositionsparteien im Vorfeld letztlich ungehindert statt.
Der Sprachstreit als Mittel zum Zweck
Für die parlamentarische Opposition kommt die Diskussion um die Sprachpolitik offensichtlich gelegen. Sie kann die Bemühungen um die Verabschiedung des Gesetzes und die Stärkung des Russischen in ihren Stammgebieten der mehrheitlich ukrainischsprachigen West- und der Zentralukraine als Bestätigung ihrer These von der Ukrainophobie der Partei der Regionen und ihrer Satelliten auslegen. Zudem passt es gut in ihr Standardrepertoire aus Vorwürfen einer Spaltung des Landes, der Errichtung einer Diktatur und eines Polizeistaates, der Unterdrückung und Benachteiligung der (ukrainischsprachigen) Opposition.
Für die regierende Partei der Regionen hingegen ist die Diskussion um das Sprachgesetz ein Vehikel, um wenigstens einen Teil der Versprechungen aus dem Wahlprogramm der Präsidentschaftswahl 2010 umzusetzen. Damals wurde wiederholt versprochen, der russischen Sprache den Status einer zweiten Amtssprache zu geben. Dafür müsste jedoch die Verfassung geändert werden, was aufgrund der fehlenden 300 Stimmen-Mehrheit im Parlament praktisch unmöglich ist. Die ebenfalls versprochene Verbesserung der Lebensbedingungen der breiten Bevölkerung konnte jedoch bislang von Präsident Wiktor Janukowytsch nicht umgesetzt werden. Im Gegenteil: Die Regierungszeit Janukowytschs wird vom Großteil der Bevölkerung trotz groß angekündigter Reformen bisher als Verschlechterung wahrgenommen. Die Kalkulationen beider Seiten auf eine Aktivierung ihrer Stammwählerschaft scheinen jedoch bis dato nicht aufzugehen. So blieb beispielsweise eine rege Beteiligung an Demonstrationen bisher aus.
Sprachsituation – die Realität
In der Volkszählung von 2001 gaben 67,5 Prozent der Bevölkerung Ukrainisch als ihre Muttersprache an. Nur 29,6 Prozent betrachteten damals Russisch als ihre Muttersprache. Russisch war dabei lediglich in den Gebieten Donezk, Luhansk und der Krim für eine Mehrheit der Bevölkerung die Muttersprache. In allen anderen Gebieten gab die überwiegende Mehrheit der befragten Ukrainer Ukrainisch an. In den letzten Jahren dürfte sich dieser Wert zugunsten des Ukrainischen weiter verschoben haben. Für 2013 ist eine neue Volkszählung geplant.
In Umfragen des Rasumkow-Zentrums gibt ebenfalls eine Mehrheit der Befragten (siehe Tabelle) Ukrainisch als Muttersprache an, gefolgt von Russisch. In eben jenen Befragungen zeigt sich aber im Süden (52,0 Prozent – Mai 2006; 48,0 Prozent – Oktober 2008) und im Osten (54,0 Prozent; 44,4 Prozent) eine Mehrheit für das Russische. Tendenziell nennen aber in den Befragungen des Rasumkowzentrums aus den Jahren 2006-2008 immer mehr Ukrainer sowohl Russisch als auch Ukrainisch als Muttersprache (15,6 Prozent; 28,7 Prozent).
- | Mai 2006 | Juni 2007 | Oktober 2008 |
---|---|---|---|
Ukrainisch | 51,4 | 52,0 | 43,7 |
Russisch | 30,7 | 25,7 | 26,0 |
Ukrainisch und Russisch | 15,6 | 21,5 | 28,7 |
Eine andere Sprache | 1,1 | 0,9 | 0,9 |
Schwer zu beantworten | 0,6 | 0,9 | 0,7 |
Eigentlich müsste jedoch der Großteil der Ukrainer als Muttersprache die Mischsprache Surschyk angeben, in welcher die Mehrzahl der Bevölkerung faktisch kommuniziert und die flexibel je nach Bedarf und Gegend mit mehr ukrainischer oder russischer Lexik angereichert wird. Regelmäßige Untersuchungen zum Gebrauch des Surschyk fehlen jedoch, da sich die Sprecher vielfach nicht bewusst sind, dass sie weder Russisch noch Ukrainisch sprechen, sondern etwas dazwischen. Ältere Untersuchungen des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie belegen dennoch einen Anteil zwischen 11,9 und 16,3 Prozent.
- | 2000 | 2001 | 2002 | 2003 |
---|---|---|---|---|
Ukrainisch | 38,5 | 38,8 | 38,3 | 39,6 |
Mischsprache aus Ukrainisch und Russisch | 16,3 | 16,1 | 14,2 | 11,9 |
Russisch | 45,1 | 45,1 | 47,5 | 48,5 |
In einer aktuelleren Umfrage der Research & Branding Group vom August 2011 zum Sprachgebrauch zu Hause bzw. in der Familie gaben 47 Prozent der Befragten an, das Ukrainische zu bevorzugen. Weitere 37 Prozent kommunizierten vornehmlich auf Russisch und 15 Prozent der Befragten in beiden Sprachen. Im öffentlichen Raum hingegen bevorzugten nur 45 Prozent das Ukrainische und 35 Prozent das Russische, weitere 18 Prozent verwendeten beide Sprachen.
Bei der Frage des Rasumkow-Zentrums ebenfalls aus dem August 2011 nach der allgemein bevorzugten Sprache (öffentlicher und privater Raum) ergaben sich leicht abweichende Werte: 53,3 Prozent für das Ukrainische und 44,5 Prozent für das Russische, wobei jedoch nicht die Frage nach dem Kommunikationsanteil in beiden Sprachen gestellt wurde.
Keine Benachteiligung der russischen Sprache in den Medien
In der Alltagswahrnehmung kann keine Rede von einer Unterdrückung des Russischen sein, wodurch sich auch kein Druck zu einer Änderung der jetzigen Situation von Seiten der russischsprachigen Ukrainer ergibt. Eine Untersuchung von Texty.org.ua und „Prostir Swobody“ zum „Stand der ukrainischen Sprache 2011“ ergab, dass lediglich 30 Prozent aller Zeitungen und 10 Prozent aller Zeitschriften auf Ukrainisch herausgegeben werden. Überdies werden zwar 56,3 Prozent aller Bücher in ukrainischer Sprache publiziert, jedoch machen ukrainischsprachige Bücher lediglich 13 Prozent aller (statistisch erfassten) Buchverkäufe aus. In den acht größten Fernsehsendern werden zudem trotz einer gesetzlichen Vorgabe von 75 Prozent Ukrainischanteil 46,8 Prozent des Programms in russischer Sprache und nur 22,2 Prozent in ukrainischer Sprache ausgestrahlt. Der Rest war zweisprachig. Angemerkt werden muss hier jedoch die kurze Monitoringzeit.
Anders ist die Situation bei den Kinofilmen. Hier werden oben genannter Untersuchung nach 17,3 Prozent aller Filme mit Untertiteln versehen. Es ist dabei davon auszugehen, dass dies vor allem russischsprachige Filme betrifft. Die restlichen Filme werden entweder ukrainisch synchronisiert oder per Voice-over ins Ukrainische übertragen.
Dass die Sprachproblematik nicht als drängend empfunden wird, kann einer kürzlichen Umfrage des Rasumkow-Zentrums und der Stiftung „Demokratische Initiativen“ entnommen werden. Unter 33 vorgegebenen Themen kam der „Status der russischen Sprache“ nicht einmal unter die zehn relevantesten. Anfang Juni 2012 gaben nur 3,9 Prozent der Befragten an, dass der Status der russischen Sprache verändert werden sollte. Selbst 2004 lag dieser Wert nur bei 8,9 Prozent. Wesentlich wichtiger sind den Ukrainern demnach die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (59,3 Prozent), die Überwindung der Wirtschaftskrise (51,8 Prozent) und die Erhöhung von Löhnen, Renten und Stipendien (51,5 Prozent) und dies sowohl in Ost als auch in West.
Die Sprachenfrage als Zünglein an der Waage
Anders reagieren die Ukrainer, wenn sie direkt danach gefragt werden, ob der Status der russischen Sprache erhöht werden soll. Seit Jahren sprechen sich in Umfragen stabil zwischen 40 und 50 Prozent dafür aus (Werte für 1994 bis 2005 aktuell für 2012). Die Gegnerschaft schwankt hingegen stärker: Zwischen 30 und 50 Prozent der Ukrainer sind in diesen Umfragen strikt gegen die Erhöhung des Status der russischen Sprache. Gegner und Befürworter lassen sich dabei eindeutig geografisch verorten. So spricht sich eine deutliche Mehrheit für Russisch als zweite Amtssprache in den südlichen und östlichen Regionen aus. Die westukrainischen Gebiete, mit Ausnahme der Transkarpaten, stehen in strikter Gegnerschaft zur Veränderung des Status der russischen Sprache. Hier liegt auch das Polarisierungspotenzial, welches beide politischen Lager zu aktivieren versuchen.
Demonstrationen oder kalkulierte Zusammenstöße konnten die Wählerschaft aber bisher weder für noch gegen das Gesetz aufrütteln. Ziel scheint eher die Mobilisierung der Stammwählerschaft und die Beeinflussung unentschlossener Wähler an der Wahlurne: Hier könnte die Sprachenfrage für die Wahl zwischen den kaum unterscheidbaren politischen Kräften emotional ausschlaggebend sein. Dazu kommt noch ein strategisches Ziel der Partei der Regionen: die Abgrenzung zu den Kommunisten. Umfragen zeigen, dass immer mehr östliche Wähler der Partei der Regionen ihre Stimme bei der Parlamentswahl den Kommunisten geben wollen. Janukowytsch scheint für viele Ost-Wähler nicht mehr radikal und nicht mehr pro-russisch genug zu sein.
Die Kommunisten dagegen vertreten die radikalsten Positionen (back to the USSR) und versuchen sich deutlich als “anti-oligarchische Kraft” zu etablieren. Damit scheinen sie derzeit für die ostukrainische Wählerschaft attraktiv zu sein. Um diese „Erosion“ der Stammwählerschaft zu stoppen, bringt man das Sprachenproblem ins Spiel. Ebenso um die Aufmerksamkeit der BürgerInnen von den wirklichen Problemen im Lande abzulenken, pusht Janukowytsch die Idee der Verfassungsversammlung, die am 20.06 zwecks Formulierung der neuen Verfassung der Ukraine zum ersten Mal getagt hatte.
Mögliche weitere Entwicklungen
Angestrebt wird eine zweite Abstimmung bis zum Ende der Sitzungsperiode am 6. Juli. Denkbar ist auch eine Verlängerung der Sitzungsperiode, um genau dieses Gesetz weiter in der öffentlichen Diskussion zu halten. Bis zum 19. Juni lief die Frist für das Einbringen von Änderungen zum Gesetz und es gingen über zweitausend Änderungsvorschläge ein. Ein wirkliches Interesse an der Verabschiedung besteht jedoch nicht. Aus wahltaktischen Gründen ist eine Verzögerung des Prozesses besser, denn eine schnelle Verabschiedung vor der Sommerpause würde das Thema für den Endspurt im September/Oktober uninteressant machen. Daher könnte ein mögliches Szenario eine scheiternde Abstimmung zum Ende dieser Sitzungsperiode sein, der eine erneute, dann vielleicht erfolgreiche Abstimmung kurz vor der Wahl folgt. Dann könnte unmittelbar vor dem Urnengang dem Volk ein Wahlversprechen als umgesetzt präsentiert werden. Ob Präsident Janukowytsch das Gesetz unterschreiben würde, stünde auf einem anderen Blatt.
Was jedoch für die Partei der Regionen viel interessanter ist: Solange der sogenannte Sprachenstreit die Wahlkampfagenda bestimmt, muss nicht über wirtschaftspolitische (Miss-)Erfolge, die Anhebung des Rentenalters, eine weitere Anhebung der Binnengaspreise zur Angleichung an die Importpreise, die beabsichtigte Reform der Arbeitsgesetzgebung oder über außenpolitische Misserfolge geredet werden.
Die vereinte Opposition wird dabei in ihrer Rhetorik zu immer radikaleren Äußerungen greifen und versuchen, aus diesem Konflikt bei ihrer eher ukrainischsprachigen west- und zentralukrainischen Wählerschaft Profit zu ziehen. Sie hat ebenfalls kein Interesse daran, im Wahlkampf mit konkreten Änderungen und Maßnahmen, an denen man ihre Effektivität messen könnte, für die Zeit nach einem eventuellen Wahlsieg aufzutreten. Bislang zeichnet sich die vereinigte Opposition auch weitgehend durch Konzept- und Ideenlosigkeit aus. Es mangelt weiterhin an Ideen, wie man die Machtverhältnisse wirklich ändern kann und welche Alternativen der Wählerschaft geboten werden könnten. Zu verbraucht ist das Personal und die Aufrufe von Tymoschenko und Luzenko aus dem Gefängnis finden kaum Widerhall. Daher greift man begierig die Vorlage von der Regierungspartei auf, um wenigstens im ideologischen Bereich zu punkten.
Virtuelle Politik für billige Stimmgewinne
Jedoch muss die vereinte Opposition alles daran setzen, eine Verabschiedung des Gesetzes zu verhindern, da dies als Niederlage und weiteres Zeichen der Unfähigkeit der Oppositionsparteien aufgefasst werden würde. An ihrer Stelle würde dann wohl von einem Teil der westukrainischen Wählerschaft radikaleren Kräften der Vorzug gegeben werden, wie bereits 2009 bei den vorgezogenen Gebietswahlen in Ternopil und den Kommunalwahlen 2010, als die allem Anschein nach unter Regierungskontrolle stehende rechtspopulistische „Swoboda/Freiheit“ erhebliche Stimmenzuwächse verzeichnete. Die von der Partei der Regionen derzeit betriebene Politik der Spaltung könnte sich in diesem Szenario mittelfristig als Bumerang erweisen und die ideologischen Konflikte innerhalb der ukrainischen Gesellschaft eskalieren lassen.
Doch scheint die Strategie einer Zuspitzung von Konflikten, um die Wählerschaft zu mobilisieren, nicht aufzugehen. Zu oft wurde das Sprachthema bereits von der einen oder anderen politischen Kraft strapaziert und die oben genannten Probleme der Arbeitslosigkeit und der niedrigen Einkommen sind für den Durchschnittsukrainer weitaus relevanter. Allem Anschein nach spielen die parlamentarischen Kräfte in der Hoffnung auf billige Stimmgewinne weiter ihr Spiel einer „virtuellen Politik“ (Andrew Wilson), die vor allem im öffentlichen Diskussionsraum des Internets von Intellektuellen aufgegriffen wird und daher wirkmächtig erscheint.
Ob die „virtuelle Politik“ tatsächlich greift, wird sich vor allem in der Wahlbeteiligung widerspiegeln. Die Präsidentschaftswahlen 1999 interessierten im zweiten Wahlgang 73,8 Prozent der Wahlberechtigten, 2004 stimmten im dritten Wahlgang 74,92 Prozent aller Wahlberechtigten Ukrainer ab. Bei den Präsidentschaftswahlen 2010 waren es immerhin noch 69,10 Prozent. Die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen fällt bereits seit 1998: Von 69,64 Prozent auf 65,22 Prozent im Jahr 2002 zu 58,97 Prozent im Jahr 2006. Bei den vorgezogenen Wahlen 2007 gingen nur noch 57,94 Prozent zu den Urnen. Die skandalösen Kommunalwahlen 2010 aktivierten gerade einmal noch 50 Prozent der ukrainischen Wähler. Bei den Parlamentswahlen am 28. Oktober könnte die Beteiligung ähnlich niedrig ausfallen. Es scheint, als würde fast die Hälfte der Ukrainer nicht mehr durch die Politik angesprochen werden. Eigentlich genügend Raum für neue politische Kräfte.
Der Beitrag erschien zuerst bei der Heinrich-Böll-Stiftung