OK!

Diese Website setzt Cookies für personalisierte Werbung und statistische Zwecke ein und es werden Daten zeitweilig gespeichert. Mehr Informationen zum Datenschutz

FacebookXVKontakteTelegramWhatsAppViber

Wir brauchen eine neue Ostpolitik

0 Kommentare

In Berlin gilt nach wie vor der Grundsatz “Russia first”. Diese Sichtweise ist falsch – die Ukraine muss mehr Aufmerksamkeit bekommen.

Die teils dramatischen Entwicklungen in den drei ostslawischen Staaten Europas – Russland, der Ukraine und Weißrussland – in den vergangenen Jahren machen deutlich, dass sich die deutsche Sicht auf Osteuropa ändern muss. Zwar wird die Russische Föderation wegen ihrer geo-, militär- und energiepolitischen Macht im Zentrum der Aufmerksamkeit bleiben. Da deutsches Engagement im Osten aber auf der Vision eines demokratisch geeinten Europas beruht, ist unsere bisherige übermäßige Fixierung auf Russland historisch und politisch fragwürdig geworden. Die russischen Machtstrukturen haben sich in den vergangenen zehn Jahren hin zu einem innenpolitisch autoritären und außenpolitisch revanchistischen Regime gewandelt. Das verändert die gesamtpolitische Situation in Osteuropa grundlegend. Über die Grenzen der russischen Scheinföderation hinaus fördert Moskau antidemokratische Tendenzen im postsowjetischen Raum. Wladimir Putin hat mit seiner Ende 2011 verkündeten Formel einer “Eurasischen Union” die künftigen Ambitionen des Kremls auf dem ehemaligen Territorium der UdSSR zum Ausdruck gebracht. Schon heute gibt es ein Junktim zwischen dem von Moskau geforderten Eintritt der Ukraine in die russisch-weißrussisch-kasachische Zollunion und einer Neufestlegung der überhöhten ukrainischen Preise für russisches Erdgas. Die bisherige Bevorzugung Russlands in der deutschen Außenpolitik ist überholt.

Im Lichte der neuen Konstellationen ist vielmehr eine Art “neue Ostpolitik” Berlins notwendig, die eine hohe Aufmerksamkeit für Russland mit der nachhaltigen Sorge um Zwischeneuropa, allen voran die Ukraine, kombiniert. Solche Gedanken sind schon geraume Zeit in Berlin zu hören. Sie sind bereits vor Jahren angesichts der politischen Regressionen in Russland aktuell geworden und haben auch in einer Reihe von politischen und analytischen Texten Ausdruck gefunden. In den vergangenen Jahren galt jedoch trotz der neuen Gegebenheiten in Moskau und ihrer lautstarken Verurteilung in deutschen Medien in der praktischen Umsetzung deutscher Außenpolitik nach wie vor eine Art “Russia first“Politik. Dies lässt sich an den Besuchs und Empfangsterminplänen der verschiedenen Bundesregierungen sowie vieler regierungsnaher deutscher Organisationen des vergangenen Jahrzehnts leicht ablesen. Die erhöhte Aufmerksamkeit für die Ukraine etwa während und unmittelbar nach der Revolution in Orange Ende 2004 kam derjenigen für Russland nie auch nur nahe und hatte, wenn überhaupt, lediglich beschränkte oder verspätete Auswirkungen auf die deutsche Außenpolitik.

Deutsche Politiker, Diplomaten, Beamte und Experten betonen bei ihren Besuchen in Kiew unentwegt die Zugehörigkeit der Ukraine zu Europa. Eine Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine gibt es aber bis heute nicht, und Deutschland trägt einen Teil der Verantwortung hierfür. Die im Vergleich zu anderen EU-Staaten – wie Großbritannien oder Polen – konservative Position Deutschlands in dieser Frage ist nicht nur vor dem Hintergrund der Millionen ukrainischen Opfer deutscher Besatzung 1941 bis 1944 befremdlich. Die politikwissenschaftliche Europa-Forschung hat inzwischen ausführlich nachgewiesen, welch hohe Bedeutung eine explizite EU-Beitrittsoption für die erfolgreiche Umwandlung der mittelosteuropäischen postkommunistischen Transformationsstaaten schon Jahre vor deren Aufnahme in die Union 2004 oder 2007 hatte. Zudem ist vor kurzem mit der Türkei als offiziellem EU-Kandidaten mit unklarer Zukunft ein Präzedenzfall geschaffen worden, bei dem der Automatismus zwischen einer Beitrittsoption und einer tatsächlichen Aufnahme in die EU aufgehoben scheint. Die Türkei hat seit 1963 eine offizielle Mitgliedschaftsperspektive; bis heute ist jedoch offen, ob sie je in die EU eintreten wird.

Daher ist unverständlich, warum solche vollständig in Europa gelegenen Länder wie die Ukraine oder Moldau nicht zumindest eine unverbindliche und mit Auflagen verknüpfte Beitrittsoption für die ferne Zukunft bekommen. Für viele westliche Beobachter mögen Fragen nach einem eventuellen EU-Beitritt der Ukraine in 15, 20 oder 25 Jahren heute irrelevant erscheinen. Für die meisten Ukrainer hingegen ist die fortgesetzte Verweigerung der Mitgliedschaftsperspektive – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der EU-Kandidatur der Türkei – Ausdruck westeuropäischer Missachtung ihrer Nation und von deren Zugehörigkeit zu Europa.

Die ukrainischen Regierungsmannschaften der vergangenen zwanzig Jahre machten aus unterschiedlichen Gründen eine stärkere deutsche Parteinahme für die Ukraine nicht eben einfach. In der Zeit zwischen 2005 und 2010 waren die bizarren Machtkämpfe zwischen Präsident Juschtschenko und seinen Ministerpräsidenten Timoschenko und Janukowitsch ein Hindernis. Seit dem Amtsantritt von Janukowitsch als Präsident im Februar 2010 ist das zunehmende Untergraben der ohnedies schwachen demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen zum Hauptproblem der Beziehungen der Ukraine zum Westen geworden.

Jedoch ist das Ausmaß der autoritären Tendenzen in der Ukraine immer noch geringer als in den meisten anderen postsowjetischen Staaten. Außerdem war die ukrainische Geschichte der vergangenen zwei Jahrzehnte wechselhafter als etwa diejenige Russlands oder Weißrusslands. Sie schloss sowohl demokratische als auch regressive Wellen ein und lässt vermuten, dass das Pendel sich bald wieder in die andere Richtung bewegt.

Der russische Autoritarismus – und damit auch sein weißrussischer Wurmfortsatz – dürfte für viele Jahre fortbestehen. Putins Macht stützt sich auf eine immer noch hohe Beliebtheit im weiten Land, auf den nur langsam versiegenden Strom der Öl- und Gas-Dollarmilliarden und auf die Loyalität eines wenn nötig brutalen Sicherheitsapparates. Der ukrainischen Paradiktatur dagegen fehlen diese Grundfesten: der Präsident wird von den meisten Ukrainern belächelt, verspottet oder gehasst, der Staat ist de facto bankrott, und dem ukrainischen Sicherheitsdienst fehlt der KGB-Korpsgeist des russischen FSB. Eine Destabilisierung von Janukowitschs Semiautoritarismus scheint somit nur eine Frage der Zeit zu sein. Im Lichte früherer Erfahrungen ist allerdings offen, wie flexibel Deutschland und andere einflussreiche EU-Mitglieder wie Frankreich oder Italien bezüglich der Ukraine in Zukunft sein werden. Wie werden diese Staaten reagieren, sollte sich tatsächlich – wie 2005 nach der Revolution in Orange – die Chance für eine neue substantielle Annäherung an Kiew eröffnen? Wird Berlin sich bei Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens der EU mit der Ukraine im November dieses Jahres stärker Kiew zuwenden? Wird Deutschland eine EU-Mitgliedschaftsperspektive für die Ukraine unterstützen, um sicherzustellen, dass das Assoziierungsabkommen tatsächlich implementiert wird? Oder wird Berlin an seiner Fixierung auf Moskau festhalten?

In der Ukraine lautet ein Argument, das Skeptiker oder Gegner einer ukrainischen EU-Annäherung immer wieder vorbringen, dass das Verhalten des Westens gegenüber der Ukraine von Desinteresse, Verhaltenheit oder Kälte geprägt sei. Der Hauptgrund für westliche Distanziertheit liegt zwar im Gebaren Kiews selbst. Doch ist in der Tat nicht zu leugnen, dass das Engagement des Westens für die Ukraine sich in den vergangenen zwanzig Jahren meist auf der rhetorischen Ebene bewegte oder sich auf Entwicklungshilfe beschränkte. Einschneidende Schritte und eine langfristige Strategie ließ sich nie erkennen.

Sich als “realpolitisch” verstehende Skepsis, historische Vorurteile und bürokratische Trägheit seitens der EU und ihrer Mitglieder sind nur sekundäre Faktoren für die stockende europäische Integration Osteuropas und insbesondere der Ukraine. Der Hauptgrund für die mangelhafte westliche, darunter auch deutsche, Diskussion um die Grundlagen, Ziele und Mittel europäischer Ukraine-Politik ist der niedrige Stellenwert, den das Land im öffentlichen Diskurs der EU-Mitgliedstaaten hat.

Dabei ist offensichtlich, dass die Ukraine für die EU nicht nur eine regionale, sondern auch eine geostrategische Bedeutung hat. Einerseits würde ein vom Westen unterstützter neuer Demokratisierungs-Schub in Kiew auf die anderen ehemaligen Sowjetrepubliken ausstrahlen. Andererseits könnten ein Misslingen des ukrainischen Staatsbildungsprozesses und eine in diesem Fall wahrscheinliche Intervention Moskaus, etwa auf der Krim, die gesamte nach Ende des Kalten Krieges entstandene europäische Sicherheitsarchitektur erschüttern.

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Im Dienste der Förderung von Sicherheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im ganzen postsowjetischen Raum wäre ein stärkeres politisches sowie ökonomisches – und nicht nur diplomatisches und kulturelles – Engagement Deutschlands bezüglich Zwischeneuropas eine sinnvolle Investition. Die politischen Voraussetzungen für einen Erfolg solcher Initiativen sind bislang in keinem der Länder der Ostpartnerschaft der EU ideal. In Weißrussland und Aserbaidschan gibt es sie so gut wie nicht. Allerdings kann jenen Staaten, die – wie etwa die Ukraine – ausdrücklich eine Integration in die EU anstreben, schon heute Unterstützung dabei gewährt werden, ihre Souveränität gegenüber den russischen Hegemonialansprüchen zu sichern und ihre wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen zu modernisieren.

Der Text erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, am 09.06.2013, Nr. 23, S. 11

Autor:    — Wörter: 1288

Dr. Andreas Umland (1967) ist seit 2010 Dozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Bluesky, Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und täglich oder wöchentlich per E-Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 5.7/7 (bei 11 abgegebenen Bewertungen)

Neueste Beiträge

Aktuelle Umfrage

Werden die von Trump eingeleiteten Friedensgespräche erfolgreich sein?
Interview

zum Ergebnis
Frühere Umfragen
Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)16 °C  Ushhorod21 °C  
Lwiw (Lemberg)18 °C  Iwano-Frankiwsk19 °C  
Rachiw18 °C  Jassinja18 °C  
Ternopil18 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)21 °C  
Luzk16 °C  Riwne16 °C  
Chmelnyzkyj18 °C  Winnyzja20 °C  
Schytomyr16 °C  Tschernihiw (Tschernigow)13 °C  
Tscherkassy16 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)22 °C  
Poltawa16 °C  Sumy12 °C  
Odessa18 °C  Mykolajiw (Nikolajew)23 °C  
Cherson22 °C  Charkiw (Charkow)19 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)22 °C  Saporischschja (Saporoschje)23 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)21 °C  Donezk21 °C  
Luhansk (Lugansk)21 °C  Simferopol18 °C  
Sewastopol15 °C  Jalta16 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“

„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“

„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“

„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“

„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“

„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“

„Möchte morgen über Nacht in die Ukraine fahren und plane die Ankunft an der Grenze sehr früh am Morgen. Fahre entweder über Polen oder ggf. über Tschechien, je nachdem was google maps empfiehlt. Normalerweise...“

„Das ist ein simples D-Visum, wie man es auch in Deutschland für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung braucht. Man benötigt dazu keine Mindestaufenthaltszeit. Auch bei der Aufenthaltserlaubnis...“

„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“

„"Warum verlangt die PKP von den Fahrgästen solch einen Preis ?" - Weil sie es können ... Die Nachfrage dürfte weiter hoch sein und weil es keine vergleichbaren Alternativen gibt (Buslinien über Nacht...“

„Die Polnische Staatseisenbahn PKP Intercity S.A. erhöhte für den Schlafwagen-Zug D 68 am 1. Februar 2025 die Fahrpreise um + 38 Prozent. : Vom Warschauer Ostbahnhof fährt abends um 17.49 Uhr der Schlafwagen-Zug...“

„Hallo. Meine Ex-Frau ist schon über 22 Jahre in Deutschland. Jetzt benötigt sie einen Termin für das Konsulat. Aber es werden nur Termine über Diia vergeben. Kann uns jemand erklären wie das genau...“

„Hallo..... Ich benötige nochmals euer Schwarmwissen.... Bin seit Dezember letzten Jahres in der Ukraine verheiratet worden Jetzt meine Frage.....ich habe auf der Seite der ukrainischen Botschaft einen...“