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Wir sind Revolution

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Michail Dubinjanskij schreibt in seinem Artikel „Die oben können nicht mehr“ (Ukrainskaja Prawda), dass sich die Ukraine als explosiver Cocktail aus wirtschaftlicher Depression, ethno-kulturellem Zerfall und totalem Rechtsnihilismus präsentiere. Dies, so lesen wir weiter, sei eine ungesunde Mischung für eine erneute Revolution. Aber auch in der Financial Times Deutschland (FTD) wird der Weltwirtschaftsgipfel in Davos als „Gipfel der Ratlosen“ bezeichnet. Eigentlich sollte Davos Ideen für eine Welt von morgen liefern. Doch, so in dem Artikel weiter, sind die Zweifel an der Elite größer denn je. Leben wir also in einer Zeit, in der die Weltrevolution wahr wird, von der die Kommunisten träumten?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Revolutionen meist ein Gesellschaftszustand voraus ging, der für eine kritische Masse nicht mehr mit deren Interpretation eines vorhandenen oder nur gedachten Gesellschaftsvertrags vereinbar war. Untersuchen wir dazu die „Orangene Revolution“ etwas genauer, erkennen wir, dass deren Akteure weniger Veränderungen des Gesellschaftszustands wollten, sondern vielmehr faire Wahlen forderten. Die Ukrainer sollten nach Meinung der „Revolutionäre“ jene frei wählen können, die einen neuen Gesellschaftsvertrag ausarbeiten und dann für dessen inhaltliche Umsetzung Verantwortung übernehmen.

Die „Orangene Revolution“ war, im Gegensatz zur „Oktoberrevolution“ und dem darauf folgenden Bürgerkrieg, deshalb friedlich, weil niemand gegen jene gewaltsam vorgehen musste, die andere Verhältnisse im Sinn hatten. Es bestand Hoffnung, dass ein neuer Gesellschaftsvertrag zu einem neuen Gesellschaftszustand führt.

Aber die dann Gewählten fanden offenbar keinen gemeinsamen Nenner, was denn in dem Vertrag stehen sollte und zerstritten sich bei der Definition, wie die Gesellschaft der Ukraine in Zukunft aussehen soll.

Hier müssen wir allerdings fragen, wer zur ukrainischen Gesellschaft gehört.

Sicher, ein ukrainischer Pass ist eine Art „Mitgliedsausweis“, doch was bringt dieser? Die Alternative wäre, seinen Pass abzugeben, um sich dann als staatenlose Person mindestens auf die in der UN-Menschenrechtscharta beschriebenen Rechte berufen zu können, die in den meisten Staaten (zumindest formell) anerkannt sind.

Allerdings wollen manche Ukrainer eher „Mitglied“ eines anderen Staates werden, als ihren Pass abzugeben, damit sie in den Genuss der dort gewährten Rechte kommen – allen voran, dem legalen Aufenthaltsstatus im jeweiligen Land. Als Staatenlose würden sie nämlich ein Visum für ein Leben in der Ukraine benötigen.

Der größte Vorteil, Inhaber eines ukrainischen Passes zu sein, ist dementsprechend, zumindest im eigenen Land visafrei leben zu dürfen. Wie die „Orangene Revolution“ zeigte, gaben sich allerdings nicht alle Ukrainer damit zufrieden. Vielmehr forderten sie ein Mitspracherecht, wer die Rahmenbedingungen für ihr Zusammenleben im Land bestimmen soll. Daraus ergibt sich ein weiterer Vorteil eines ukrainischen Passes: das Wahlrecht.

Ein Blick ins benachbarte Russland zeigt allerdings, dass es der dortigen Bevölkerung relativ egal ist, wer die Rahmenbedingungen für ihr Leben festlegt, solange ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag eingehalten wird: Die Machthaber können so korrupt sein, sich so sehr bereichern und so viel Willkür walten lassen, wie sie wollen, wenn sie dem krisengeplagten Volk eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und vor allem Sicherheit bieten. Der jüngste Terroranschlag am Flughafen Domodedowo weist aber darauf hin, dass die Machthaber die Sicherheit der Bevölkerung immer weniger garantieren können.

Den Ukrainern sind wirtschaftliche Stabilität und Sicherheit mindestens genauso wichtig, wie den Russen. Unabhängig davon, inwieweit sich die Gesellschaftsverträge der Ukraine und Russlands unterscheiden, werden Verträge zwischen mindestens zwei Vertragsparteien geschlossen. Die Trennung in Machthaber und Volk führt dabei zu zwei Problemen: Erstens, die Vertragsparteien hängen vom jeweiligen Verständnis des Vertrags ab; zweitens, die vertraglich geregelten Rechte und Pflichten können nur unter Mitwirkung und Anerkennung beider Vertragsparteien erfüllen werden.

Je weiter sich dabei die Interpretation des Gesellschaftsvertrags zwischen Machtelite und Volk unterscheidet, desto wahrscheinlicher ist eine Revolution. Ein Indikator ist vor allem das Gefühl, dass die Machthaber ihren vertraglichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen, für die sie eigentlich die Macht vom Volk erhielten.

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Die Ukraine hatte 2004 insofern Glück, da Wahlen anstanden, bei der eine Änderung des Gesellschaftszustands durch einen Machtwechsel in Aussicht stand. Dass es auch anders verlaufen hätte können, zeigt die jüngst stattgefundene Revolution in Tunesien, wo deren Diktator aus dem Land verjagt wurde.

Fehlen aber gemeinsame inhaltliche Vorstellungen des neuen Gesellschaftsvertrags, der letztlich zu einem gewünschten Gesellschaftszustand führen soll, kann es zu einer Art Bürgerkrieg kommen, wie ihn Russland nach der „Oktoberrevolution“ erlebte. Wieder hatte die Ukraine 2010 durch Neuwahlen Glück.

Vielleicht hätte allerdings den „Gewinnern“ der „Orangenen Revolution“ ein Blick in die ukrainische Verfassung geholfen, wo in Amtseiden der Vertragsgegenstand für den auszuhandelnden Gesellschaftsvertrag vorgeben ist: Die Ukraine soll souverän und unabhängig sein; Politik soll dem Wohl der Ukrainer dienen und Gerechtigkeit auf Basis einer bestehenden Rechtsordnung gewährleisten.

Vergleichen wir die Verfassungen anderer Staaten miteinander, finden wir fast überall einen prinzipiell ähnlichen Vertragsgegenstand in den jeweiligen Amtseiden.

Aber wie auch immer der jeweilige Amtsinhaber seinen Eid auslegen mag, so ist doch das Ziel eines sich selbst organisierenden Gemeinwesens, zumindest das Überleben seiner Mitglieder zu sichern und deren Wohlbefinden anzustreben und zu erhöhen. Das beginnt im Normalfall im Kreis der Familie und endet bei den Vereinten Nationen mit ihren Institutionen für die Menschheit als Ganzes.

Die Abwahl des „Revolutionspräsidenten“ im Jahr 2010 machte dabei deutlich, dass er das Vertrauen während seiner Amtszeit verlor, solche Ziele erreichen zu können, denn andernfalls hätten ihn die Ukrainer wiedergewählt. Seine „Kollegin“ weckte auch nicht das notwendige Vertrauen, dass sie es besser machen würde. Also erhielt deren „Konkurrent“ die Chance, wobei nach einem Jahr Regierungszeit immer noch zu hoffen bleibt, dass er etwas mehr Talent beweist. Spüren die Ukrainer nämlich statt einer Besserung eine Verschlechterung ihrer Situation, steigt das Potential einer neuen Revolution. Diese wird wohl eher blutig verlaufen und die Ukraine mangels heute bekannter personeller Alternativen ins Chaos stürzen – so können wir zumindest den Artikel von Dubinjanskij interpretieren.

Dabei stellt sich immer noch die Frage, was denn Inhalt des Gesellschaftsvertrags sein soll. Offenbar reicht der durch die Verfassung gegebene Rahmen nicht aus, den jeweils regierenden Machthabern eine Vorstellung zu geben, wie sie den Gesellschaftsvertrag ausgestalten sollen. Vielleicht müssen wir unterstellen, dass sie persönliche Interessen verfolgen und nur ihr eigenes Wohl und das ihrer Angehörigen im Sinn haben, statt im Interesse aller Ukrainer zu handeln.

Erinnern wir uns an dieser Stelle an den eingangs erwähnten Artikel über Davos aus der FTD: Darin steht nämlich, dass die Teilnehmer gerne neue Erkenntnisse und Geschäftskontakte für sich mit nach Hause nehmen, und dafür „die heiße Luft und das Geblubber aus der Ideenküche“ tapfer ertragen.

Daraus können wir schließen, dass es sehr wohl Vorstellungen gibt, wie die Welt von morgen aussehen soll. Entsprechend basieren die heutigen Verhältnisse weniger auf der Ahnungslosigkeit jener, die die Verhältnisse ändern könnten, sondern eher auf deren Willenlosigkeit. Es ist also kein typisch „ukrainisches Problem“, sondern ein globales, das die ukrainische Machtelite eher gut als schlecht kopiert.

Aber sind wir einmal ehrlich mit uns selbst und versetzen uns in die Lage dieser Elite: Würden wir anders handeln und uns für das Wohl aller einsetzen? Ist es nicht schon schwierig genug, uns um das Wohl unserer Nächsten zu kümmern? Was hätten wir denn davon, wenn alle so leben könnten, wie sie es sich vorstellen und wünschen?

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Ein Funken Verstand würde ausreichen, um eine Antwort zu finden: Die Gefahr einer Revolution – sei sie nun friedlich oder gewaltsam – wäre gebannt. Schließlich waren die Entwerfer der Verfassungen keine dummen Leute. Ihnen ging es gerade darum, Rahmenbedingungen festzulegen, die ein friedliches Zusammenleben ermöglichen.

Nun mag mancher an die eingangs genannte kommunistische Weltrevolution denken und von der Formel träumen: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Hinter dieser Formel steckt allerdings das gleiche Prinzip, das auch heute gilt: Jeder nach seinen durch den Staat anerkannten Fähigkeiten, jedem nach seinen durch den Staat bestimmten Bedürfnissen. Während aber in der Sowjetunion noch der Staat die Definitionshoheit besaß, so liegt sie heute verstärkt am Markt.

Allerdings wissen wir prinzipiell selbst am besten, welche Fähigkeiten und Bedürfnisse wir haben. Nur jene brauchen einen allgegenwärtig, allmächtig und allwissend scheinenden Staat oder Markt, die keine Ahnung haben, wie sie ihre Fähigkeiten einsetzen sollen, um die Bedürfnisse zu befriedigen, die der Staat oder Markt von ihnen als Vertreter verlangen. Das Fatale daran ist, dass auch wir dazu gezwungen werden, unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse unterzuordnen, obwohl wir prinzipiell selbst sehr gut wissen, was wir können und wollen.

Daher erziehen wir unsere Kinder mit dem Ziel, mit den jeweils von uns gewährten Freiheiten umzugehen und dass sie irgendwann ohne unsere Hilfe leben können. Das Wohl, wie es Verfassungen beschreiben, ist deshalb weniger materiell zu verstehen, sondern eher als Recht zur Selbstbestimmung und als Chancengleichheit. Schließlich, so lehrt uns die Geschichte, kann niemand zu seinem Glück gezwungen werden.

Die Weltrevolution findet, anders, als es sich die Kommunisten dachten, in unseren Köpfen statt. Wir sind die Revolution, wenn wir uns dafür einsetzen und dabei helfen, dass alle ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse unabhängig von Staat oder Markt für sich und ohne Schaden des Gemeinwesens kennen und zu nutzen lernen. Der neue Gesellschaftsvertrag muss uns nicht nur diesen Freiraum geben, sondern uns auch die Mittel garantieren, damit wir unsere Freiheit leben können.

Wenn wir Ukrainer endlich das Selbstvertrauen entwickeln und selbst die soziale Verantwortung für unser Gemeinwesen übernehmen, statt sie nur einer Machtelite zu überlassen, kann die Ukraine zum Vorbild für die ganze Welt werden.

Der Text ist ebenfalls in russischer Sprache im Blogteil der Ukrajinska Prawda erschienen.

Autor:    — Wörter: 1516

Jörg Drescher gründete 1993 die „Initiative pro Mensch“ mit dem Beinamen „Projekt Jovialismus“ und lebt seit 2002 in der Ukraine, wo er sich mit dem wirtschaftlichen und sozialen Wandel vom Sozialismus der UdSSR zur Marktwirtschaft westlicher Prägung beschäftigt und dabei alternative Ansätze mit Interessierten bespricht. Dazu zählen vor allem die Ideen zum Grundeinkommen und zum Vorschlagswesen (einer Form „Direkter Demokratie“).

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