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Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine - Teil I

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Teil I: Wahlsieg nach fünfjähriger Sperrfrist

von Winfried Schneider-Deters

1. Das amtliche Wahlergebnis

2. Internationale Wahlbeobachtung: „…eindrucksvolle Demonstration einer demokratischen Wahl“1

3. Anfechtung der Wahl vor Gericht – ohne Druck von der Straße

„Verteidigung des Sieges“ vor der Wahl

Kein „zweiter Majdan“

„Janukovyč: nicht unser Präsident“ – Absetzgefecht Julija Tymošenkos vor Gericht

Der ungute Nachgeschmack der Orangenen Revolution

4. Die Wahl: Kein Votum für den „Wechsel“

5. Die erste Runde: Vorgezogene Wahl des Premierministers durch das Volk ?

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6. Präsident Juščenkos persönlicher Wahlkampf gegen Julija Tymošenko

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil II: Machtwechsel in der Ukraine

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil III: Die innenpolitische Konsequenzen

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil IV und Schluss: Rückkehr zu bi-vektoraler Außenpolitik?

1. Das amtliche Wahlergebnis

Fünf Jahre nach der Orangenen Revolution wählte die Bevölkerung der Ukraine mit knapper Mehrheit Viktor Janukovyč zum neuen Präsidenten – also den Mann, den der autoritäre Präsident Kučma im Jahre 2004 zu seinem Nachfolger „bestimmt“ hatte, und dessen gefälschter Wahlsieg vom Obersten Gericht unter dem Druck des empörten Wahlvolkes annulliert worden war.1

In der Stichwahl am 7. Februar 2010 verfehlte er mit 49 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit;2 seine Kontrahentin Julija Tymošenko, die Ikone der Orangenen Revolution, unterlag ihm mit 45,5 Prozent. Janukovyč erhielt rund 12,5 Millionen Stimmen, Julija Tymošenko 11,6 Millionen; der Abstand zwischen den beiden beträgt weniger als 900 000 Stimmen – gleich 3,5 Prozent. „Gegen beide“3 Kandidaten stimmten 1,1 Million, das sind mehr als 4 Prozent der Wähler.4

Trotz der verbreiteten politischen Apathie5 nach fünf Jahren „orangener Demokratie“ – und ungeachtet der verschneiten und vereisten Wege und Temperaturen von minus 10 bis 15 Grad Celsius an beiden Wahltagen – gingen über zwei Drittel der 37 Millionen Wahlberechtigten zu den Urnen: Die Wahlbeteiligung betrug im ersten Wahlgang 67 Prozent, in der Stichwahl 69 Prozent.6

2. Internationale Wahlbeobachtung: „…eindrucksvolle Demonstration einer demokratischen Wahl“7

„Die zweite Runde der Präsidentschaftswahl in der Ukraine bestätigte die Einschätzung der ersten Runde, dass (nämlich) die meisten Verpflichtungen (der Ukraine gegenüber) der OSZE und dem Europa-Rat erfüllt wurden“, heißt es in der Erklärung der Internationalen Wahlbeobachter-Mission (IOEM).8 Auch in den Augen der Wahlbeobachter-Mission der Interparlamentarischen Versammlung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (MN / MPASNG) „entsprach die Wahl vom 7. Februar 2010 im Großen und Ganzen demokratischen Normen“, wie der Leiter der Mission, Aleksandr Toršin, auf einer Pressekonferenz am 8. Februar in Kiew sagte.9 Die Stichwahl am 7. Februar – wie bereits der erste Wahlgang am 17. Januar – verlief im ganzen Land in „ruhiger Atmosphäre“, wie die IEOM feststellte, obwohl beide Seiten zwischen der ersten und zweiten Runde durch die gegenseitige Bezichtigung, Fälschungen in großem Maßstab vorzubereiten, den Wahlkampf angeheizt hatten.10 Es waren nur Wortgefechte, wie die internationalen Beobachter meinen: Die „Stimmabgabe und Stimmenauszählung (war) professionell, transparent und ehrlich,“ heißt es in der Pressemitteilung der IEOM.11 Und in ihrem vorläufigen Bericht konstatiert sie: „Trotz der ansteigenden politischen Spannung arbeitete die Zentrale Wahlkommission weiter […] in einer überwiegend unparteilichen Weise.12 […] Die Mitglieder der Wahlkommissionen (auf den nachgeordneten Ebenen) managten den (Wahl-)Prozess […] ohne ernsthafte Verstöße oder Vorkommnisse“.13 Es waren „gute Wahlen“, erklärte João Soares, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Sonder-Koordinator der kurzfristigen Beobachter-Mission der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, in der Pressekonferenz der IEOM am Tage nach der Wahl.

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Die Folgerungen der internationalen Beobachter betreffen die Stimmabgabe am Wahltag; was weiter geschah, lag außerhalb ihres Gesichtsfeldes. „Sie wissen nicht, dass bei uns bis heute die stalinsche Regel gilt: „Es ist nicht wichtig, wie sie gewählt haben; die Hauptsache ist, wie gezählt wird,“ spottete Valentina Samar in der Wochenzeitung Zerkalo Nedeli / Dzerkalo Tyžnja.14 Die Sitzungen der Kreiskommissionen (okružni vyborči komisiï) nach der Wahl hätten sie nicht besucht. Auf der Krim, wo Janukovyč vier Fünftel der Stimmen erhielt, hätten sie die Praktiken studieren können, mit denen Wahlen in der Ukraine gefälscht werden können.15 Der Unterschied zwischen dem Ergebnis von Janukovyč und Tymošenko beträgt nach den offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission weniger als eine Million Stimmen.16 In der Ukraine zweifelt niemand daran, dass es möglich ist, bei einer Gesamtzahl von 25 Millionen Stimmen eine Million zu fälschen. Ob sich die „konsolidierten“ großen und kleinen Betrügereien der „Wahlhelfer“ der beiden Präsidentschaftskandidaten auf ein Resultat zugunsten von Julija Tymošenko summieren, wollte weder die Zentrale Wahlkommission noch das Oberste Verwaltungsgericht ernsthaft ermitteln.

Die Ergebnisse der sechs unabhängigen Nachwahlbefragungen vom 7. Februar lagen alle dicht am amtlichen Ergebnis der Zentralen Wahlkommission;17 der durchschnittliche Vorsprung des Wahlsiegers Janukovyč betrug gerundet 4 Prozent, der kleinste 3 und der größte 5 Prozent. In „alten Demokratien“ sind solch knappe Wahlergebnisse „normal“; in einer „jungen Demokratie“ sind sie zumindest dubios. Angesichts der von beiden Seiten dem Gegner unterstellten „großmaßstäbigen“ Fälschungsabsichten war bei einem Abstand von 3,5 Prozent zwischen den Stimmenanteilen des Gewinners und des Verlierers eine prompte Anerkennung einer Wahlniederlage durch keinen der beiden Kandidaten zu erwarten. Es liegt in der Natur der Sache, dass der „Schwellenwert“ für die Anerkennung eines Wahlergebnisses „als nicht entscheidend von Fälschungen beeinflusst“ vom Grad der demokratischen Reife eines Landes abhängt. Der kommissarisch amtierende Minister des Innern, Jurij Lucenko, meinte in einem Interview mit der Wochenzeitung „Zerkalo Nedeli“, ein Wahlergebnis mit einem Abstand von 3 bis 5 Prozent würde „von der Gesellschaft“ (der Ukraine) akzeptiert werden.18 Janukovyč selbst sagte in einer Fernseh-Sendung vor der Stichwahl, ein Vorsprung von 15 Prozent sei die Garantie dafür, dass Fälschungen nicht wahlentscheidend gewesen seien; er forderte seine Anhänger auf, in der Stichwahl zumindest den Vorsprung von 10 Prozent, den er im ersten Wahlgang vor Julija Tymošenko erzielt hatte, zu halten.19

Die internationalen Wahlbeobachter aus Ost und West haben bereitwillig das Ergebnis der offiziellen Stimmenauszählung anerkannt, die einen, weil ihnen der Sieger genehm war, die anderen, weil sie die ukrainische Demokratie „konsolidiert“ sehen wollten, damit endlich Ruhe in der Nachbarschaft zu Russland eintritt.20 Nicht expressis verbis, doch indirekt legten sie Julija Tymošenko nahe, ihre Niederlage anzuerkennen.21 Von João Soares wurde Julija Tymošenko ermahnt: „Es gehört zu freien Wahlen, dass der Verlierer die Niederlage anerkennt.“22 Einheimische Kenner der Praktiken, die in Wahlen in der Ukraine angewendet werden, nahmen die Einschätzung der internationalen Beobachter mit einer gewissen Verwunderung zur Kenntnis.

Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sind der Ukraine müde. Noch bevor das Wahlergebnis von der Zentralen Wahlkommission – am 14. Februar – offiziell verkündet worden war, haben die Europäische Union (der Präsident des Europäischen Rates Herman Van Rompuy, der Präsident der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, der Präsident des Europäischen Parlaments Jerzy Buzek), die europäischen Staats- und Regierungschefs (u. a. Bundespräsident Köhler, Bundeskanzlerin Merkel, Präsident Sarkozy, Prime Minister Brown), der amerikanische Präsident Barack Obama und der Generalsekretär der NATO, Anders Fogh Rasmussen) dem „president-elect“ Janukovyč zu seinem Wahlsieg gratuliert. Der russische Präsident Medvedev gratulierte erst,23 nachdem Janukovyč von der Zentralen Wahlkommission zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärt worden war. Und der scheidende Präsident Juščenko wartete mit seiner Gratulation zu der „legitimen“ Wahl seines Kontrahenten aus dem Jahre 2004 bis zum Rückzug der Klage Julija Tymošenkos vor dem Obersten Verwaltungsgericht am 20. Februar 2010.

3. Anfechtung der Wahl vor Gericht – ohne Druck von der Straße

„Verteidigung des Sieges“ vor der Wahl

Janukovyč war fest entschlossen, „dieses Mal“ Präsident zu werden – sicherlich vorzugsweise durch ehrliche Wahl; doch aus seiner Wahlkampf-Rethorik konnte man schließen, dass Janukovych die Macht „ergreifen“ würde, wenn sie ihm nicht als Ergebnis der Wahl zufiele. Während Julija Tymošenko vor der Stichwahl weiter leidenschaftlich um Wähler warb, schloss Janukovyč eine Wahlniederlage kategorisch aus. Sollte das Ergebnis am 7. Februar anders ausfallen, so konnte dies nur die Folge von massiven Wahlfälschungen sein. Diese Sicht wurde dem Wahlvolk durch die täglich wiederholte Behauptung aufgedrängt, Julija Tymošenko plane die Fälschung der Wahl in großem Maßstab. Doch damit dieser Fall gar nicht erst eintrete, „werden wir niemandem erlauben, die Wahlen zu fälschen oder zu stören,“ wie er wieder und wieder verkündete. Seine „Partei der Regionen“ treffe Vorsorge gegen Fälschungsversuche seitens des „Blocks Julija Tymošenko“, sagte Janukovyč, und rief seine Wähler dazu auf, die Wahllokale gegen Störungen zu „schützen“, die Julija Tymošenkos Kommando im Osten und Süden plane. Dem wurde von ihrer Seite entgegengehalten, dass es Janukovyč nicht darum ginge, die Wahllokale in seinen Hochburgen zu schützen, sondern seine eigenen Fälschungsversuche zu decken. Im Donbass hat sich die Partei der Regionen der Ukraine als eine alles beherrschende „regionale Partei der Macht“ (Wilfried Jilge)24 etabliert, die sehr wohl in der Lage ist, das Abstimmungsverhalten der Bürger zu „kontrollieren“.

Als Vorbeugung gegen einen „zweiten Maidan“ – und auch für den Fall, dass „sein Wahlsieg“ von Julija Tymošenko vor Gericht angefochten werden sollte – hielt Janukovyč Tausende sportlicher junger „Kumpel“ aus dem Donbass-Revier zur „Verteidigung seines Wahlsiegs“ – in blauen Umhängen sichtbar in Kiew und „in Zivil“ in Erholungsheimen um Kiew – in Bereitschaft:25 Dieses Mal sollte der „orangene Mob“ ihrem Führer Janukovyč den Wahlsieg nicht wieder entreißen können. Um Zusammenstößen vorzubeugen, verbot das Kiewer Verwaltungsgericht der Partei „Batkyvčyna“ (Vaterland) und dem Verband „Sojuz Molodoži regionov Ukrainy“ (Union der Jugend der Regionen der Ukraine) vom 1. Februar bis zum 1. März 2010 auf dem „Majdan“ – wegen dessen symbolischer Bedeutung als „Schauplatz“ der Orangenen Revolution – Massen-Verstaltungen abzuhalten.26

Das gegenseitige Misstrauen zwischen den Lagern der beiden Präsidentschaftskandidaten saß tief. Die Auseinandersetzungen weiteten sich vor dem zweiten Wahlgang zu einem Kampf um die Kontrolle der Institutionen aus, die im Wahl-Prozess eine entscheidende Rolle spielen. Das Gebäude der staatlichen Druckerei „Ukrajina“, welche die offiziellen Wahlzettel druckte, musste unter den Schutz der Truppen des Innenministeriums gestellt werden.27 Den Platz „Lesja Ukrajinka“ vor dem Gebäude der Zentralen Wahl-Kommission verwandelte die Partei der Regionen in ein Feldlager von blauen Zelten, auf dem mehrere Tausend Anhänger des Präsidentschaftskandidaten Janukovyč bereits vor der Wahl dessen Wahlsieg „verteidigten“.28

Um sicher zu stellen, dass die zuständigen Gerichte dieses Mal „richtig“ entscheiden, versuchten Parteigänger des Kandidaten Janukovyč insbesondere die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die für Wahlanfechtungen zuständig ist, unter ihre Kontrolle zu bekommen.29 Drei Mitglieder der parlamentarischen Fraktion der Partei der Regionen „besetzten“ am 27. Januar das Gebäude des Kiewer Verwaltungsberufungsgerichts; dessen Vorsitzender Richter, Anatoly Denisov, galt ihnen als Tymošenko-Sympathisant. Julija Tymošenko beschuldigte die Generalstaatsanwaltschaft (General’na prokuratura Ukraïny), die seit einem Jahr unter Kontrolle der Partei der Regionen stünde, [30] Richter wegen ihrer Entscheidungen mit Entlassung zu bedrohen. Gegen fünf Richter des Kiewer Verwaltungsberufungsgericht (Kyïvs’kyj apeljacijnyj administratyvnyj sud) wurden von der Generalstaatsanwaltschaft und dem „Höchsten Justiz-Rat“ (Vyšča Rada Justyciï) Verfahren eröffnet.31 Nachdem der Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Volodymyr Šapoval, Janukovyč den Wahlsieg zugesprochen hatte, verlagerten sich die „Verteidiger des Wahlsiegs“ von Janukovyč vor das Gebäude des Obersten Verwaltungsgerichts in der Moskauer Straße, wo Julija Tymošenkos ihre Klage gegen die Zentrale Wahlkommission eingereicht hatte.

Kein „zweiter Majdan“

Noch vor der Stichwahl vermochte die siegesgewisse Partei der Regionen (PR) – opportunistische – Mehrheiten für Initiativen im Parlament mobilisieren, die gegen die Präsidentschaftskandidatin Julija Tymošenko gerichtet waren; dabei stimmten Mitglieder „ihrer“ Regierungskoalition aus der Fraktion des abgewählten Präsidenten Juščenko (NU-NS) mit der „Opposition“ gegen sie. Wenige Tage vor der Stichwahl gelang es der PR-Fraktion, Änderungen zum Wahlgesetz durchzubringen, was nicht nur von den „westlichen“, sondern auch von „östlichen“ Wahlbeobachtern moniert wurde.32 Ferner setzte sie im Parlament die Entlassung des Ministers des Innern („Polizeiminister“), Jurij Lucenko, durch.33

Und dennoch: Pessimistische Szenarien, welche eine gewaltsame Entladung der hoch gespannten Atmosphäre prophezeiten, erwiesen sich als unbegründet. Es ist dies das Verdienst der „Revolutionärin“ Julija Tymošenko, die ihre Anhänger nicht auf „die Straße“ rief, um den von Janukovyč in Bereitschaft gehaltenen „Demonstranten“ zu begegnen. Eine Woche lang hatte sich Julija Tymošenko nicht in der Öffentlichkeit zu dem von der Zentralen Wahlkommission bekannt gegebenen Ergebnis der Stimmenauszählung geäußert; erst am 13. Februar trat sie – in mehreren Fernseh-Kanälen gleichzeitig – mit einer kurzen Botschaft „vor das Volk“: „Janukovyč ist nicht unser Präsident“ erklärte sie – und „er wird nie der ehrlich gewählte Präsident der Ukraine sein“. Über eine Million Stimmen seien gefälscht worden – mehr als genug für „unseren gemeinsamen Sieg“. Sie werde das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vor Gericht anfechten. „Ich werde mit juristischen Argumenten unseren Staat und unsere Wahl verteidigen“.34 Ihre Verantwortung vor dem Land gebiete ihr, für die Herstellung von Gerechtigkeit zu kämpfen; nicht vor Gericht zu ziehen würde bedeuten, die Ukraine kampflos der „Kriminalität“ zu überlassen.35 Sie werde aber nicht zu zivilem Widerstand aufrufen; mehr denn je benötige die Ukraine jetzt Ruhe. Zu diesem weisen Entschluss36 mag sie wohl die Einsicht gebracht haben, dass in der Bevölkerung keine „vorrevolutionäre Stimmung“ herrschte. Die Bürger – auch im Westen der Ukraine – sind des Machtkampfs der politischen Klasse überdrüssig und wünschen, dass in der Politik Normalität einkehrt – selbst wenn dies bedeutet, dass ein Präsident Janukovyč das Heft in der Hand hält, den fast die Hälfte des Wahlvolks dieses Amtes nicht für würdig hält. Zu einem „zweiten Majdan“ hätte auch die begnadete Demagogin Julija Tymošenko „das Volk“ nicht bewegen können.37

„Janukovyč: nicht unser Präsident“ – Absetzgefecht Julija Tymošenkos vor Gericht

Eine Woche nach der Stichwahl, am 14. Februar 2010, erklärte die Zentrale Wahlkommission / ZWK (Central’na Vyborča Komisija / CVK) Viktor Janukovyč auf der Grundlage des Protokolls der Ergebnisse des zweiten Wahlgangs zum Sieger der Präsidentschaftswahl.38 Noch vor der Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses durch die Zentrale Wahlkommission hatte sie erklärt, dass sie das von der ZWK ermittelte Wahlergebnis nicht akzeptieren werde. „Janukovyč ist nicht unser Präsident“, wiederholte sie in einer zweiten „Botschaft an das ukrainische Volk“ [39] am 22. Februar.

Bereits in der Wahlnacht (am 7. Februar) hatte die unbeugsame Kämpferin Julija Tymošenko ihren Wahlkampfstab angewiesen, einen juristischen Feldzug vorzubereiten, um „jede ihrer Stimmen zu verteidigen“: Der Leiter ihres „Kommandos“, der erste Vizepremierminister Oleksandr Turčinov, erklärte am 10. Februar, es lägen Beweise für Fälschungen zugunsten von Janukovyč vor, die „das Wahlergebnis wesentlich beeinflusst haben…“; er forderte eine erneute Auszählung der Stimmen aus über Tausend Wahllokalen; die entsprechenden Unterlagen seien der Zentralen Wahlkommission übergeben worden.40 Mychajlo Ochendovs’kyj, der parteiliche Sprecher der Vertreter des Kandidaten Janukovyč in der ZWK, qualifizierte die Dokumente, die als Beweise eingereicht wurden, als „juristischen Spam“. Andrej Mahera, einer der Stellvertretenden Vorsitzenden der ZWK, erklärte, dass die Stimmabgabe in einigen Wahllokalen bereits für ungültig erklärt worden sei; der Einfluss auf das Gesamtergebnis liege aber im Bereich von Zehntel oder Hundertstel Prozent.41

Am 16. Februar reichte Julija Tymošenko vor dem Obersten Verwaltungsgericht der Ukraine / OVGU (Vyšyj administratyvnyj sud Ukraïny / VASU) eine Klage gegen die Zentrale Wahlkommission ein; sie verlangte, die Erstellung des Ergebnisprotokolls durch die ZWK für gesetzeswidrig zu erklären – und diese anzuweisen, eine Wiederholung der Stichwahl (eine dritte Runde) für den 3. Sonntag nach dem Tag der Entscheidung des OVGU anzusetzen. Am gleichen Tag legte eine Mehrheit in der Verchovna Rada den 25. Februar 2010 für die Inauguration des neuen Präsidenten Janukovyč fest – ganz offenkundig, um das Oberste Verwaltungsgericht (OVG) unter Zeitdruck zu setzen.42 Das OVGU suspendierte am folgenden Tag das von der ZWK erstellte Ergebnis-Protokoll:43 Bis zum Abschluss der Überprüfung wurde der „gewählte Präsident“ Janukovyč rechtlich wieder zum Präsidentschaftskandidaten. Ungeachtet dessen liefen die Vorbereitungen für die Inauguration von Janukovič – einschließlich der Einladung ausländischer Gäste – weiter. Julija Tymošenkos „rechte Hand“ Turčynov nannte dies den Versuch, die Macht zu usurpieren.44

Das Verfahren vor dem OVGU wurde am 19. Februar eröffnet; die Klage Julija Tymošenkos wurde, wie von ihr beantragt, in öffentlichen Sitzungen von dem gesamten Richter-Kollegium verhandelt.45 Nicht stattgegeben wurde ihrem Antrag, die Erörterung ihrer Beweise für den Wahlbetrug im Fernsehen live übertragen zu lassen. Zum Berichterstatter in ihrer Sache wurde der Richter Aleksandr Nečitajlo durch ein elektronisches Zufallsverfahren bestimmt.46 Weil ihr persönliches Verhältnis zu dem Vorsitzenden des OVGU, Aleksandr Pasenjuk, gepannt sei, stünden ihre Chancen schlecht, vor diesem Gericht Recht zu bekommen, reflektierten die Medien die Einschätzung der Justiz in der Bevölkerung.47 In einer Fernsehsendung sagte Turčinov: „Wir haben derzeit kein Vertrauen in die Judikative. Insbesondere wissen wir, welche Situation im Obersten Verwaltungsgericht entstanden ist. Die Recht sprechende Gewalt garantiert derzeit keine objektive Prüfung dieses und anderer Probleme.“

Am zweiten Verhandlungstag (am 20. Februar) zog Julija Tymošenko ihre Klage „…in Anbetracht des Unwillens (des Gerichts), die objektive Wahrheit festzustellen,“ zurück.48 Sie warf dem Gericht Parteilichkeit vor; es habe sich am Vortage faktisch geweigert, die Beweise zu untersuchen, auf der ihre Klage gründe, und die Zeugen, die sie benannt habe, anzuhören. „Unter diesen Umständen sehen wir einfach keinen Sinn in der weiteren Prüfung dieser Sache“, erklärte Julija Tymošenko.49 Dass die Anfechtung des Wahlergebnisses keinen „Sinn“ haben würde, d. h., dass das Oberste Verwaltungsgericht – anders als im Jahre 2004 – keine „dritte Runde“ verfügen würde, war von allen politischen Beobachtern vorhergesagt worden. Es ging Julija Tymošenko wohl nur darum, die Legitimität des Präsidenten Janukovyč öffentlich in Zweifel zu ziehen – und wohl auch darum, ihre Weigerung, seinen Wahlsieg anzuerkennen, zu „legitimieren“. Der Vertreter des Kandidaten Janukovyč in der Zentralen Wahlkommission und vor dem OVGU, Mychajlo Ochendovs’kyj, verlangte die Fortsetzung der gerichtlichen Verhandlung. „Wir meinen, das OVGU sollte dem Disput über die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses und seiner Feststellung durch die Zentrale Wahlkommission ein Ende setzen.“50 Auf der Website Julija Tymošenko wurde beispielhaft das Beweismaterials aus der Oblast-Hauptstadt Dnipropetrovsk veröffentlicht, das dem OVGU übergeben worden war, und das dieses nicht öffentlich erörtern wollte. Daraus gehe hervor, auf welch schamlose Weise die Partei der Regionen ihrem Kandidaten den „Wahlsieg gesichert“ habe.51

Ein Appell an das Oberste Gericht der Ukraine (Verchovnyj Sud Ukraïny) war nicht möglich, da die Verchovna Rada im Jahre 2009 das Oberste Verwaltungsgericht der Ukraine zur letzten Instanz für die Anfechtung von Wahlen bestimmt hat. Der Vorsitzende Richter des Obersten Gerichts, Vasilij Onopenko, gehörte vor seiner Berufung in dieses Amt der Fraktion des Blocks Julija Tymošenko in der Verchovna Rada an. In einigen Medien wurde es für möglich gehalten, dass Onopenko „indirekten“ Druck auf das Oberste Verwaltungsgericht ausüben könnte, zu dessen Vorsitzendem Pasenjuk er ein gestörtes Verhältnis haben soll.52

Der ungute Nachgeschmack der Orangenen Revolution

In den fünf Jahren ihrer Regierung haben die „orangenen Demokraten“ nichts unternommen, um der Judikative in der Öffentlichkeit die Anerkennung als unabhängiger Dritter Gewalt zu verschaffen. Im Gegenteil, beide, Präsident Juščenko und Premierministerin Julija Tymošenko, haben den herrschenden Eindruck der Bevölkerung eher verstärkt, dass die ukrainischen Gerichte kein Recht sprechen. Bereits ihre Ankündigung, vor dem Obersten Verwaltungsgericht gegen die Zentrale Wahlkommission klagen zu wollen, hatte Julija Tymošenko mit einem öffentlich geäußerten Zweifel an dessen „Qualität“ versehen. Präsident Juščenko, der seinen Wahlkampf weniger um einer zweiten Amtszeit willen geführt hat, als viel mehr um einen Wahlsieg Julija Tymošenkos zu verhindern, traf sich vor der Eröffnung des Verfahrens zu einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichtes, Pacenjuk, wie er selbst der Presse ohne einen Anflug von Unrechtsbewusstseins mitteilte.53

Die friedliche Orangene Revolution gegen das Unrechtsregime des Präsidenten Kučma war demokratisch legitimiert – hatte aber einen kongenialen Defekt: Um ihrer grundsätzlichen Gewaltfreiheit willen „vergewaltigte“ sie die Rechtsprechung, d. h., sie „nötigte“ das Oberste Gericht der Ukraine, die Stichwahl für ungültig zu erklären und deren Wiederholung zu verfügen, anstatt in einem Akt „revolutionären Rechts“ den oppositionellen Kandidaten Viktor Juščenko zum Präsidenten auszurufen – oder die Zentrale Wahlkommission zu zwingen, die Unfreiheit der Wahl und die Fälschung ihres Ergebnisses offen zu legen. Damit verstießen die demokratischen Revolutionäre gegen den demokratischen Grundsatz der Unabhängigkeit der Justiz. Es ist nicht verwunderlich, dass gerade im Bereich der „Justizreform“ die Ukraine nach der Orangenen Revolution keinen Fortschritt gemacht hat.

4. Die Wahl: Kein Votum für den „Wechsel“

Während es im Jahre 2004 bei der Konfrontation zwischen Viktor Juščenko und Viktor Janukovyč um die Entscheidung zwischen Demokratie und demokratisch camouflierter Diktatur54, also um eine grundsätzliche Richtungswahl ging, sah die Bevölkerung in der Wahl des Jahres 2010 eher die Konkurrenz zwischen persönlichen Ambitionen als zwischen alternativen politischen Konzepten. Julija Tymošenko aber griff die elektorale Alternative des Jahres 2004 wieder auf und ideologisierte ihren Machtkampf mit Janukovyč zu einer Entscheidung zwischen „europäischer Demokratie“ und „korrupter Oligarchie“, während Janukovyč die Wähler pragmatisch vor die Entscheidung zwischen dem „orangenen Chaos“ und einem „effektiven Staat“ stellte. In Julija Tymošenkos „orangener Rethorik“ lebte der „Majdan“ wieder auf – doch ungleich gemäßigter als im Jahre 2004: Niemand wurde mit Gefängnis bedroht; ihren Kontrahenten Janukovyč bezeichnete sie lediglich als „Werkzeug der Oligarchen“: „Janukovyč ist für mich …eine Marionette der ukrainischen Oligarchie, durch den sie (die Oligarchen) weiterhin dem Staat alle strategischen Objekte abnehmen wollen.“55

„Der Wähler“ entschied sich durchaus nicht für den „Wechsel“, d. h., gegen die Verlängerung des Mandats für die „orangenen Macht“, wie Janukovyč und die Partei der Regionen der Bevölkerung einzureden versuchen. Wohl wünschten sich die Bürger der Ukraine ein Ende der politischen Tragikomödie auf dem Hügel von Pečers’k56. Nicht die „orangene Idee“, wohl aber Viktor Juščenko hat sich in den Augen der Bevölkerung total diskreditiert;57 abgewählt wurde der „orangene“ Präsident, nicht Julija Tymošenko. Die 5,5 Prozent, die Juščenko im ersten Wahlgang erhielt, ist wohl das denkbar schlechteste Wahlergebnis eines amtierenden Präsidenten. Die – offiziellen – 45,5 Prozent der Stimmen, die Julija Tymošenko in der Stichwahl erhielt, nachdem alle Konkurrenten aus dem „national-demokratischen“ Lager im ersten Wahlgang aus dem Rennen ausgeschieden waren,58 bedeuten, dass die „national-demokratischen“ Wähler Julija Tymošenko als legitime Erbin der Orangenen Revolution betrachten. Es stimmt nicht dass „…mit der Niederlage von Julia Timoschenko, der zweiten Hoffnungsträgerin von 2004, und dem Sieg von Wiktor Janukowitsch im zweiten Wahlgang, das Ende der orangenen Revolution endgültig besiegelt“ wurde, wie „Joschka“ Fischer in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung schrieb.59 Angesichts der infamen Diskreditierungskampagne gegen die Premierministerin Tymošenko, die für die von außen über die Ukraine hereingebrochene wirtschaftliche Krise verantwortlich gemacht wurde, bedeutet der geringe Abstand zu den – offiziell – 49 Prozent der Stimmen für Janukovyč einen „qualifizierten“ Wahlsieg Julija Tymošenkos. Janukovyč verfehlte in der Stichwahl die absolute Mehrheit; dieses schwache, vermutlich geschönte Ergebnis, ist kein überzeugender Beweis für eine mehrheitliche „Zustimmung“ der Bevölkerung zu seiner Präsidentschaft. In 17 (in 16 Oblasti und in der Hauptstadt Kiew) der 27 Verwaltungseinheiten60 des Landes gewann Julija Tymošenko mit absoluten Mehrheiten. Bei der verfestigten regionalen Spaltung der Wählerschaft verdankt Janukovyč den offiziellen – ob er der wahre ist, sei dahingestellt – Vorsprung von 3,5 % nur der Demographie: In den 9 Verwaltungseinheiten (in 8 Oblasti und in der Stadt Sewastopol61), in denen Janukovyč mit absoluten Mehrheiten siegte, wohnen 60 Prozent der Bevölkerung.

In der Stichwahl – wie bereits im ersten Wahlgang – bestätigte sich diese elektorale Zweiteilung der Ukraine62: Viktor Janukovyč gewann in den Oblasti des Ostens und Südens des Landes mit Mehrheiten von über 70 Prozent,63 in seinen beiden östlichen Hochburgen im Donbass mit 90 Prozent (in den Oblasti Doneck und Luhansk). Doch ist die regionale Teilung nicht mehr so stark ausgeprägt wie im Jahre 2004: In den zentralen Oblasti gelang es Janukovyč im Durchschnitt fast ein Drittel der Stimmen zu gewinnen – in der Hauptstadt Kiew ein Viertel;64 und selbst im Westen des Landes erhielt er, die drei galizischen Oblasti ausgenommen, fast ein Fünftel der Stimmen.65 Julija Tymošenko siegte im Westen (in den 3 galizischen Oblasti66 und in Wolynien mit Stimmenanteilen zwischen 80 und 90 Prozent) und in der Mitte des Landes einschließlich der Hauptstadt Kiew (65 Prozent) – bei beachtenswerten Unterschieden zwischen den einzelnen Oblasti – mit drei Fünfteln der Stimmen im Durchschnitt. Im Süden erzielte Julija Tymošenko – die Krim ausgenommen – fast ein Viertel der Stimmen. In den östlichen Industriezentren Charkiv über 20 Prozent und in Dnipropetrovsk, ihrer Heimatstadt, fast 30 Prozent. Die erheblichen Stimmengewinne von Janukovyč bzw. Julija Tymošenko im elektoralen Revier des Konkurrenten – die jeweiligen Hochburgen Donbass und Krim bzw. Galizien und Wolhynien ausgenommen – können als Indiz dafür gewertet werden, dass in kommenden Wahlen die Spaltung nach und nach überwunden werden wird. Auch erscheint sehr wohl möglich, dass der im ersten Wahlgang drittplazierte Serhij Tihipko bzw. seine Partei „Sil’na Ukrajina“ (Starke Ukraine) als neue, „dritte Kraft“ (siehe unten) in zukünftigen Wahlen die verfestigte regionale Zweiteilung der Wählerschaft aufbricht – ganz abgesehen davon, dass einige Jahre Regierungspraxis des „regionalen Führers“ Janukovyč auch dessen heimattreue regionale Wähler desillusionieren werden.

So wenig, wie die Orangene Revolution ein Aufstand der ganzen Bevölkerung der Ukraine war – es war die Hauptstadt Kiew, die Mitte und der Westen des Landes, die gegen den Wahlbetrug des Kučma-Regimes im Jahre 2004 aufbegehrten – so wenig ist die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine ein repräsentatives Votum des ganzen Landes. Sein Wahlsieg beruht weder auf seinen persönlichen Qualitäten,67 noch auf einem überzeugenden Programm, sondern auf der chronischen Ost-West Spaltung des ukrainischen Wahlvolkes. Der russisch-sprachige Osten und Süden68 wählt seinen „regionalen“ Einheitskandidaten Janukovyč, der Westen wählt diesen nicht – und dies unabhängig von dessen bizarren Versprechungen für die Zeit nach dem „Wechsel“, wie z. B. die Erhöhung der Zahl der Einwohner des Landes von gegenwärtig 46 auf 50 Millionen durch Erhöhung der Fertilitätsrate, auch ungeachtet seiner unrealistischen Modernisierungsperspektiven für die ukrainische Wirtschaft. In der Mitte des Landes69 einschließlich der Hauptstadt Kiew hatte allerdings sein schamloser Populismus70 – wie die versprochene Verdoppelung der Mindestrenten im ersten Jahr seiner Amtszeit – Erfolg: das Drittel der Stimmen, das er in den zentralen Oblasti der Ukraine erhielt, entspricht fast dem Anteil der „Pensionäre“ an der gesamten Bevölkerung, der fast 30 Prozent ausmacht.71

„Aufgestellt“ als politischer Repräsentant ihrer ökonomischen Interessen wurde Janukovyč bereits in der Ära Kučma vom „Donbass-Klan“. Als Gouverneur der Oblast Doneck und als Premierminister des Präsidenten Kučma hatte Janukovyč sich als durchsetzungsfähig – und loyal – erwiesen, Eigenschaften, die in der Öffentlichkeit weniger wahr genommen werden als Julija Tymošenkos perfekte Inszenierung ihrer selbst. Alle anderen potenziellen Konkurrenten um die Stimmen der russisch-sprachigen Bevölkerung der Ost- und Süd-Ukraine – namentlich die Kommunistische Partei und die Progressive Sozialistische Partei – sind im Laufe der letzten fünf Jahre durch die massive finanzielle Unterstützung der mächtigen “Sponsoren“ der Partei der Regionen marginalisiert worden. Der „extremistische“ Populismus des Präsidentschaftskandidaten Janukovyč im letzten Wahlkampf nahm ihnen den Rest des sozialistischen Windes aus den Segeln.

Die eigentliche, folgenreiche Änderung, die mit dem „Personal-Wechsel“ im Amt des Präsidenten erfolgte, ist die Ausschaltung des persönlich motivierten, irrationalen Konflikts zwischen dem Präsidenten Juščenko und der Premierministerin Julija Tymošenko, welche eine Voraussetzung für sachliche Politik in der Zukunft ist. Doch diese Änderung hätte auch ein Wahlsieg Julija Tymošenkos zur Folge gehabt; einen Premierminister Juščenko hätte es mit einer präsidentin Julija Tymošenko sicher nicht gegeben.

5. Die erste Runde: Vorgezogene Wahl des Premierministers durch das Volk ?

Im ersten Wahlgang kosteten die Kandidaturen von Serhij Tihipko und Arsenij Jacenjuk, die mit 13 bzw. mit 7 Prozent abschnitten, den beiden Spitzenreitern Viktor Janukovyč und Julija Tymošenko erhebliche Stimmenanteile auf deren jeweiligem elektoralen Terrain: Die Kandidatur des als „moderater Janukovyč“ apostrophierten Tihipko kostete den von Natur aus aggressiven Janukovyč aus dem rauhen Milieu des Donbass72 vor allem im Süden einen beträchtlichen Anteil an Stimmen.73 Die Kandidatur Arsenij Jacenjuks kostete Julija Tymošenko einen erheblichen Anteil „ihrer“ Stimmen im ersten Wahlgang, da er in ihrem elektoralen Revier wilderte.74 Bis zur Jahresmitte 2009 hatte Julija Tymošenkos jugendlicher Herausforderer der Premierministerin den zweiten Platz in den Meinungsumfragen streitig gemacht. Nach dem steilen Anstieg sank jedoch seine demoskopische Popularität von 14 auf 7 Prozent, fast genau der Stimmenanteil, mit welchem er im ersten Wahlgang am 17. Januar auf Platz vier landete.75

Serhij Tihipko, der im Verlauf des offiziellen Wahlkampfes den „orangenen“ Hoffnungsträger Jacenjuk in den Meinungsumfragen überholte, gewann im ersten Wahlgang „aus dem Stand“ mit 13 Prozent den dritten Platz. Der im Jahre 1960 in Moldawien76 geborene Tihipko ist kein Newcomer in der Politik; seine Kandidatur war eine Rückkehr. Tigipkos Karriere ähnelt der von Julija Tymošenko, mit deren Laufbahn sich die seine in Dnipropetrovsk berührte. Sie begann wie die vieler im Kapitalismus erfolgreicher Geschäftsleute im Komsomol;77 wie Tymošenko wechselte Tihipko in die Politik, nachdem er sich als Banker (sie als „gas trader“) eine materiell unabhängige Basis geschaffen hatte.78 Tihipko diente dem Präsidenten Kučma als Stellvertender Premierminister 1997 (im Alter von 37 Jahren) im Kabinett des Premiermisters Pavlo Lazarenko,79 als Minister für Wirtschaft und als Präsident der Nationalbank – und dem Präsidentschaftskandidaten Janukovyč im Jahre 2004 als Wahlkampfleiter; die Fälschung der Wahl durch seinen Patron wird ihm nicht entgangen sein. Als „neues Gesicht“ konnte sich der Präsidentschaftskandidat Tihipko den ukrainischen Wählern im Jahre 2009 deshalb empfehlen, weil er sich – und seine Partei „Trudova Ukraïna“80 – nach der Orangenen Revolution von der Politik fern gehalten hatte, und deshalb nicht mit der politischen Tragikomödie der letzten fünf Jahre assoziiert wurde. Tihipko appellierte in seinem nüchternen Wahlkampf ohne den geringsten Anflug von Aggressivität mit pragmatischen Aussagen an die jüngeren, gebildeten Wähler, die sich – wie er – nach dem Kollaps des Kommunismus in der neuen Zeit zurecht gefunden haben. In der Hauptstadt Kiew nahm er Julija Tymošenko im ersten Wahlgang fast ein Fünftel der Stimmen ab. Der starke dritte Platz Tihipkos in den Präsidentschaftswahlen konnte als seine plebiszitäre Vorwahl in das Amt des Premierministers gedeutet werden.

Tihipko selbst hatte bereits vor den Wahlen seine grundsätzliche Bereitschaft erklärt, das Amt des Premierministers anzunehmen, gleichgültig, ob der neue Präsident Janukovyč oder Tymošenko heiße.81 Das Land brauche Reformen; wenn er eingeladen werde, diese – auch die unpopulären – als Premierminister durchzusetzen, sei er dazu bereit. Er werde jedoch weder Tymošenko noch Janukovyč in der Stichwahl unterstützen. Julija Tymošenko bot Tihipko nach dem ersten Wahlgang öffentlich das Amt des Premierministers an (eigentlich eine Prärogative des Parlaments), um ihn zu einer Empfehlung an seine Wähler zu ihren Gunsten zu bewegen.82 Der gewievte Politiker Tihipko erklärte noch in der Wahlnacht, seinen – mündigen – Wählern keine Empfehlung geben zu wollen.83 Janukovyč soll Tihipko mit dem Angebot vorgezogener Parlamentswahlen zu einer Wahlempfehlung zu seinen Gunsten gelockt zu haben.84 Die baldige Neuwahl der Verchovna Rada liegt in Tihipkos Interesse, da sie ihm verspricht, den „Schwung“ aus dem Wettlauf um das Amt des Präsidenten für den Einzug seiner Partei „Sil’na Ukrajina” (Starke Ukraine) in das Parlament nutzen zu können. Zudem versprach Janukovyč den Wählern Tihipkos, dessen Wahlprogramm in sein Programm zu integrieren.85

6. Präsident Juščenkos persönlicher Wahlkampf gegen Julija Tymošenko

Der permanente Konflikt des Präsidenten Juščenko mit Julija Tymošenko machte seine fünfjährige Amtszeit zu einer „Zeit der Wirren“. Die Schuld an dem „orangenen Chaos“ der letzten fünf Jahre ist nicht, wie von ausländischen Beobachtern vielfach angenommen wird, zwischen Präsident Juščenko und Premierministerin Tymošenko gleich verteilt: Die Hauptschuld trägt Präsident Juščenko. Er hat mit allen Befugnissen, welche ihm die Verfassungsänderung vom 1. Januar 2006 gelassen hat – präsidentiales Veto, legislative Initiativen, Annulierung von Beschlüssen des Ministerkabinetts durch präsidiale Erlasse, Vorsitz im Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat – die Regierungspolitik der Premierministerin konterkariert. Julija Tymošenko kämpfte zwischen zwei Fronten, dem „Sekretariat des Präsidenten“86 und der Opposition der Partei der Regionen, der stärksten Fraktion in der Verchovna Rada. Mit seiner Präsidentschaftskandidatur wollte Juščenko vor allem Julija Tymošenko schaden, die er seit seiner Inauguration im Januar 2005 mit krankhafter Missgunst87 verfolgt; in seinem ganz persönlichen Wahlkampf gegen sie nahm diese Obsession pathologische Züge an.88 Insofern ist Julija Tymošenkos Wahlniederlage Juščenkos persönlicher Sieg über die Frau, deren allseitige Überlegenheit dem selbstverliebten „Hetman“89 unerträglich war.

Nach seiner Abwahl in der ersten Runde forderte Juščenko seine Wähler auf, ihre Stimme weder Tymošenko noch Janukovyč zu geben, da beide gleichermaßen dieses Amtes unwürdig seien; beider Präsidentschaftskandidaturen seien „un-ukrainische“ Projekte. Er verdächtigte sie, für die Zeit nach der Stichwahl eine „Kreml Koalition“ und den „Ausverkauf ukrainischer Interessen zu planen.90 In Bezug auf Janukovyč mag diese Aussage noch als eine dem Wahlkampf geschuldete Schmähung des Gegners zu verstehen sein; immerhin kann die angedeutete Bereitschaft, im Gegenzug für konzessive Gaspreise das ukrainische Transitsystem von einem internationalen Konsortium91 – eine alte Forderung von Gazprom – managen zu lassen, als „Ausverkauf nationaler Interessen“ angesehen werden. In Bezug auf die glaubhaft patriotische Julija Tymošenko, die dies kategorisch ausschließt,92 ist diese Behauptung ein Indiz für die paranoide Verblendung, die Juščenko befallen hat. Auf seiner letzten Pressekonferenz reklamierte Präsident Juščenko für sich das „moralische Recht“, den „größten Fehler der vergangenen fünf Jahren zu nennen“, nämlich: „Tymošenko“.93 Das beschämende Wahlergebnis von füneinhalb Prozent ist kaum mit Juščenkos politische Inkompetenz allein zu erklären; seine Wähler aus dem Jahre 2004 haben erkannt, dass Juščenko dem höchsten Amt im Staate auch charakterlich nicht gewachsen war:94 Er hat seine Wähler als Mensch enttäuscht. Die angemaßte Rolle des „geistigen Führers“ (duchovnyj lider) untergrub Juščenko selbst durch die offenkundige Niedrigkeit der Beweggründe seiner unablässigen Angriffe gegen Julja Tymošenko – und durch klientelistische Patronage.95

Es ist Juščenkos – vielleicht einziges – bleibendes Verdienst, den Holodomor enttabuisiert und die ukrainische Geschichte aus den Fesseln der sowjetischen Historiographie befreit zu haben. Mit seiner Überhöhung des ukrainischen Patriotismus – auf Basis zumeist national-romantischer Imaginationen – hat er allerdings die historisch bedingte kulturelle Spaltung des Landes, die sich auf der politischen Ebene in der regionalen Zweiteilung des Wahlvolkes manifestiert, eher vertieft als geheilt.

1 “Yesterday’s vote was an impressive display of democratic election” sagte João Soares, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Sonder-Koordinator der kurzfristigen Beobachter-Mission der PV der OSZE auf der Pressekonferenz der IEOM am 08.02.2010.

2 Am 03.12.2004 erklärte das Oberste Gericht die Stichwahl vom 21.11.2004 für ungültig und ordnete deren Wiederholung am 26.12.2004 an. Die „dritte Runde“ gewann der „orangene“ Präsidentschaftskandidat Viktor Juščenko. Janukovyč bestreitet die Fälschung der (ersten) Stichwahl vom 21. November 2004; der Wahlsieg sei ihm damals „gestohlen“ worden, wie er wiederholt betonte.Der damalige Präsident der Zentralen Wahlkommission, Serhij Kivalov, Mitglied der Fraktion der Partei der Regionen, der Janukovyč damals zum Sieger erklärt hatte, bestreitet den Vorwurf, das Ergebnis gefälscht zu haben.

3 Im Jahre 2004 erhielt Janukovyč in der „dritten Runde“ 44 %.

4 Das ukrainische Wahlrecht sieht eine solche Möglichkeit vor.

5 Die im Text angeführten Wahlergebnisse sind gerundet. Die von der Zentralen Wahlkommission bekannt gegebenen Zahlen lauten wie folgt: Stichwahl am 07.01.2010: Viktor Janukovyč: 48,95 %, Julija Tymošenko: 45,47 %; Differenz: 3,48 %. „gegen beide“ Kandidaten: 4,36 %. Ungültig waren 1,19 % der abgegebenen Stimmen. Erster Wahlgang am 17.01.2010: Viktor Janukovyč: 35,32 %; Julija Tymošenko: 25,05; Serhij Tihipko: 13,05 %; Arsenij Jacenjuk: 6,96 %; Viktor Juščenko: 5,45 %; Petro Symonenko: 3,55 %; Lytvyn: 2,35 %. http://www.cvk.gov.ua/vp2010/wp0011.html.

6 Nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung (48 %) glaubte nach einer Umfrage von FOM-Ukraine vom 17. bis 22. Dezember 2009, dass die Präsidentschaftswahlen einen Einfluss auf ihr Leben haben würden. http://bd.fom.ru/report/map/ukrain/ukrain_eo/du091229/printable/#Abs1.

7 Im „Revolutionsjahr“ 2004 waren es 75 Prozent.

8 “Yesterday’s vote was an impressive display of democratic election” sagte João Soares, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Sonder-Koordinator der kurzfristigen Beobachter-Mission der PV der OSZE auf der Pressekonferenz der IEOM am 08.02.2010.

9 International Election Observation Mission (Europäisches Parlament, Pawel Kowal, Polen; Parlamentarische Versammlung der OSZE, João Soares, der Präsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Special Coordinator der „short term OSCE PA observer Mission“; OSZE / ODIHR (Heidi Tagliavini), Parlamentarische Versammlung des Europa-Rates (Mátyás Eörsi, Ungarn); Parlamentarische Versammlung der NATO (Assen Agov, Bulgarien). IOEM / Presseerklärung: Ukraine – Presidential Election, 17 January 2010; IOEM / Statement of Preliminary Finding and Conclusions, 18.01.2010.
http://www.osce.org/documents/odihr/2010/02/42679?en.pdf.

10 Missija nabljudatelej Mežparlamentskoj Assamblei gosudarstv – učastnikov Sodružestva Nezavisimych Gosudarstv. http:/www.korrespondent.net/Ukraine/politics/1039250. Die Mission bestand aus 84 Beobachtern aus acht GUS-Ländern. Rund 30 russische Parlamentarier beobachteten die Stichwahl im Rahmen der Parlamentarischen Versammlungen verschiedener internationaler Organsiationen (OSZE, GUS, BSEC / PABSEC (Black Sea Economic Cooperation) und als direkte Repräsentanten der Gosudarstvennaja Duma und des Föderationsrates der Russländischen Föderation. Toršin ist der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Föderationsrates der Russländischen Föderation.

11 Die IEOM monierte, dass „unsubstanziierte“ gegenseitige Vorwürfe die Atmosphäre angespannt hätten. IEOM: Statement of Preliminary Finding and Conclusions, 18.01.2010.

12 Pressemitteilung der IEOM: „Run-off confirms that Ukraine’s presidential election meets most international commitments”, Kyiv, 8 February 2010, ausgehändigt nach der Pressekonferenz am Tage nach der Stichwahl.

13 Anders als vor der Wahl „beobachtet“, brach nach der Wahl in der ZWK ein offener Konflikt zwischen den Vertretern des Kandidaten Janukovyč und der Kandidatin Julija Tymošenko aus.

14 IEOM, Statement of Preliminary Findings and Conclusions, S. 3 bzw. S. 5.

15 „Ne važno, kak golosovali, glavno – kak posčitajut.” Valentina Samar: Izbiratel’ sdelal svoe delo I možet otdychat’, in: Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 5 (785), 13.02.2010, S. 3.
Diese „autoritative“ Wochenzeitung erscheint in ukrainischer (Dzerkalo Tyžnja) und – identisch – in russischer Sprache (Zerkalo Nedeli); hier wird durchgehend die russische Ausgabe zitiert.

16 Dort wurden noch in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar Stimmen „gezählt“. Zu den gängigen Methoden gehören die Eintragung von Wählern am Tag der Wahl in die Wahllisten; Stimmabgabe „zu Hause“ ohne ärztliches Attest; kollektiver Transport zu den Wahllokalen und Bezahlung der „Unkosten“. etc. Im Osten und Süden des Landes, insbesondere in ihren Hochburgen Donbass und Krim „regiert“ die Partei der Regionen auf der kommunalen Ebene; sie „organisierte“ die Wahlen.

17 Die genaue Zahl ist 887 914 Stimmen; Anzahl der Wahllokale: 33 668.

18 Nacional’nyj ekzit-pol-2010; Ekzit-pol INTER / SOCIS; Ekzit-pol ICTV;
Ekzit-pol Šuster Studio; Ekzit-pol R&B; Ekzit-pol INTER / FOM / USS.
Janukovyč: Durchschnitt 6 Exit-Polls: 49,25; ZWK: 48,95.
Tymošenko: Durchschnitt 6 Exit-Polls: 45,08; ZWK: 45,47.
Der durchschnittliche Vorsprung von Janukovyč vor Julija Tymošenko betrug 4,17 % der kleinste 2,8 % – der größte 5,1 %; ZWK: 3,48 %. Ukrainskaja Pravda (russ. Version); 07.02.2010; http://www.pravda.com.ua/articles/2010/02/7/47294831.

19 Sergij Rachmanin: „Jurij Lucenko: Ruhige Wahlen werden mein Sieg sein, unabhängig davon, wer gewinnt“, in: Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 4 (784), 05. – 12.02.2010. http://www.zn.ua/1000/1550/68446/.

20 Donbass Televison und Radio Gesellschaft, Doneck, 02.02.2010. Interfax-Ukraine, Kiew, 03.02.2010. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 02.02.2010: Janukovych: ein Vorsprung unter 10 % darf nicht zugelassen werden.

21 Es ist kaum anzunehmen, dass die erfahrenen internationalen Wahlbeobachter die Fälschung von
1 Million Stimmen ( 4 % von insgesamt 25 Millionen abgegebenen) nicht für möglich gehalten haben; aber es ist zu hoffen, dass sie nicht glaubten, an dem Wahlfälscher von 2004 etwas gut machen zu müssen.

22 Pawel Kowal, der Leiter der Beobachterdelegation des Europäischen Parlaments (und Kovorsitzender des parlamentarischen EU-Ukraine Kooperationskomitees) sagte auf der Pressekonferenz der IEOM am Tage nach der Wahl: „If she is seriously thinking about her political future she will not question the result…“. Interfax-Ukraine, Kiew, 08.02.2010.

23 Zitiert nach Schuller, FAZ. „Der Verlierer hat dem Gewinner die Hand zu reichen“, sagte Assen Agow, der Leiter der Beobachtermission der Parlamentarischen Versammlung der NATO. Die Beachtung demokratischer Gepflogenheiten läßt sich nicht in einem Land erwarten, in welchem Wahlen nicht so sehr ein ehrlicher Wettstreit zwischen politischen Konzepten sind, sondern viel mehr ein „Kampf“ um die Ressourcen des Landes, es also um mehr geht, als um eine Legislaturperiode „an der Regierung“ oder „in der Opposition“. Wo der ganze Staat die „Beute“ ist, haben die Politiker gute Gründe, sich zu misstrauen; Regeln werden in diesem Machtkampf nur so weit eingehalten, wie die Kontrolle des Gegners reicht.

24 Der russische Präsident Medvedev kam nicht zur feierlichen Inauguration seines ukrainischen Kollegen nach Kiew.

25 Wilfried Jilge: Zur außenpolitischen Orientierung des neuen ukrainischen Präsidenten und der Partei der Regionen, in: ukraine-analysen, Nr. 70, 16.03.2010, S. 2 – 9. Jilge zitiert Kerstin Zimmer, die die PR im Donbass als eine Art „Zwangsverband“ für regionale Akteure (Unternehmer, Beamte der regionalen Verwaltung, Belegschaften von Betrieben) bezeichnete.

26 In einem Interview mit Sergij Rachmanin sagte der Stellvertetende Innenminister Lucenko, die Partei der Regionen habe 2000 professionelle Mitarbeiter von Objekt- und Personen-Schutzgesellschaften angeworben für 50 USD pro Tag. Sergij Rachmanin: „Jurij Lucenko: Ruhige Wahlen werden mein Sieg sein, unabhängig davon, wer gewinnt“, in: Zerkalo Nedeli (russ. Version), Nr. 4 (784), 05. – 12.02.2010. http://www.zn.ua/1000/1550/68446/. Julija Tymoschenko erklärte in einem Fernseh-Interview im „Fünften Kanal“, in den (ex-sowjetischen) Erholungsheimen am Stadtrand von Kiew würden Schläger zur Eroberung der Macht in Bereitschaft gehalten. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), Tymošenko hat am Stadtrand von Kiew Schläger gesehen, 31.01.2010.

27 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 02.02.2010. Interfax-Ukraine, 02.02.2010.

28 Druck, Lagerung und Versand der Wahlzettel wurden auf Anordnung des Präsidenten Juščenko unter die Aufsicht des (geheimen) „Sicherheitsdienstes der Ukraine“ (Služba Bezpeky Ukrajiny) gestellt. Mit der Begründung, der Wahlkampfstab Tymošenkos plane den Druck von 1,5 Millionen Wahlzettel zu Fälschungszwecken, hatten „unbekannte“ Anhänger des Kandidaten Janukovyč – unterstützt von Mitgliedern der Fraktion der Partei der Regionen – versucht, das Gebäude zu besetzen; zuvor soll der zuständige (stellvertretende) Finanzminister den langjährigen Direktor der Firma abgesetzt haben. Umstände und Tathergang wurden durch widersprüchliche Behauptungen verdunkelt.

29 Am Tage der Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses, am 14.02.2010, blockierte ein Dutzend Mitglieder der Fraktion der Partei der Regionen den Haupteingang des Gebäudes; Journalisten konnten das Gebäude weder betreten noch verlassen. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 14.02.2010, unter Hinweis auf „Ukrainskie Novosti“.

30 Das Oberste Verwaltungsgericht ist für Entscheidungen der Zentralen Wahlkommission zuständig; das Kiewer Kreisverwaltungsgericht und das Verwaltungsberufungsgericht für Anfechtungen von Entscheidungen der Wahlkommissionen auf unteren Ebenen.

31 Der kommissarisch amtierende Minister des Inneren, Jurij Lucenko, behauptete, „seine“ Miliz sei von den Organen der Staatsanwaltschaft daran gehindert worden, am Wahltag gegen Verstöße lokaler Wahlkommissionen einzuschreiten. Ukrainskaja Prvada (russ. Version), 12.02.2010, mit Verweis auf eine Pressekonferenz der Agentur „Ukrainskie Novosti“ und „Obkom“ des gleichen Tages.

32 Ukrainskaja Pravda, UNIAN, 16.02.2010.

33 Die wichtigste Änderung war die Streichung der Vorschrift eines Quorums für die Beschlussfähigkeit der lokalen Wahlkommissionen. Diese Änderungen hatten allerdings keine Auswirkungen auf die Zusammensetzung der lokalen Wahlkommissionen, wie die IEOM konstatierte.

34 Premierministerin Julija Tymoš parierte diesen parlamentarischen Streich mit der Ernennung Lucenkos zum kommissarisch amtierenden Minister des Innern, was wiederum vom Kiewer Kreisverwaltungsgericht für unzulässig erklärt wurde.

35 Auszüge aus der Erklärung zitiert von der Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 13.02.2010: Tymošenko ne priznaet sebja pobeždennoj. Dabei zog sie die „Qualität“ der ukrainischen Gericht in Zweifel.

36 Damit spielte Julija Tymošenko darauf an, dass die Hintermänner (wie auch einige sichtbare Figuren) der Partei der Regionen von Janukovyč die Überlebenden der – im Sinne des Wortes – „mörderischen“ Auseinandersetzungen um das industrielle Erbe der untergegangenen Sowjetunion im Osten und Süden der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR) sind.

37 Besonnene Köpfe ihrer Fraktion, wie Mykola Tomenko, hatten ihr zu Anerkennung des offiziellen Wahlergebnisses geraten. M. T. (MP, BJuT) ist der Zweite Stellvertretende Vorsitzende der Verchovna Rada.

38 Im Jahre 2004 hatte sich nach 10 Jahren Kučma in der Bevölkerung moralische Empörung über dessen kriminalisiertes Regime angestaut; nach 5 Jahren „orangener Macht“ nur Verdruss.

38 Von den 15 Mitgliedern der ZWK (CVK) haben die 5 Vertreter Julija Tymošenkos das Protokoll nicht unterschrieben. Die Stellvertretende Vorsitzende der Kommission, Žanna Usenko-Černaja, erklärte, die ZWK habe u. a. mit dem Beschluss vom 14. Februar über das Wahlergebnis Gründe für eine gerichtliche Klage geliefert. Der Stellvertretende Vorsitzende der ZWK, Andrij Mahera, kritisierte die Eile, mit der die Kommission das Ergebnis bekannt gab. (Die gesetzliche Frist betrug 10 Tage.) Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 15.02.2010.

40 Ausstrahlung im „Ersten Nationalen“ (Peršyj nacional’nyj) Kanal, 22.02.2010; Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 22.02.2010.

41 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 10.02.2010 mit Verweis auf den Pressedienst des Blocks Julija Tymošenko.

42 Ukrainskaja Pravda, 12.02.2010: Der Kampf Tymošenkos in den Gerichten ändert nicht das Ergebnis.

43 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 16.02.2010. Der letzte verfassungsrechtlich vorgeschriebene Termin war der 14. März 2010 – 30 Tage nach der Verkündung des offiziellen Wahlergebnisses durch die ZWK / CVK.

44 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 17.02.2010.

45 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 18.02.2010.

46 Insgesamt umfasst das Kollegium 55 Richter. Damit wollte sie verhindern, dass die fünf Richter, die der Partei der Regionen nahe stehen, über ihre Klage befinden, wie Turčinov in einem Briefing mitteilte. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 15.02.2010, mit Verweis auf die Nachrichtenagentur UNIAN.
Auch der scheidende Präsident Juščenko mischte sich ein; er traf sich mit dem Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts, Aleksandr Pasenjuk, wie der präsidiale Pressedienst mitteilte; Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 15.02.2010.Die Übertragung der Verhandlung im Fernsehen wurde auf Antrag des Anwalts von Janukovyč nach 5 Minuten eingestellt.

47 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 16.02.2010.

48 In dessen Konflikt mit dem Stellvertretenden Vorsitzenden, Mykola Syroš, um die Leitung des Gerichts, hatte Julija Tymošenko für Syroš Partei ergriffen.

49 Eine Anschuldigung, die das Gericht zurückwies. Hätte das OVGU die Klage Julija Tymošenkos für hinreichend begründet gehalten, hätte es das von der Zentralen Wahlkommission konstatierte Wahlergebnis für ungülttig erklären und die Kommission anweisen können, die Fälschungen aufzuklären.

50 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 20.02.2010: Tymošenko otosvala isk iz suda. Interfax-Ukraine, 20.02.2010. UNIAN, 20.02.2010.

51 Interfax-Ukraine, Kiew, 20.02.2010.

52 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 26.02.2010. Manipulation der Wählerlisten (die Wahllisten werden von den örtlichen staatlichen Behörden geführt, die zu der Zeit dem Präsidenten Juščenko unterstanden), Stimmenkauf, organisierter Transport von Wählern zu den Wahllokalen und Wahlagitation während der Fahrt. Die betreffenden Wahlkommissionen weigerten sich, die Beschwerden der Vertreter Julija Tymošenko zu prüfen oder auch nur anzunehmen.

53 Die Stichwahl im Jahre 2004, nach welcher der damalige Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, Serhij Kivalov (heute Mitglied der Fraktion Partei der Regionen), den Präsidentschaftskandidat Janukovyč zum Wahlsieger erklärt hatte, war vom Obersten Gerichtshof annulliert worden. In der Verchovna Rada ließ die Fraktion der Partei der Regionen einen Entwurf zur Änderung ihrer Verordnung „Über die Auswahl der Richter des Obersten Gerichts“ registrieren, mit dem Ziel, den derzeitigen Vorsitzenden Vasilij Onopenko abzusetzen. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 01.02.2010.

54 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 16.02.2010.

55 Das heisst nicht, dass die Wähler von Viktor Janukovyč, des Präsidentschaftskandidaten des Regimes Kučma, mehrheitlich ein autoritäres Regime der Demokratie vorgezogen hätten; sie stimmten für Janukovyč, weil sie in ihm den Repräsentanten ihrer regionalen – kulturellen – Interessen sahen, konkret den Verteidiger der russischen Sprache im Osten und Süden der Ukraine.

56 Ukrainskaja Pravda (russ. Version): Tymošenko verspricht, sie werde niemals etwas mit Janukovyč zu tun haben, 03.02.2010.

57 Auf dem Hügel von Pečers’k liegen das Parlament (die Verchovna Rada), die Administration des Präsidenten und die Regierung (das „Ministerkabinett“ des Premierministers).

58 Präsident Viktor Juščenko erhielt – nach fünfjähriger Amtszeit – in der Mitte des Landes die ihm in den Meinungsumfragen vorhergesagten 3 % (in der Hauptstadt Kiew 4 %); durch die relativ hohen Stimmenanteile in drei westlichen Oblasti – zwischen 25 Prozent in der Oblast Ivano-Frankivs’k und über 30 Prozent in L’viv /Lemberg) – kam er insgesamt auf 5,5 %.

59 Zusammen erhielten die „national-demokratischen“ Präsidentschaftskandidaten im ersten Wahlgang über 40 %.

60 Joschka Fischer: Ein Wechsel, mehr nicht, in: Süddeutsche Zeitung; http://www.sueddeutsche.de/politik/635/502865/text/.

61 25 Oblasti plus die beiden Städte mit einem besonderen Status, Kiew und Sewastopol.

62 Sevastopol hat wegen der dort liegenden russischen Schwarzmeerflotte einen besonderen Status.

63 In der Orangenen Revolution hatte sich die Bevölkerung im Osten und Süden mit „ihrem“ regionalen Präsidentschaftskandidaten Janukovyč solidarisiert. In den beiden Parlamentswahlen nach der Orangenen Revolution gewann seine Partei der Regionen in allen Oblasti des Ostens und des Südens.

64 Mit Ausnahme der Oblast Dnipropetrovs’k, der Heimat von Julija Tymošenko, 63,70 , und bemerkenswerterweise in der Oblast Cherson: 59,98 %. Auf der Krim erhielt Janukovyč 78,24 %, in Sewastopol, der Marinebasis der russischen Schwarzmeerflotte, 84,35. Doneck: 90,44 %; Luhansk:
88,96 %.

65 Kiew: 25,72 %.

66 In „Galizien“ 7, 8 %; in den anderen fast ein Fünftel (in Chmelnitskij 24,94, in Volyn 14.01.) Auffallend abweichend ist das Wahlverhalten der ethnisch gemischten Bevölkerung in der Oblast „Transkarpatien“ (Zakaparttja) im äußersten Westen an der ungarisch-slowakischen Grenze.

67 L’viv (Lemberg), Ivano-Frankivs’k, Ternopil’.

68 Janukovyč gewann die Wahl eher trotz des augenfälligen Mangels an persönlicher Eignung. Sein Defizit an Allgemeinbildung läßt Patrioten um das Ansehen der Ukraine in der Welt fürchten. Während seines ersten offiziellen Besuches in Brüssel verwechselte er den Kosovo mit der Herzegowina. Sein Master’s Degree und seinen Doktortitel „erwarb“ er als Gouverneur der Oblast Doneck. Der Unterschied zwischen der schönen und klugen, charismatischen und rethorisch begnadeten Julija Tymošenko und dem hölzernen, um Worte (auch in seiner russischen „Muttersprache“) ringenden Riesen (195 cm, 115 kg) könnte größer nicht sein.

69 Der elektorale Landesteil „Osten und „Süden“ umfasst vier Oblasti im „Osten“ und die fünf an das Schwarze Meer (und Asowsche Meer) grenzenden Oblasti sowie die Autonome Republik Krim (ARK) im „Süden“. Russisch-sprachig ist die städtische Bevölkerung; auf dem Lande wird auch im Osten und Süden mehrheitlich ukrainisch gesprochen.

70 Der geographische „Norden“ zählt in dieser elektoralen Zweiteilung zur „Mitte“.

71 Der Vorsitzende einer Partei, die der „politische Arm“ oligarchischer Interessen ist, posierte im Wahlkampf als Retter der Armen. Ungeachtet der schweren wirtschaftlichen Krise setzte die Partei der Regionen in der Verchovna Rada – entgegen den Warnungen des Internationalen Währungsfonds – eine massive Erhöhung der Mindestlöhne und Renten durch. Vor der Stichwahl versprach der Präsidentschaftskandidat Janukovyč (am 27. Januar 2010), im Laufe des Jahres 2010 die Renten zu vervierfachen; Interfax-Ukraine, Zaporižžja, 29.01.2010.

72 Die Anzahl der „Pensionäre“, d. h., der Bezieher von Alterseinkünften, beträgt 13,5 Millionen – bei einer Gesamtzahl von 46 Millionen Einwohnern der Ukraine. Die Mindestrente betrug Anfang des Jahres 2010, zu Beginn der Amtszeit des neuen Präsidenten Janukovyč, 600 UAH (65 Euro) pro Monat; im Wahlkampf hatte er versprochen, diese auf 1200 UAH bis zum Beginn des Jahres 2011 zu erhöhen. Janukovyč warb nicht nur – indirekt – mit unhaltbaren Wahlversprechungen; seine Wahlhelfer kauften Stimmen auch direkt – in Dörfern Wolhyniens z. B. für 300 UAH (rund 30 EURO) das „Stück“. Das „ehrliche“ Landvolk gibt seine Stimme am Wahltag mehrheitlich seinem „Wohltäter“.

73 Mit sichtbarem Erfolg haben ihm seine amerikanischen PR-Berater die Kanten abgeschliffen. Paul J. Manafort berät Janokovič seit dem Jahre 2005. (Manafort ist Partner von Rick Davis, der den Präsidentschaftswahlkampf von Senator McCain im Jahre 2008 leitete.) Manafort wurde von Journalisten auf dem Empfang anlässlich der Inauguration des Präsidenten Janukovyč im „Ukrainischen Haus“ gesehen. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 25.02.2010.

74 In den östlichen Oblasti erzielte Tihipko zwischen 7 und 13 % – in Dnipropetrovs’k, der Heimat Julija Tymošenkos, 22 %; in den südlichen Oblasti zwischen 10 und 18 % – in Odessa 21 %. Auch Julija Tymošenko verlor im ersten Wahlgang einen Teil ihrer (früheren) Wähler in der Mitte des Landes an Tihipko – im Durchschnitt 13 %; in der Hauptstadt Kiew 19 %. In vier Oblasti des Westens erhielt Tihipko 10 % der Stimmen. In der Oblast Kiew erhielt Julija Tymoschenko in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen 12 % weniger als ihr Block in den Parlamentswahlen des Jahres 2007.

75 In den Oblasti im Westen und in der Mitte des Landes gewann er zwischen 9 und 11 % der Stimmen; besonders schmerzlich war die Einbuße in der Hauptstadt Kiew, wo er ihr 16 % der Stimmen „wegnahm“. In seiner Heimat, der Bukovina (Oblast Černivci, Tschernowitz) erhielt Jacenjuk 20 % der Stimmen.

76 Die Blitz-Karriere als Wirtschafts- und Außenminister sowie als Parlamentspräsident in drei Jahren (von 2005 bis 2008), die der im Jahre 1974 in der Bukowina (Oblast Černivci) geborene Arsenij Jacenjuk mit der Protektion von Präsident Juščenko machte, ermunterte den Aufsteiger zum großen Sprung: Noch bevor er das Wählbarkeitsalter von 35 Jahren erreichte (im Mai 2009), eröffnete er seinen (inoffiziellen) Wahlkampf um das Amt des Präsidenten. Der Volksmund heftete dem Überraschungskandidaten mit dem kindlichen Gesicht schnell das Label „kinder-sjurpriz“ an. Eine Zeit lang faszinierte das (eigentlich nicht ganz) „neue Gesicht“ das der „alten Gesichter“ überdrüssige Wahlvolk. Der unreife Jungpolitiker distanzierte sich von diesen, indem er die Verchovna Rada, der er ein Jahr lang vorsaß, als „Saustall“ verunglimpfte. Doch der zwar auffallende doch befremdliche, von russischen Beratern inspirierte militante Stil seines Wahlkampfes überzeugte die Wähler letztlich nicht. Iskander Valitov (Leitung), Timofej Sergejcev, Dmitrij Kulikov arbeiteten im Jahre 2004 für Viktor Janukovyč.

77 Ein Handicap in den Augen voreingenommener Ukrainer. Auch Präsident Juščenko bediente sich des despektierlichen Clichees „Moldavan“.

78 Vollständiger Name: Vsesojuznyj leninskij kommunističeskij sojuz molodëži (Gesamtsowjetischer Leninscher Kommunistischer Jugendbund).

79 TAS-Kommerzbank (Tigipko Anna Sergejeva), er verkaufte sie an die schwedische Swedbank – vor der globalen Finanzkrise. Sein privates Vermögen wird auf eine halbe Milliarde USD geschätzt. Die Kosten seines Wahlkampfes – nach eigenen Angaben 110 Millionen UAH – hat er zu 90 % aus der eigenen Tasche bezahlt.

80 Im Jahre 1999 ersuchte Pavel Lazarenko um „politisches Asyl“ in den USA, wo er aber wegen Geldwäsche und anderer Delikte verurteilt wurde. Bei seiner Rückkehr in die Ukraine droht ihm eine Anklage wegen mehrerer Auftragsmorde, u. a. an dem Präsidenten der Nationalbank Vadim Hetman und dem Unternehmer Jevhen Ščerban.

81 Die Partei mit dem irreführenden Namen „Werktätige Ukraine“ war eine politische Interessen-Vertretung erfolgreicher Geschäftsleute, der u.a. auch der Oligarch Viktor Pinchuk angehörte. Zu Beginn seines Wahlkampfes benannte Tihipko die – wohl nur noch im Parteiregister des Justizministeriums existente – Partei „Trudova Ukraïna“ in „Sil’na Ukrajina” um.

82 Interfax, Kiew, 26.01.2010. Nach der Stichwahl brachte er sich in einem Interview mit der Tageszeitung „Sevodnja“ (12.02.2010) in Erinnerung; ohne parlamentarische Basis aber hat seine finanzpolitische Kompetenz, derer das Land bedarf, keinen „Wert“ in den parlamentarischen Verhandlungen um die Bildung einer Mehrheit.

83 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 20.01.2010: Tymošenko gibt Tihipko ihren Sessel“.

84 Ohne ihm eine Wahlempfehlung für sich abringen zu können, erklärte Julija Tymošenko den Teilnehmern des World Economic Forum in Davos per Tele-Brücke, nach ihrer Wahl zur Präsidentin Tihipko zum Premierminister ernennen zu wollen, und zusammen mit ihm ein Programm zur Modernisierung der Ukraine zu erarbeiten. (Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 29.01.2010. Interfax-Ukraine, Cherson, 28.01.2010.)

85 Mykola Tomenko, der Zweite Stellvertretende Vorsitzende der Verchovna Rada (BJuT) behauptete dies in einer Sendung des „Fünften Kanals“. Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 21.01.2010: „Janukovyč versucht Tihipko und Jacenjuk im Tausch gegen Sitze in der Rada zu kaufen – BJuT“.

86 Interfax-Ukraine, Kiew, 18.01.2010.

87 Das „Sekretariat“ war unter Präsident Juščenko realiter ein grotesk aufgeblähter sowjetoider „Apparat“ unter ständig wechselnder Leitung.

88 „Zazdrist’” (ukr.), „Zavist“ (russ.) wird von selbstkritischen Ukrainern als nationale Untugend erkannt.

89 Der hoch angesehene Philosoph Myroslav Popovyč, Direktor des G. S. Skovorody-Instituts für Philosophie der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine, fühlte sich durch die ständige Verleumdung der Premierministerin Tymošenko gedrängt, den Präsidenten Juščenko in einem offenen Brief zu rügen.

90 Het’man: Seit dem Aufstand Bogdan Chmelnitskijs Mitte des 17. Jahrhunderts Titel des gewählten Oberhaupts des ukrainischen Kosaken-Staates „Hetmanščyna“. Präsident Juščenko suchte die nationale Identität des unabhängigen ukrainischen Staates in der – zum Teil imaginisierten – Geschichte, ohne die aktuelle Aufgabe des Aufbaus eines modernen Staates damit verbinden zu können.

91 Pressekonferenz am 12.01.2010. Präsident Juščenko spickte seine Auftritte mit absurden und invektiven Äußerungen. Aus Respekt vor dem Amt nehmen ukrainische Journalisten solche Aussagen hin, ohne (öffentlich) an Juščenkos Zurechnungsfähigkeit zu zweifeln.

92 Konzessive Gaspreise liegen im Interesse der energie-intensiven metallurgischen und chemischen Betriebe seiner oligarchischen Sponsoren. Hinter der Ankündigung einer ukrainischen Beteiligung an den russischen North- und South-Stream Projekten steckt vermutlich das Interesse Oligarchen Achmetov an der Lieferung von Rohren aus seinem Röhrenwerk in Charcyz’k.

93 “…das Gas-Transportsystem, welches staatliches Eigentum ist, ist der Schlüssel zur Energie-Unabhängigkeit des Staates; es sichert den Einfluss der Ukraine auf alle Energie-Prozesse in unserer Region, auf die Energiepolitik der Europäischen Union und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten; es ist unser strategisches Eigentum,“ sagte Tymošenko in einer Sendung des Fernseh-Kanals „Inter“. „Ich werde keine Machenschaften zulassen, keine Konsortien, keine Joint Ventures oder Leasing-Verträge irgendwelcher Art.“ Interfax, Kiew, 29.01.2010. Im Februar 2007 mobilisierte Tymošenko 430 (von 450) Stimmen für ein Gesetz, das jede Form des Transfers der ukrainischen Pipelines verbietet.

94 Ukrainskaja Pravda (russ. Version), 16.02.2010.

95 Aus Rachsucht entließ Präsident Juščenko nach dem ersten Wahlgang die Gouverneure der Oblasti Charkiv und Dnipropetrovs’k, weil sie nicht genügend Stimmen für ihn mobilisiert hatten, sowie drei Botschafter, weil sie ihrem Obersten Dienstherrn nicht einmal ihre eigenen Stimmen gegeben hatten.

96 Die staatliche Residenz, die ihm von Amts wegen zustand, wünschte er sich öffentlich von seinem Nachfolger, dem er seinerseits zu einer ansehnlichen staatlichen Immobilie verholfen hatte, als privates Eigentum überlassen.

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil II: Machtwechsel in der Ukraine

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil III: Die innenpolitische Konsequenzen

Die Wahl von Viktor Janukovyč zum Präsidenten der Ukraine – Teil IV und Schluss: Rückkehr zu bi-vektoraler Außenpolitik?

Autor:   Winfried Schneider-Deters — Wörter: 9381

Winfried Schneider-Deters
Jahrgang 1938; Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Universität Heidelberg.
1975 – 2003: Leiter von nationalen und regionalen Projekten der Friedrich-Ebert-Stiftung in Lateinamerika (Venezuela), Ostasien (Korea), Zentralasien und im Südkaukasus.
Von 1996 bis 2000: Aufbau und Leitung des „Kooperationsbüros Ukraine“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew.
Seit 2004: Freier Autor (Veröffentlichungen zur Innen- und Außenpolitik der Ukraine).

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