Jedes Mal verspürt man eine Freude beim Lesen der Pamphlete ukrainischer Publizisten in denen jeglicher Versuch (angenommene Versuche inklusive) die ukrainische territoriale Integrität zu schädigen, die nationale Einheit zu hinterfragen oder Desintegrationsprozesse in Gang zu setzen ungehalten angeprangert werden.
Derartige Schriften zeigen, dass trotz aller Niederlagen auf dem Gebiet der Staats- und Nationsbildung noch Enthusiasten übrig geblieben sind, die weiterhin heilig an das ukrainische Potenzial glauben. Darüber hinaus lassen derartige Artikel bei mir persönlich nostalgische Erinnerungen an die guten alten Zeiten der Arbeit bei den sowjetischen Medien aufkommen, als die damalige glühende Publizistik klare Formulierungen benutzte, eine Metapherstärke besaß und sich durch eine mächtige Brandmarkung auszeichnete.
Eine solche Freude empfand ich wieder mal beim Lesen des Artikels von Ihor Lossjew „Galizische Spalter“, der bei der Zeitschrift „Ukrajinsky Tyshden“ („Die ukrainische Woche“) erschien (die vollständigen Angaben zur Zeitschrift und dem Hyperlink für den Artikel sollten die Hauptstadtzeitschriften auf ihre fehlerhafte Praxis hinweisen, dass, wenn sie eine Diskussion mit einem bestimmtem Medium aufnehmen, sie den Namen des Mediums auf keinen Fall publik machen wollen). In dem Artikel werden die Vertreter des intellektuellen Galiziens gebrandmarkt, insbesondere drei von ihnen: die Schriftsteller Jurij Andruchowytsch und Jurij Wynnytschuk und der Journalist Ostap Drosdow.
„Ein normaler Staat“
Diese drei Intellektuellen sind unserem Leser gut bekannt, da sie auf den Seiten von ZAXID.NET oft als Autoren oder als Diskussionsteilnehmer auftreten. Aus diesem Grund will unsere Seite auf keinen Fall den Artikel von Lossjew und die darin angeführten „schrecklichen“ Fakten ignorieren. Lossjew führt an, dass
„über mehrere Jahre hinweg eine kleine, aber sehr laute Gruppe Galiziens Intellektueller provokative Erklärungen abgibt und zur Desintegration und Spaltung der Ukraine aufruft. Würden wir in einem normalen Staat mit einer adäquaten Staatsmacht leben, müssten die Autoren solcher Aufrufe mit einer Gerichtsvorladung rechnen.“
Zweifelsohne träumen wir alle ebenso wie der Autor selber von einem Leben in einem „normalen Staat mit einer adäquaten Staatsmacht“. Aber was versteht der Autor unter dem Begriff eines „normalen Staates“? Darunter versteht er einen Staat mit einer starken repressiven Staatsmacht, wo solche Unruhestifter schnellstmöglich zur Verantwortung gezogen werden. Da ist sie nun, die Nostalgie nach den sowjetischen Zeiten, wo jegliches Abweichen von den Anweisungen von oben von den zuständigen Behörden umgehend festgestellt und beseitigt wurde.
Des Weiteren fragt man sich, wie soll „eine adäquate Staatsleitung“ überhaupt aussehen? Ich nehme an, es ist Stalin mit seiner Fähigkeit zur Problemlösung nach dem Motto: „Ein Mensch – ein Problem, kein Mensch – kein Problem“. Es ist Augusto Pinochet mit dem Estadio Nacional de Chile (nach dem Militärputsch 1973 diente das Nationalstadion von Chile einige Monate als Konzentrationslager für die Sympathisanten der gestürzten Regierung- A. d. Ü.). Es ist der General Franco, der meinte „alles für die Freunde, das Gesetz für die Feinde“. Zu guter Letzt ist es auch Putin, der alle Desintegrationsbewegungen in den weiten Territorien Russlands neutralisieren konnte, die Ukraine würde er spielend integrieren.
Ein ukrainischer Politiker sagte mal, unsere Macht muss furchterregend sein (gemeint ist Ministerpräsident Mykola Asarow A. d. Ü.)! Aber wo ist nun der „ukrainische Pinochet“? Es gibt ihn nicht, deswegen „brauchen die Troubadouren nationaler Destruktion keine Konsequenzen zu befürchten“.
Das selektive Gedächtnis
Die oben genannte Troika trägt also die ganze Verantwortung für alle unseren Schwierigkeiten. Vor allem Jurij Andruchowytsch, der vom Autor als eine Persönlichkeit charakterisiert wird, die gegen alles und alle auftritt. Es entsteht der Eindruck, als gäbe es keine Gedichte von Andruchowytsch, die in den unruhigen Übergangsjahren zwischen 1980-1990 von der progressiven Jugend breit zitiert wurden, keine Liedtexte, Romane etc., durch die Tausende von Lesern im Ausland die Ukraine, das Leben, die Hoffnungen und Leidenschaften ihrer Bürger für sich erst einmal entdeckt haben. Ein viel zu kurzes Gedächtnis haben einige Publizisten, um sich an die Konfrontation erinnern zu können, die Andruchowytsch gegen Verlage führte, die antiukrainische Artikel von Dmytro Tabatschnik publiziert hatten.
Was ist nun mit Jurij Wynnytschuk? Kennen wir ihn etwa erst seit dem Interview der Zeitung „2000“? Wohin verschwanden denn seine „Jungfrauen der Nacht“ und „Frühlingsspiele“? Man hat das Gefühl, als hätte jemand anders und nicht er wegen „Töte die Schwuchtel“ (ein „Gedicht“ von Wynnytschuk, wo der Autor in primitiver Weise zur Ermordung des Präsidenten aufruft A. d. R.) auf Betreiben der wohlbekannten Ukrainegegner Wadym Kolesnitschenko und Leonid Hratsch vor Gericht musste.
Dem Fernsehjournalisten Ostap Drosdow wirft der Autor vor, dass der ein „Befürworter einer ukrainischen Föderalisierung“ sei. Unerhört! Wie darf er es bloß wagen in der eigenen Sendung viel zu viele kritische Fragen aufzuwerfen und dazu auch noch seine eigene extraordinäre Meinung zu äußern? Zum Beispiel diese hier:
„Ich sehe die Ukraine als eine typische Wohngemeinschaft… Die gegenseitige Intoleranz zwischen den Mentalitäten ist so tiefgehend, dass ihr Weiterbestand im Landesinneren nur dank des Ausbleibens eines täglichen Kontaktes zwischen ihnen (den Mentalitätsträgern) gesichert ist.“
Ist Drosdow etwa nicht berechtigt, dies zu sagen? Warum denn nicht? Drosdow bekennt sich zum subjektiven Journalismus, es versteht sich als einen Pionier des subjektiven Journalismus. Er hat keine Hemmungen eine einschlägige Diskussion einzuleiten, damit aktuelle Fragen eine Resonanz finden. Tonangebend in solchen Diskussionen sind momentan Kolesnitschenko, Kornilow, Markow und ihresgleichen, alles wohl bekannte Gegner von allem, was einen ukrainischen Charakter hat. Zur gleichen Zeit schämen sich ukrainische Patrioten derartig „schmutzige Themen“ anzurühren oder mit diesen „politischen Kannibalen an einem Tisch zu sitzen“. Das hat zur Folge, dass diese „Kannibalen“ die Lage unter Kontrolle haben.
Es ist an der Zeit diese Lage zu ändern. Drosdow macht hier einen Versuch, indem er unter anderem sagt:
„Die ukrainischen Regionen kennen einander nicht, verstehen einander nicht und wollen es nicht. Sie müssen es ja auch nicht. Keiner muss den anderen verstehen. Keiner darf den anderen bedrängen. Keiner muss den anderen überzeugen. Keiner ist dem anderen etwas schuldig…“
Wobei der Herr Lossjew fest davon überzeugt ist, dass jeder dem anderen etwas schuldet und die Rechnung unbedingt beglichen werden muss. Darüber hinaus meint Lossjew, die ukrainischen Bürger hätten kein Recht auf eine lokale Identität, weil „die Ukraine über allem steht!“.
Die Langlebigkeit des sowjetischen Diskurses
Der Artikel von Lossjew legt zum wiederholten Male nahe, dass patriotische Publizisten es bis jetzt nicht geschafft haben, sich aus dem Zivilisationsdiskurs der Übergangsjahre von 1980-1990 zu befreien. Das Konzept „Europa der Regionen“ ist ihnen weiterhin nicht geläufig, sie haben nie etwas von dem Slogan „lokal handeln, aber global denken“ gehört.
Bewusst oder unbewusst tragen solche Publizisten dazu bei, dass das postsowjetische Regime die aktuelle Lage einer uneingeschränkten Zentralisierung aller Ressourcen weiterhin aufrechterhalten kann. Während die Regionen unter Geldmangel und Rechtlosigkeit leiden müssen, übt die Regierungspartei die Kontrolle nach eigenem Ermessen aus und missbraucht dabei das Recht auf Ressourcenallokation.
Glühende patriotische Publizisten sind davon überzeugt, dass man den Regionen kein Selbstbestimmungsrecht gewähren soll, da sie unfähig sind, davon einen richtigen Gebrauch zu machen.
„Warum sind aus den drei fortgeschrittenen Regionen Galiziens mit ihren fünf Millionen Bürger keine Gebilde ähnlich wie „Estland, Litauen und Lettland“ hervorgegangen?“
fragt Ihor Lossjew in einem sarkastischen Ton. In der Tat, warum nicht? Vielleicht deswegen, weil Galizien im Gegensatz zu Estland, Lettland oder Litauen nicht unabhängig ist. Ist es gut oder eher schlecht, dass Galizien mit der ganzen Ukraine sowohl freudige als auch freudlose Ereignisse teilt? Das ist eine andere Frage. Hinsichtlich der Rechte und Möglichkeiten besteht zwischen den Oblasten in Galizien und in Wolhynien oder Podolien zurzeit kein Unterschied. Dies bedeutet, dass sie für ihre autonome Entwicklung weder über das eine noch über das andere verfügen. Daher ist diese vorwurfsvolle Frage hier fehl am Platz. Höchstens hätte sie an die Krim gerichtet werden können, da die Krim über gewisse autonome Rechte verfügt.
In der Ukraine, einem zentralistischen Staat, hat eine Oblast bzw. eine Stadt Chancen für ein Aufblühen nur in dem Fall, wenn die lokale Verwaltung sich mit der Zentralverwaltung bzw. mit den zuständigen Kreisen für die Aufteilung des Staatsetats, die Auszahlung der Subsidien und die Überwachung der Geldströme verständigen kann. Zu bemitleiden sind die Regionen, wo die Lokalregierungen unfähig oder unwillig sind dies zu tun.
An den Schriften von glühenden Publizisten wie Herrn Lossjew, die kompromisslos gegen Spalter aller Ausprägungen ankämpfen, fällt es einem schnell auf, dass die Mehrheit der Argumente, mit denen sie ihre Stellung zu untermauern versuchen, in Wirklichkeit den Charakter eines Gegenarguments haben. Zum Beispiel schreibt der Autor:
„Von welcher Integrationsarbeit im Osten und Süden reden sie überhaupt! Nicht mal bei sich zu Hause in Galizien konnten sie in den vergangenen zwanzig Jahren etwas bewegen, weil vor Ort weiterhin eine zwar schleichende, aber sehr effektive Russifizierung anhält, jeder Sender russische Popmusik ausstrahlt, an allen Kiosken Stapel russischsprachiger Publikationen vorzufinden sind und die ukrainische Sprache nach meiner subjektiven Einschätzung weniger verbreitet ist, als dies zu sowjetischen Zeiten der Fall war.“
Ist diese Bemerkung begründet? Zweifelsohne. Welcher Schluss lässt sich daraus ziehen? Darf eine einzelne Oblast ihre eigene Kulturpolitik betreiben, darf sie Lizenzen für lokale Rundfunkfrequenzen vergeben? Wie sollen sich ukrainischsprachige Verlage verhalten, wenn der Staat ihnen nicht mal Steuererleichterungen gewähren will, was in Russland bereits seit Langem praktiziert wird? Eben. Die einzige ausgewogene Problemlösung hier wäre eine Übergabe aller einschlägigen Rechte in die Kompetenz der Regionen. „Das darf man auf keinen Fall machen!“ warnen aber Patrioten und die „unpatriotische Regierungspartei“ einstimmig.
Wenn sich die Zentralmacht in den Händen von echten Patrioten befände, hätte man die Ukrainisierungsprozesse mit einem starken Druck von oben einleiten können. Allem Anschein nach erhoffen sich unsere patriotischen Publizisten eben eine solche Entwicklung. Ich selber war ein Augenzeuge eines Vorfalls, als die Mitglieder des Nationalen Rates für Rundfunk und Fernsehen einen Vertreter eines lokalen Fernsehsenders von der Krim (mir scheint aus Kertsch) tadelten, weil der Sender nicht genug ukrainischsprachige Sendungen ausstrahlte. Der irritierte Vertreter hatte versucht die Lage damit zu erklären, dass Ukrainisch vor Ort nur sehr wenig gesprochen wird und dass nur wenige die Sprache überhaupt verstehen. Aber wenn die Partei meint, es muss so sein, dann muss es eben so sein!
Die ganze Situation ist im Grunde genommen sehr einfach: Befindet sich die Macht in den Händen von Ukrainischsprachigen, werden die Russischsprachigen sehr stark bedrängt, sobald die Macht in die Hände von Russischsprachigen fällt, bedrängen sie ihrerseits die Ukrainischsprachigen. Dies ist eben die Strategie zur nationalen Aussöhnung, für welche die glühenden patriotischen Publizisten eintreten. Nun stellt sich die Frage danach, wer hier der eigentliche Spalter ist?
21. März 2013 // Ljubko Petrenko
Quelle: Zaxid.net
http://forum.ukraine-nachrichten.de/abs ... 15465.html
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