Gestern hat das Gericht des Kiewer Stadtteils Petschersk den ehemaligen Innenminister, Jurij Luzenko, zu vier Jahren Freiheitsentzug unter Beschlagnahmung seines Eigentum verurteilt und verpflichtete ihn ebenfalls dem Staat einen Schaden in Höhe von 642.000 Hrywnja (ca. 60.000 Euro) zu ersetzen. Unter Einbeziehung der bereits 14 in Haft verbrachten Monate, wird der Ex-Minister für zwei Jahre und 10 Monate aus dem aktiven politischen Leben herausgehalten. Übrigens beabsichtigen die Anwälte von Luzenko das Urteil anzufechten. Die Internationale Gemeinschaft verurteilte die Entscheidung des Gerichts und bezeichnete sie als „außerordentlich drakonisch“.
An der Verkündung des Urteils über den ehemaligen Leiter des Innenministeriums, Jurij Luzenko, Interessierte begannen sich gegen 7 Uhr morgens beim Gebäude des Gerichts des Kiewer Stadtbezirks Petschersk zu versammeln. Im Verlaufe einer Stunde bildete sich dabei eine Schlange von 200 Personen. Neben Journalisten, Parlamentsabgeordneten, Vertretern des diplomatischen Korps waren auch einfache Parteimitglieder von der „Nationalen Selbstverteidigung“ mit Plakaten „Hinweg mit der Bande!“ und „Freiheit für Jurij Luzenko“ anwesend. Von Zeit zu Zeit riefen sie „Freiheit für Jura!“, dabei mit einer mitgebrachten Glocke läutend.
Der nicht sehr große Sitzungssaal füllte sich schnell mit Leuten. Der Platzmangel wirkte sich sogleich auf die Atmosphäre aus. Jurij Luzenko musste sich sogar in den Streit zwischen den Fernseh- und Fotoreportern einmischen, die unterschiedliche Presseorgane repräsentierten. „Leute beruhigt euch, ihr werdet mich heute den ganzen Tag aufnehmen können!“, beschwichtigte er die konfligierenden Seiten.
Punkt 9.00 Uhr eröffnete der vorsitzende Richter Sergej Wowk die Sitzung. Er begann sofort mit der Verlesung des Strafurteils, jedoch machte er dies so schnell und leise, dass es unmöglich war die Worte auseinanderzuhalten. Als klar wurde, dass Sergej Wowk nicht den Entscheidungsteil, sondern den Motivationsteil verlas, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Pressevertreter auf Jurij Luzenko. „Schauen Sie“, rief er den Journalisten zu, dabei auf den durch die Reihen drängenden Mitarbeiter der Generalstaatsanwaltschaft weisend. „Loban (Dmitrj Loban) ist gekommen. Und er hat sich verspätet: er ist und bleibt ein Tölpel!“
Im Verlaufe der Sitzung ließ der Ex-Minister mehrfach derartige Äußerungen ab. Zur der Zeit, wo die Richter der Reihe nach das Urteil verlasen, versuchte Luzenko auf jede Art das Gespräch mit seinen politischen Mitstreitern aufrechtzuerhalten.
„Hallo!“, rief er dem im Saal auftauchenden Ersten Stellvertreter der Vorsitzenden der Partei „Batkiwschtschyna/Vaterland“, Alexander Turtschinow zu. „Was denkst du, kann man mit dem allen irgendetwas anfangen?“
„Es ist möglich“, antwortete Turtschinow nach einer kleineren Pause. „Wenn hier hunderttausend sein werden!“
„Oles, nun, wann ist euer Treffen mit dem Präsidenten?“, fragte Jurij Luzenko den Parlamentsabgeordneten Oles Donij („Unsere Ukraine – Nationale Selbstverteidigung“). Zur Erinnerung: in der letzten Woche forderte die parlamentarische Opposition ein Treffen mit dem Staatsoberhaupt, um mit ihm unter anderem die Frage der Freilassung der politischen Gefangenen zu diskutieren (siehe gestrige Ausgabe des “Kommersant-Ukraine”).
„Ich denke, dass das nur Senja (der Parlamentsabgeordnete Arsenij Jazenjuk) weiß“, antwortete Oles Donij laut, dabei mit den Schultern zuckend.
Von Zeit zu Zeit wurden von der Straße Rufe der Anhänger von Jurij Luzenko herangetragen: „Wowk – auf der Gefängnispritsche!“ Das verbesserte die Laune des Ex-Ministers.
„Was beunruhigt Sie derzeit am meisten?“, fragten ihn Journalisten.
„Nun, es ist wie immer: Die Generalstaatsanwaltschaft, die Schwiegermutter und der Hund“, witzelte Luzenko.
Je monotoner die Verlesung des Urteils wurde, um so stärker wurde die Versammlung vor den Mauern des Gerichts. Den herangetragenen Äußerungen nach wurde die Veranstaltungsleitung vollständig von Vertretern der Parlamentsfraktion „BJuT-Batkiwschtschyna/Block Julia Timoschenko – Vaterland“ übernommen. „Wowk ist wie Rodion Kirejew (der Richter des Petschersker Stadtbezirksgericht, der Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko zu sieben Jahren Freiheitsentzug verurteilte), der Janukowitsch schrieb: ‘Meine Mutter ist krank, geben Sie mir bitte Arbeit!’ Jetzt ist er gegenüber dem verbrecherischen Regime vollständig in der Pflicht!“, rief der Abgeordnete Jurij Otscharenko ins Megaphon.
Im Gegenzug fing die Menge zu singen an: „Auf zum letzten Gefecht! Die Internationale erkämpft das Menschenrecht!“
„Igor sind das deine, die da singen?“, fragte Jurij Luzenko mit sichtlichem Erstaunen den Leiter der Kiewer Stadtorganisation von UNA-UNSO (Ukrainische Nationalversammlung – Ukrainische Nationale Selbstverteidigung), Igor Masur.
„Nein, meine kennen derartige Worte nicht“, antwortete dieser mit einem Lächeln.
Die Gespräche mit den im Saal anwesenden Politikern und Journalisten hinderten den ehemaligen Leiter des Innenministeriums nicht daran mit seinen Anwälten, Alexej Baganez und Igor Fomin und ebenfalls mit der zivilen Verteidigerin, seiner Frau Irina, zu kommunizieren. Möglicherweise um seine Nervosität nicht zu zeigen, füllte der Ex-Minister die kurzen Pausen mit dem Lesen des Buchs von Adam Michnik „Auf der Suche nach der Freiheit“. Sobald jedoch ein Journalist ihm eine Frage stellte, legte er das Buch beiseite. „Ich denke, dass dieses Urteil so sein wird, wie es gesagt wurde (die Anklage forderte vom Gericht den Ex-Minister zu 4,5 Jahren Freiheitsentzug und Konfiszierung des Eigentums zu verurteilen)“, sagte er während der nächsten Pause.
Sechs Stunden nach Beginn der Sitzung fing Richterin Oksana Zarewitsch mit der Verkündung des Entscheidungsteils des Urteils an. Jedoch lief etwas bei den Richtern nicht geplant ab. Verkündend, dass Jurij Luzenko dem Staat Verluste in Höhe von 643 Tausend Hrywnja erstatten soll und ihm ebenfalls sein erster Rang als Staatsdiener entzogen wird, schwieg Zarewitsch auf einmal. Aufgelöst auf Sergej Wowk blickend, reichte sie ihm den Papierstapel mit dem Urteil herüber. „Nun?“, konnten sich die Anwesenden nicht zurückhalten, jedoch Wowk antwortete nichts und verließ sich kurz mit den Kollegen beratend, gemeinsam mit ihnen schweigend den Gerichtssaal. „Wahrscheinlich standen im Urteil nur Punkte“, eilte sich Jurij Luzenko die Situation zu kommentieren. „Sie haben einfach vergessen die Frist einzutragen!“
Nach einigen Minuten kehrte das Richterkollegium übrigens in den Saal zurück und Wowk verkündete das Urteil – vier Jahre Freiheitsentzug unter Einziehung des Eigentums und dem Verbot im Verlaufe von drei Jahren leitende Posten zu bekleiden. Das Gericht hat die Zeit angerechnet, die von Jurij Luzenko im Lukjanowkaer Untersuchungsgefängnis seit dem 27. Dezember 2010 verbracht wurde. Derart beträgt die übrige Frist zwei Jahre und zehn Monate.
„Ich dachte, danach ertönt: lieber Wiktor Fjodorowitsch (Janukowitsch), wie gratulieren Ihnen zur zweiten Amtseinführung“, kommentierte Jurij Luzenko die Entscheidung des Gerichts. Seine Anhänger nahmen das Urteil weitaus emotionaler auf. Insbesondere begann die Mehrheit der Anwesenden „Schande!“ zu skandieren und die Milizangehörigen versuchten die im Korridor stehenden Parlamentsabgeordneten zur Treppe abzudrängen, um Jurij Luzenko ungehindert aus dem Raum zu führen. Zwischen ihnen entsponn sich ein kürzeres Handgemenge.
„Wir erkennen dieses Urteil nicht an, da es unlogisch ist und unbekannt worauf es basiert – mit dem gleichen Erfolg hätte man es eine Woche nach Beginn der ersten Gerichtssitzung in dieser Sache verkünden können“, erklärte Alexej Baganez Journalisten bereits auf der Straße. Wiktor Klimenko, der Vertreter der staatlichen Anklage, erklärte seinerseits, dass er den Urteilsspruch für gerecht hält. „Das Urteil des Petschersker Gerichts ist in erster Linie mit Beweisen begründet worden, die im Verlaufe der gerichtlichen Ermittlungen gewonnen wurden“, unterstrich er. „Ich bin überzeugt davon, dass das heutige Urteil unsere Gesellschaft besser macht, da jeder begreifen wird, was die Ernennung auf hohe staatliche Posten bedeutet – es ist in erster Linie die persönliche Verantwortung für die eigenen Handlungen“. Danach bewarfen die Anhänger Jurij Luzenkos den Staatsanwalt mit Schneebällen und er musste sich in das Gerichtsgebäude zurückziehen.
Die Entscheidung in der Sache Jurij Luzenko rief eine Verurteilung in der internationalen Öffentlichkeit hervor. Der Leiter der Delegation des Europaparlaments in Fragen der Zusammenarbeit mit der Ukraine, Pawel Kowal (Polen) bezeichnete das Urteil als „außerordentlich drakonisch“. „Das Urteil ist dahingehend bemerkenswert, da es keine Anzeichen von Korruption gab“, betonte der Europaabgeordnete. Großbritannien und Polen verurteilten die politisch motivierte Rechtssprechung in der Ukraine und die Europäische Union veröffentlichte eine gemeinsame Erklärung des Europakommissars für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik und der Leiterin des außenpolitischen Dienstes der EU, Catherine Ashton: „Wir sind vom Urteilsspruch für Luzenko enttäuscht, der bedeutet, dass in der Ukraine Gerichtsprozesse fortgesetzt werden, die nicht den internationalen Standards einer fairen, transparenten und unabhängigen Rechtssprechung entsprechen“.
Walerij Kutscherk
Wessen wurde Jurij Luzenko beschuldigt
„Aneignung von staatlichem Eigentum in besonders großem Ausmaße über den Missbrauch der dienstlichen Position nach Absprache mit einer Personengruppe“ (Absatz 5 des Paragraphen 191 des Strafgesetzbuches, wird mit Freiheitsentzug zwischen sieben und zwölf Jahren bestraft). Gemäß der Anklageschrift, zeigte sich das in der ungesetzlichen Einstellung des Fahrers Leonid Pristupljuk in der Abteilung Einsatzdienstes des Innenministeriums, der Bereitstellung einer Wohnung außerhalb der Reihe und einer gesetzeswidrigen Rentenanrechnung aus.
„Überschreitung der Amtsvollmachten mit besonders schweren Folgen“ (Absatz 3 des Artikels 365 des Strafgesetzbuches, wird mit Freiheitsentzug zwischen sieben und zehn Jahren bestraft). Gemäß der Anklageschrift zeigte sich das in dem Verstoß gegen die Regierungsanordnung „Zur Einsparung von Budgetmitteln, die für den Unterhalt der Organe der Staatsmacht und anderer staatlicher Organe vorgesehen sind“ bei der Feier des Tages der Miliz in den Jahren 2008 und 2009 aus.
Olga Kurischko
Quelle: Kommersant-Ukraine
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„Ich sage ja, Opfer in jeder Hinsicht. Sogar der billigsten ukrainischen und westlichen Propaganda.“
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