Präsident Petro Poroschenko mit Parlamentspräsident Wolodymyr Hrojsman bei der Sitzung der Verfassungskommission am 26. Juni 2015, Foto: constitution.gov.ua
Präsident Pjotr Poroschenko erklärte, dass er in keinem Fall vorgezogene Parlamentswahlen zulässt. Der Vorsitzende der Werchowna Rada Wladimir Grojsman versichert, dass man die politische Krise nicht überbewerten soll und dass die „absolute Mehrheit der demokratischen Kräfte des ukrainischen Parlaments bereit ist zur Bildung einer neuen Koalition, einer neuen Regierung und der verstärkten Umsetzung aller notwendigen Reformen“.
Bislang ist schwer zu sagen, was diese Erklärungen in der Praxis bedeuten. Doch sie demonstrieren offensichtlich, dass der Präsident – unter dem Einfluss eigener politischer Kalkulationen oder äußerer Faktoren – sich auf die Notwendigkeit der Beibehaltung des existierenden Parlaments und die Erreichung eines Kompromisses zur Schaffung einer arbeitsfähigen Koalition und Regierung in ihm festgelegt hat.
Die Besonderheit der Bildung einer solchen Koalition ist, dass sie arithmetisch nicht ohne Beteiligung der zwei größten demokratischen Fraktionen und einer der kleinen möglich ist. Das heißt in seinen Kalkulationen kann Pjotr Poroschenko so oder so die Narodnyj Front (Volksfront) nicht unberücksichtigt lassen. Und die Narodnyj Front kann nicht auf Arsenij Jazenjuk verzichten und das ist nicht einfach nur politische Hartnäckigkeit und nicht einmal eine Erscheinungsform von Parteisolidarität, sondern eine nüchterne Rechnung. Die Umfragewerte des Ministerpräsidenten sind den letzten soziologischen Daten nach, trotz allem höher als die Werte der Partei selbst und ihrer übrigen markanten Figuren. Und wenn es zu Wahlen kommt, dann kann Jazenjuk seine Mitstreiter mit Mandaten versorgen und nicht diese Jazenjuk. Und das ist ebenfalls eine Realität, mit welcher der Präsident rechnen muss. In seine Abgeordnetenliste wird er „Volksfrontler“ so oder so nicht aufnehmen, da diese Liste im Falle vorgezogener Parlamentswahlen um einiges kürzer als die existierende werden wird.
Auf diese Weise müssen der Block von Pjotr Poroschenko und die Narodnyj Front und noch eine kleine Fraktion – beispielsweise die Radikalen, mit denen Verhandlungen fortgesetzt werden – ihre Kräfte vereinen. Doch im Falle, wenn es offensichtlich wird, dass vorgezogene Parlamentswahlen nicht angesetzt werden, ist ein Beitritt einer der aus der Koalition ausgetretenen Fraktionen nicht ausgeschlossen – was macht man nicht alles für die Rettung des Vaterlandes.
In dieser Situation bleibt, wie seltsam es auch auf den ersten Blick klingt, der Präsident im Vorteil. Ja, das Staatsoberhaupt erhält nicht die so wichtige für ihn Kontrolle über das Kabinett über den Regierungschef und nebenbei die Ressorts. Doch wenn eine stabile Regierung mit dem gleichen Regierungschef beibehalten wird, dann trägt die Verantwortung für die ökonomische Situation im Lande trotzdem eben jener Jazenjuk. Und der Präsident könnte im Falle einer weiteren Verschlechterung er wirtschaftlichen Situation erneut zur Idee einer Umbildung der Regierung zu seinem Vorteil und sogar zu vorgezogenen Wahlen zurückkehren – derartige Möglichkeiten erhält er bereits im Herbst. Im Vorteil ist auch die Narodnyj Front, da Jazenjuk mit der Beibehaltung des Postens des Regierungschefs demonstriert, dass er, wenn nicht zum Angriff, so doch zur aktiven Verteidigung bereit ist, den Schlägen der befreundeten Propagandaartillerie standzuhalten, die ihn und die Regierung einige Monate in Folge attackiert und in der Gesellschaft eine Atmosphäre des totalen Misstrauens zur Regierung und die für viele Ukrainer gewohnte Erwartung eines baldigen Eintreffens eines politischen Messias schafft.
Wenn Ljaschko sich als einziger Partner der beiden großen Fraktionen in der regierenden Koalition erweist, dann gewinnt er ebenfalls – derweil er einen solchen Erfolg im Falle vorgezogener Wahlen nicht erhält, da das neue Parlament in weitaus größerem Maße fragmentiert sein wird, als das derzeitige und dann ist nicht viel herauszuhandeln.
Dabei können die Radikalen sogar nicht für die Gesetzentwürfe und Vorhaben stimmen, die eingebracht werden. Und Batkiwschtschyna (Vaterland) und Samopomitsch (Selbsthilfe) geraten in die nicht einfache Situation politischer Formationen, die vorzeitig ihren Wahlkampf begonnen haben und jede der Parteien muss sich auf ihre neue Rolle im Parlament festlegen.
Den Erklärungen der Führer von Samopomitsch nach urteilend, bereitet sie sich auf die Rolle der demokratischen Opposition vor, doch sie muss auf diesem Feld mit Batkiwschtschyna konkurrieren. Der offensichtlichen Eifersucht nach urteilend, mit welcher der Austritt einer jeden dieser Parteien aus der Koalition begleitet wurde, riskieren Samopomitsch und Batkiwschtschyna in neuer Gestalt mehr die gegenseitigen Standpunkte zu kritisieren, als die der Regierung. Außerdem werden sie jedes Mal auf Gesetzentwürfe stoßen, für die unbedingt gestimmt werden muss, um nicht die Zuneigung der potenziellen Wählerschaft zu verlieren und zugleich muss so gestimmt werden, dass der Konkurrent der „demokratischen Opposition“ keine Möglichkeit hat, einen der Käuflichkeit zu beschuldigen.
Außerdem haben wir es mit zwei Parteien zu tun, deren Führer in das existierende System der gegenseitigen Abhängigkeiten in der Nomenklatur integriert sind und jeder hat seiner Verpflichtungen. Julia Timoschenko wird in jedem Fall an der Beibehaltung des Kontakts zum Präsidenten und zu den Regierungstrukturen interessiert sein, die Entscheidungen treffen. In noch größerem Grad ist Andrej Sadowoj an der Wahrung des gegenseitigen Verständnisses interessiert – er haftet nicht so sehr für die Partei, wie für Lwiw. Und Oleg Beresjuk nennt Pjotr Poroschenko, das Haupt der übrigens parlamentarisch-präsidialen Republik „Vater der Nation“ und versucht nicht einmal den Eindruck zu erwecken, als ob er spottet. So also wenn das die Opposition sein wird, dann die Opposition seiner Majestät.
Ein weiterer Verlierer in dem Fall, wenn es keine Wahlen geben wird, ist Michail Saakaschwili. Der ehemalige georgische Präsident hat eine stürmische Tätigkeit landesweiten Ausmaßes entwickelt und dabei kommt die Frage aus, was er mit dieser Tätigkeit machen soll, wenn es keine Wahlen geben wird? Nach Odessa zurückkehren und als Chef der Gebietsverwaltung arbeiten, dabei mit offensichtlicher Ablehnung in den Regierungsstrukturen konfrontiert sein? Die Fahrten im Land in der Rolle des gesellschaftlichen Aktivisten fortsetzen, während zur gleichen Zeit jedem klar ist, dass Saakaschwili ein Politiker ist und an sein eigenes politisches Projekt denkt? Von der Kritik des Ministerpräsidenten zu der des Präsidenten übergehen? Und die Hauptsache ist: wie die Energie von „Sturm und Drang“ auf lange Monate bewahren, darauf wartend, dass Poroschenko sich endlich zu vorgezogenen Wahlen entschließt. Wie lange warten? Was in dieser Zeit tun?
Diese Frage stellen sich sowohl Saakaschwili, als auch Timoschenko und Sadowoj. Doch brauchen sie sich nicht allzu sehr darum sorgen – Jazenjuk stellt sich diese Frage ebenfalls.
1. März 2016 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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