Ich erinnere mich klar an diesen kalten, grauen Tag. Im Wohntrakt kam aus dem Quarantäne-Zimmer ein neuer Gefangener. Sein aschfahl-grünes Gesicht gab ihm so etwas ernsthaft Ungesundes. Ich ging zu ihm und stellte mich vor. Er sagte: “Auch ich bin aus Kiew, Journalist, Walerij Martschenko.“ Es stellte sich heraus, dass wir in Kiew nicht weit voneinander entfernt gewohnt hatten, benachbarte Schulen besuchten. Wir fanden sogar einen gemeinsamen Bekannten, Jewgenij Radomskij. Aber wir selbst hatten uns nie getroffen.
Nach ein, zwei Tagen bat mich unser inoffizieller Anführer Iwan Alexejewitsch Switlitschnyj [Iwan Olexijowytsch Switlytschnyj], Walerij näher kennenzulernen, seine Gemütsverfassung herauszufühlen. Mir gefiel dieser junge Mann, fast mein Jahrgang. Er wuchs in einer typischen Kiewer Intelligenz-Familie auf, las viel, wurde für die Autorenschaft zweier „antisowjetischer Texte“ verhaftet. Im Unterschied zu mir kannte er sich wenig mit Samisdat [zu Sowjetzeiten an der Zensur vorbei verbreitete Untergrundschriften, A.d.R.] aus, „atmete“ aber die gleiche Luft der Ablehnung der sowjetischen Lügen. Vor dem Arrest arbeitet er in der [Zeitschrift] „Literaturna Ukrajina“ [„Literarische Ukraine“].
Irgendwann nach ein oder zwei Wochen schlug Iwan Alexejewitsch in meinem Beisein Walerij vor sein journalistisches Schaffen fortzusetzen, hier im Lager, so zu schreiben, wie es das Herz befiehlt. Walerij war verwirrt. Switlitschnyj erklärte: „Sie schreiben und wir werden Ihre Artikel zur Veröffentlichung an den Samisdat übermitteln. Und in den Westen. Sie werden der Autor aller möglichen „feindlichen Stimmen“ sein.“
Walerij stellte taktisch keine Fragen, wie Switlitschnyj seine Texte in die Freiheit übergeben wollte, stimmte aber dem Vorschlag zu.
Klug, ironisch und mit scharfer Sprache trat Walerij in den Kreis der „Eingeweihten“ ein. Er unterhielt sich lange mit den Alten, zu 25 Jahren Verurteilten, dann schrieb er biografische Essays über sie. Unsere Lager-Schreiber (Gorbal, Kalynjez, Schowkowyj und andere) übertrugen seine Texte in kleinen kalligraphischen Handschriften auf hauchdünnes Papier für Elektrokondensatoren. Ich wickelte diese Papierstreifen in für den Versand vorbereitete Kapseln. Die Kapseln brachten nach dem jährlichen Wiedersehen Walerijs Mama Nina Michajlowna, Leonida Pawlowna Switlytschnaja und andere in ihrem Körper aus dem Lager. Dank Walerij verblieben in der Geschichte vorher in der weiten Welt namenlose alte Soldaten der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA) Dmytro Bassarab, Wassyl Pidgorodezkij, Anton Olijnyk, Olexa Kisselyk, Stepan Mamtschur.
Einmal rief unser Lager-KGB-Mann Hauptmann Utyro Walerij zum Gespräch. Er fragte direkt, höflich, ohne zu drohen: „Über wen schreiben Sie gerade, Walerij Wenjaminowitsch, wessen verbales Porträt bereiten Sie vor?“ Walerij, der nicht auf diese seltsame Diskussion eingehen wollte, antwortete mit einem leichten Lächeln: „Aber was denken Sie, Bürger Vorgesetzter, mit sowas beschäftige ich mich nicht.“ Aber Utyro fuhr fort: „Glauben Sie nicht, dass ich dies aus operativen Gründen gefragt habe. Ihre Texte werden veröffentlicht, werden von verschiedenen „Golos“ [russisch für Stimme, gemeint sind Sender wie Voice of America usw., die ins Gebiet der Sowjetunion sendeten, A.d.R.] verlesen. Ich frage Sie das nur aus dem einzigen Grund, vorher zu wissen, wofür mir die Moskauer Führung diesmal den Kopf abreißt!“
Das war eine Anerkennung, Walerij war glücklich. In diesen Tagen schrieb er gerade über das bittere Leben des Miron Simtschitsch.
Wir schonten Walerij, wo wir konnten. Er litt an einer chronischen Nierenerkrankung. Nur ein oder zweimal nahm er mit uns an einem kurzen Hungerstreik teil. Selbstverständlich war unter den Lagerbedingungen weder von Untersuchung, wenigstens einer oberflächlichen, noch von einer Behandlung jemals die Rede. Er las und schrieb viel. Jedes der Treffen mit seiner Mutter, Nina Michajlowna, wurde von der Übergabe von Informationen über unser Leben begleitet. Einmal war Walerij unvorsichtig (sprach laut das Wort „papir“ aus), und ins Besuchszimmer drängten Offiziere und Fähnriche. Irgendjemand ukrainisch-sprachiges musste dem Besuch der Mutter gelauscht haben. Zum Glück fand man unsere Kapseln mit Informationen nicht (Sie waren da!). Wir hatten Glück, sie fanden Geld, das Nina Michajlowna heimlich ihrem Sohn geben wollte. Das Mutterherz… In unserem, von KGB-Offizieren kontrollierten Lager, hatte der Besitz von Geld keinen Sinn. Fuchsteufelswild warf Major Fjodorow, der die Durchsuchung leitete, mit den eigenen Händen den Plastikbehälter mit unseren Kapseln, bedeckt mit den von Nina Michajlowna mitgebrachten getrockneten Beeren, direkt in ihre Tasche. Einige Wochen später platzten der Samisdat und „Golos“ fast vor Informationen aus unserem Lager. Nina Michajlowna erfüllte auch dieses Mal die Bitte ihres Sohnes.
Walerij Martschenko mit seiner Mutter NinaWalerij wurde nach Kasachstan überstellt. In ein kleines Dorf, in dem außer ihm die hierher verbannten Verbrecher lebten und die Ortsansässigen bestahlen. Nina Michajlowna reiste zu ihrem Sohn, wenn es Sachlage und Geld erlaubten. Einmal hielt sie vor einem auf einer Bank vor dem Haus sitzenden alten Kasachen an. Er sagte überraschend: „Du kannst stolz auf deinen Sohn sein!“
Dann kam Kiew. Immer noch das sowjetische Kiew. Walerij wollte, wie wir ehemaligen Lagerinsassen alle, sehr gern weggehen. Wohin auch immer. Hauptsache für immer die Heimat des siegreichen Sozialismus verlassen. Das war damals unmöglich. Wir waren in Kontakt, hier in Kiew, tauschten uns heimlich aus. Wir beide wussten, dass wir unter ständiger Beobachtung des KGB stehen, waren immer zum Sprung bereit. Aber Walerij und ich hörten nicht zu schreiben auf. Ich schrieb im „Stol“ aber Walerij entschloss sich zu einem unvorsichtigen Schritt. Er übergab zwei seiner Texte in den Westen. Der Informationsabfluss erfolgte wahrscheinlich im Büro von Radio Liberty/Swoboda in Deutschland. Das ist meine Vermutung. Genaue Informationen kann unser geschickter Verhandlungsführer, KGB-General Jewgenij Kirillowitsch Martschuk, geben. [Martschuk ist einer der ukrainischen Unterhändler in Minsk bei den Verhandlungen mit den ostukrainischen Separatisten A.d.R.]
Walerij wurde verhaftet. Als Richter Subez das Urteil verlas, konnte sich Walerij kaum auf den Beinen halten und hielt sich an der Absperrung fest, die ihn vom Saal trennte., dabei ironisch ausrufend: „Ziemlich viel. Es hätte auch weniger sein können. Zehn Jahre lebe ich nicht mehr.“ Vor dem Gerichtsgebäude standen kein Dratsch, kein Pawlytschko, kein Dsjuba und auch keine anderen geheimen Patrioten. Niemand außer drei Juden, die Walerij näher kannten und liebten.
Er starb an Urämie/Harnvergiftung im Gefängniskrankenhaus in Leningrad. Nina Michajlowna kämpfte mit aller mütterlichen Kraft für die Befreiung des Sohnes. Nach Jahren bereitete sie ein schreckliches Buch vor und veröffentlichte es: „Listi do materi s newoli“ (Briefe an die Mutter aus der Gefangenschaft). Das Buch sollte heute massenhaft herausgegeben und an Schüler der höheren Klassen verteilt werden, zur moralischen Immunisierung.
Ich weiß, dass dafür kein Geld da ist. Nicht bei Achmetow, nicht bei Firtasch, nicht bei Poroschenko. Alles geht für die Wahlen drauf… Die Körper verstorbener politischer Gefangener übergab die sowjetische Führung nicht den Familien. Man vergrub sie in der Nähe des Gefängnisses, ohne Familie und Freunde, unter einer Nummer, ohne Namen. Nina Michajlowna erreichte das Unglaubliche, sie erhielt die Genehmigung ihren Sohn in der Heimat zu begraben. Der Chef des ukrainischen KGB Fedortschuk war kategorisch dagegen, aber Moskau befahl es. Die Beerdigung war schaurig. Ich habe in meinen Erinnerungen an Walerij darüber geschrieben.
Einmal, schon in postsowjetischer Zeit, stifteten wir jährlich eine Prämie im Namen Walerij Martschenkos, für Journalisten. Aber nach einigen Jahren sah ich, die Journalisten brauchten das nicht. Die Prämie starb. Aber ich wünsche mir sehr, dass das Gedenken an meinen Freund in diesem Land lebt. Er hat das verdient.
Walerij Martschenko „Cherchez la femme“, Ural, 1976
Sehr geehrter Herr Redakteur!
Ich tue diesen Schritt nicht aus irgendeiner Gefühlsregung heraus, und nicht aus Durst nach Neuem. Zur Veröffentlichung einer Kontaktanzeige regte mich ein Artikel in der Moscow News (Nr. 32 im Jahr 1976) an, in dem schwarz auf weiß das Recht jedes Bürgers der UdSSR aufgezeigt wird, eine Ehe mit Bürgern aus jedem beliebigen Land einzugehen.
Selbstverständlich kann man aus der Erklärung in der sowjetischen Zeitung den Schluss ziehen, dass auch die Wahl des Wohnortes vollständig in der Entscheidung des Ehepaars liegt. Ich möchte nicht in diesem Land leben. Deshalb wende ich mich an die Frauen der Welt mit meinem Gebet: Aus der Tiefe rufe ich. Ich schlage Ihnen folgenden Text vor: 39-jähriger Braunhaariger mit überdurchschnittlicher Größe, gebildet, nicht dumm, ohne große Ansprüche, sucht eine Freundin fürs Leben mit dem Ziel der Familiengründung. Alter, Größe, Hautfarbe und soziale Lage sind ohne Bedeutung. Ich kann eine Nähmaschine bedienen, Geschirr abwaschen, Böden wischen, Wäsche waschen, Ofen und Kessel heizen, beim Holzeinschlag arbeiten, Bücher schreiben und musizieren. Ich kann, wie die Hausfrau sagt, aus nichts ein Essen kochen (Lagerschleim, garniert mit Brennnessel und Wegerich nannten die Jungs Mittagessen). Kurz gesagt, wenn meine Küche nicht gefällt, können wir auch in die Kantine des Rathauses gehen. Ich verpflichte mich, ohne Pause auf die Kinder aufzupassen. Und wenn ein gelähmtes Großmütterchen mit Eiterbeulen den Wunsch verspürt, mit mir den Bund der Ehe einzugehen, bin ich bereit mich rund um die Uhr um sie zu kümmern. Die Peitsche anderer Familien – Szenen und Eifersucht – sind nicht möglich aus dem Grund, dass man mich im Falle einer Scheidung in die Sowjetunion abschieben kann. Ich bin einverstanden mit einer blinden, beinlosen, leprakranken italienischen Kommunistin ohne das Recht auf Scheidung. Und wenn ich vom Poeten den Konjunktiv übernehmen darf: Sei er auch ein Neger in hohem Alter! Meine Adresse für Verhandlungen und Mitteilungen: Moskau, Einrichtung 5110-1-WS. Ich habe alles oben Geschriebene aufmerksam gelesen und gedacht, dass die KGB-Leute mich nach dieser Anzeige vielleicht aus der UdSSR rauslassen, mich aber in jedem Fall sterilisieren. Der Klassenkampf hat eben seine Methoden. Was soll‘s, dann muss man eben ausschließlich auf die seelische Seite des Ehelebens hoffen.
In Liebe. Der besonders gefährliche Staatsverbrecher Walerij Martschenko
Dieser Text von Walerij wurde in eben diesem Jahr 1976 in einer europäischen Zeitung veröffentlicht. Und in der „Chronik aktueller Ereignisse“ der UdSSR. So einer war mein Freund.
8. Oktober 2018 // Semjon Glusman, Dissident, Psychiater
Quelle: Lewyj Bereg
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