Je weniger Zeit bis zur Entscheidung der EU bezüglich des Assoziationsabkommens mit der Ukraine bleibt, desto offensichtlicher wird die Tatsache, dass ohne die Freilassung der ehemaligen Premier-Ministerin Julia Timoschenko für Kiew die Hoffnungen auf die Unterzeichnung des Abkommens schwinden.
Die Rechtmäßigkeit eines solchen Lösungsansatzes kann natürlich aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Der Autor dieses Textes war stets der Meinung, dass die Unterzeichnung eines Abkommens mit einem Land, das politische Opponenten der regierenden Partei als eine Art Geiseln gefangen hält, eine tatsächliche Kapitulation Europas vor der Diktatur und dem Autoritarismus und ein Schandfleck auf dem Ansehen der EU darstellen würde. Doch viele ukrainische Politiker, Journalisten und gesellschaftliche Aktivisten vertraten eine andere Sichtweise: Das Abkommen müsse in jedem Fall unterzeichnet werden, um der Administration Janukowitsch jegliche Möglichkeit auf ein politisches Manöver zu nehmen. Diese Meinung vertreten auch viele westliche Politiker, hauptsächlich jene aus dem ehemaligen sozialistischen Lager. Eigentlich interessieren sie sich weniger für die Ukraine, sondern mehr für Russland, dessen Erweiterung des Einflussbereiches sie entgegenwirken wollen. Denselben Gedankengang verfolgen auch die ukrainischen Machthaber, die andauernd versuchen, ihre westlichen Partner unter Druck zu setzen, indem sie ihnen zusichern, die Ukraine in russische Hände zu übergeben, falls der Westen ihnen nicht entgegenkommen sollte.
Die Diskussion darüber, ob die Gefängnisstrafe Timoschenkos sich auf das Assoziationsabkommen auswirken werde, verliert jeglichen Sinn, wenn man sich bewusst wird, dass ohne eben dieses „Abkommen“ ohnehin niemand etwas unterzeichnen wird. Die Ukraine kann noch lange Verhandlungen mit den EU-Staaten führen und sich an deren Kompromissbereitschaft laben, doch Deutschland vertritt eine klare Position, die Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst wieder verlauten ließ. Der Bluff über die angebliche russische Einflussnahme hat seine Wirkung inzwischen ebenfalls eingebüßt: Janukowitsch störte der harte Kurs Putins, der nicht einmal den Anschein erwecken möchte, zu etwaigen Kompromissen mit der Ukraine bereit zu sein. Deswegen muss die Frage nach der Zukunft des Assoziationsabkommens realistischer gestellt werden. Es sollte nicht darüber diskutiert werden, ob sich die Gefängnisstrafe Timoschenkos auf die europäische Integration der Ukraine auswirken könnte, sondern darüber, ob Janukowitsch bereit ist, die Oppositionsführerin freizulassen.
Bis zuletzt erschien allein die Diskussion dieser Frage wie ein Sujet aus einem Fantasy-Roman: Das Regime festigt sich von Tag zu Tag mehr, ohne ernsthaften Widerstand aus der Gesellschaft zu erfahren. Im gleichen Tempo leerte sich jedoch auch die Staatskasse. Der Hauptfeind der Regierung war nicht das ukrainische Volk, sondern die ukrainische Wirtschaft, deren Zusammenbruch ohne ausländischer Hilfe nicht zu vermeiden ist.
Wenn das in der ukrainischen Regierung nicht längst verstanden wäre, hätte es auch keine Freilassung von Jurij Luzenko1 gegeben und in der Janukowitsch-Administration wären keine Frauen als Abgeordnete zugelassen, die eine Begnadigung Julia Timoschenkos fordern. Janukowitsch versucht, den potentiellen westlichen „Rettern“ zu zeigen, dass er einer der „bösen Jungs“ ist, die sich jedoch bessern wollen. Eine andere Frage ist, wo die Grenzen dieser Verbesserung liegen? Ist unser „böser Junge“ bereit, die Geisel aus dem Verlies zu lassen oder hofft er, dass die „Erwachsenen“ seinem Wort einfach glauben?
Die Antwort auf diese Frage liegt in den Ängsten von Janukowitsch selbst. Wovor hat er mehr Angst, vor Julia Timoschenko in Freiheit oder vor der Ukraine in finanzieller Not? Wie schätzt er die Folgen ein für den Fall, dass Timoschenko die Freiheit und die Ukraine finanzielle Hilfe bekommt sowie für den Fall, dass Timoschenko im Gefängnis und die Ukraine völlig mittellos bleibt? Ich sage nun etwas Unbequemes: Im ersten Fall wären die Chancen für Janukowitsch höher, unbeschadet davonzukommen, doch er hat Angst, sich das einzugestehen. Es erscheint paradox, wie sich derzeit die Ziele der ukrainischen Regierung, der Opposition, der Zivilgesellschaft und des Westens decken. Die Regierung möchte bestehen bleiben, die Opposition ihre Anführerin aus dem Gefängnis und sich selbst aus dem Sumpf des Autoritarismus befreien, die Zivilgesellschaft strebt die Integration der Ukraine in die EU an und der Westen möchte sich die Ukraine als berechenbaren Nachbarn bewahren. Alles andere fällt bereits in der nächsten Etappe an. Und in der aktuellen Etappe muss man mit dem „ungezogenen Jungen“ zusammenarbeiten und ihn davon überzeugen, dass ihm nach der Freilassung der wichtigsten ukrainischen politischen Gefangenen nichts Schlimmes widerfahren wird und – ganz im Gegenteil – seine Probleme weniger werden.
Die EU ist bereits zu diesem Ergebnis gekommen, indem sie die Mission von Cox und Kwaśniewski verlängerte. Diese Entscheidung ist ein Beweis dafür, dass in Brüssel weiterhin an die Vernunft in Kiew geglaubt wird. Es ist nur wichtig, dass Janukowitsch diese Hoffnung nicht als Zeichen von Schwäche deutet. Vom „bösen Jungen“ wird nun erwartet, dass er das Verlies öffnet.
1 Jurij Luzenko (geb. 1964 in Riwne) ist ein ukrainischer Politiker, der von 02/2005 bis 12/2006 und 12/2007 bis 01/2010 Innenminister der Ukraine war. Wegen des Vorwurfs, Staatsvermögen unterschlagen und Amtsmissbrauch verübt zu haben, wurde Luzenko im Dezember 2010 verhaftet. Im April 2013 wurde er von Janukowitsch begnadigt und aus der Haft entlassen. Luzenko selbst sieht seine Verhaftung als politisch motiviert an, da er der politischen Opposition angehört.
20. April 2013 // Witalij Portnikow, Chefredakteur und Fernsehmoderator des Senders TVi
Quelle: LB.ua
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