Die heutige Demonstration (am 17. Oktober) von ukrainischen Oppositionellen kann, wenn sie friedlich, ohne Provokationen, Verletzte und Todesopfer abläuft – als eine der ersten in die Geschichte eingehen, bei der realisierbare Forderungen gestellt werden. Hier haben wir den überraschenden Fall, dass die Forderungen der Opposition mit den Versprechen der Machthaber übereinstimmen und im Fall ihrer Umsetzung niemand verliert. Die Regierungskoalition wird konstatieren, dass sie ihre Versprechen erfüllt hat, die Opposition, dass die Machthaber ihren Forderungen entgegengekommen sind. Natürlich kann man sagen, dass das Ziel der Opposition überhaupt nicht in der Umsetzung ihrer Forderungen besteht, sondern in der Demonstration selbst, in der Zahl der Leute vor der Rada und schließlich in vorgezogenen Parlamentswahlen, die für eine Reihe politischer Kräfte zur letzten Chance und für gesellschaftliche Aktivisten, die diese Kräfte unterstützen, zur ausgezeichneten Gelegenheit werden könnten, Zugang zur großen Politik zu bekommen, zu „echtem“ Geld und zu Ressourcen, sodass sie diejenigen, mit denen sie noch vor Kurzem auf dem Majdan gemeinsam kämpften, zurückdrängen.
Nichtsdestoweniger ist die Tatsache, dass gerade diese Forderungen gestellt werden, ein Indikator dafür, dass niemand mehr das Risiko eingehen will, den Ukrainern Unmögliches zu versprechen, irgendetwas, das im Fall der Umsetzung zu schneller und erkennbarer Verbesserung der sozialen Situation im Land führen würde. Und da die Ukraine keine Chance hat, in den nächsten Jahren und sogar Jahrzehnten zu einem Deutschland oder wenigstens Polen zu werden, bleibt nur, den Bürgern Mechanismen vorzuschlagen statt der sozialen Almosen der Vergangenheit, ein paar Tausend Hrywnja oder so.
Gerade deshalb will man sich um die Mechanismen kümmern. Am beliebtesten und für die Bevölkerung am verständlichsten ist die Forderung, die parlamentarische Immunität abzuschaffen. Nicht zufällig hat Präsident Pjotr Poroschenko das Gesetz zur Abschaffung der Immunität gerade am Tag der oppositionellen Demonstration vorgelegt und für unaufschiebbar erklärt. Seit vielen Jahren unterstützt die Bevölkerung diese Forderung, seit vielen Jahren gibt es diesbezüglich politische Versprechen, was der beste Hinweis auf den Konkurs der politischen Kultur, auf die Degradierung der ukrainischen Öffentlichkeit und das Fehlen realer Perspektiven auf ihre Umbildung in Form von grundlegenden Strukturreformen ist, welche die Gesellschaft korrupter Habenichtse in eine Gesellschaft ehrlicher Eigentümer verwandeln würden.
Hinter den Forderungen nach der Abschaffung der parlamentarischen Immunität verbirgt sich die mangelnde Anerkennung der Abgeordneten als Volksvertreter. Die römische Plebs lachte laut, als zu Zeiten des Imperiums die abgeschlagenen Köpfe von Senatoren durch die Straßen der „ewigen Stadt“ getragen wurden. Dafür gab es nur einen Grund: die Plebs hat die Senatoren nicht gewählt, aber die Imperatoren, die den Senat dazu gebracht hatten, sie zur Beschimpfung auszuliefern, galten zugleich als Volkstribunen, also als nominelle Vertreter gerade dieser Plebs.
Die Abschaffung des Immunitätsgesetzes ist der direkte Weg von der Republik zur Alleinherrschaft nach römischem Vorbild, wenn das Parlament nur noch die vom „Tribun“ vorgelegten Gesetze abstempelt und Kollegen dem Staatsoberhaupt und der aufgeregten Menge zur Abstrafung ausliefert. Die Ukrainer fühlen sich nicht verantwortlich für die Abgeordneten, für die sie stimmen, weil parteiinterne Machthaber diese Deputierten vorauswählen, weil es überhaupt kein Vertrauen in die gesetzgebenden Instanzen gibt, weil das Parlament als Ansammlung von Reichen oder von Leuten gesehen wird, die nur eine Chance auf Bereicherung suchen. Der Präsident dagegen wird als von jedem persönlich gewählt angesehen, weshalb von seinen Handlungen auch so viel erwartet wird.
Pjotr Poroschenkos Popularität ist gerade deswegen problematisch, weil das existierende System immer noch, wenn auch in immer geringerem Umfang, die Möglichkeiten des Präsidenten einschränkt. Aber je mehr Möglichkeiten das Staatsoberhaupt haben wird – wenn nicht dieses, dann das nächste –, desto größer ist die Chance auf volksgestützten Autoritarismus.
Das Gesetz zur Abschaffung der Immunität führt zu solchem Autoritarismus, mindestens zu einem Autoritarismus nach ungarischem Vorbild.
Ich weiß nicht, ob man erklären muss, dass das bestehende Gerichtswesen bis zu seiner Reformierung und zum Umdenken bei den am Spiel Beteiligten ein mächtiger Hebel zur politischen Einwirkung auf Konkurrenten und Andersdenkende ist. Aber das Wichtigste ist, dass die Abschaffung der Immunität und die dauernde Möglichkeit, Abgeordnete zu Angeklagten zu machen (zumindest bis zum Moment der vollen Ergebenheit des Parlaments gegenüber der gegenwärtigen Regierung), keine Verbesserung der Lebensumstände bringt. Wie schon im alten Rom wird das Vermögen der Verlierer an die siegreichen Aristokraten verteilt und nicht an die applaudierenden Plebejer.
Die nächste Forderung ist auch vollkommen logisch und wird möglicherweise schon in Kürze umgesetzt, nämlich die Schaffung eines Antikorruptionsgerichts. Die Befürworter der Einrichtung dieser für die Ukraine neuen Struktur erwarten höhere Effektivität im Kampf gegen Korruption. Und das ist verständlich: ein unabhängiges Antikorruptionsgericht kann wesentlich effektiver als das alte Gerichtswesen Verfahren untersuchen, die von neuen Antikorruptionsstrukturen eingeleitet werden.
Aber das ist die Logik des Vakuums. Das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) ist in seiner jetzigen Form die politische Verlängerung der Kräfte, die sich heute vor der Rada zur Demonstration versammeln (mit der Verbesserung, dass es Konsultationen mit der Regierung vornimmt, aber auch die Opposition steht permanent in Konsultation mit dem Büro, und Michail Saakaschwili selbst war noch vor Kurzem das wichtigste Instrument der Präsidentenadministration bei der Führungskonsolidierung).
Das Antikorruptionsgericht kann die ihm zugeschriebene Rolle nur spielen, wenn es wiederum zur „Verlängerung“ des NABU wird. Und wenn nicht? Die Spezialisierte Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAP) ist keine Verlängerung, sondern eine Konkurrentin des NABU. Und im besten Fall wird das Antikorruptionsgericht zur Konkurrenz für das NABU, im schlechtesten wird es zu seinem direkten Gegner und zum Whistleblower, noch dazu mit dem Vertrauen der Gesellschaft. Was denn, ihr habt es doch selbst so gewollt, der Westen hat es gefordert, und jetzt wollt ihr ihm nicht vertrauen!
Am wichtigsten ist, dass das Gericht „jünger“ als das NABU sein wird, und die Ukrainer lieben alles, was neu und nicht kompromittiert ist. Wenn sich heute das NABU an die normalen Gerichte wendet, sprechen diejenigen, die dem Büro nichts Gutes wünschen, von der Abhängigkeit der Gerichte vom NABU, und die Anhänger sprechen von der Abhängigkeit der Gerichte von den Clans und dadurch lässt sich noch einige Zeit die Illusion aufrechterhalten, das System sei effektiv und ermögliche den Kampf gegen die Korruption im Staat. Die Einrichtung eines Antikorruptionsgerichts kann zum letzten Nagel im Sarg dieses Kampfes werden. Nicht, dass es dann keinen Kampf gegen die Korruption mehr gäbe, aber das öffentliche Interesse an ihm wird sinken. Und der Kampf wird weitergehen, die neuen Antikorruptionsstrukturen werden am Ende einfach in die alte Clan-Vertikale inkorporiert werden. Zumal jetzt sogar die Abgeordneten „entkulakisiert“ werden können, dadurch wandert das Vermögen im Kreis und man kann immer interessierte Klienten zufriedenstellen.
Schließlich sind da noch die Wahlen mit offenen Listen. Eine bemerkenswerte Forderung, ich war immer für die Wahl mit offenen Listen, sogar schon, als noch niemand daran dachte. Das ist aber deswegen so, weil ich seit Jahrzehnten das europäische Politiksystem beobachte und verstehe, wie sich die Dinge dort verhalten. Ich habe den Verdacht, dass ein Großteil meiner Mitbürger nicht so genau weiß, worum es eigentlich geht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang immer an die Soldaten, die von den Dekabristen auf den Senatsplatz gebracht wurden, um eine gewisse Konstitution zu verteidigen, und die braven Jungs, von denen viele aus unseren Gebieten kamen, dachten, das wäre der Vorname der Frau des „guten Zaren“.
Ich beginne damit, dass wir nicht wissen, welches Modell der Wahl mit offenen Listen genommen wird, es gibt nämlich viele. Allen gemeinsam ist aber, dass die Partei eine Liste vorschlägt und Sie für sie stimmen. Sie stimmen ab und wählen diejenigen, die Ihnen gefallen, und streichen die, die Ihnen nicht gefallen.
Und als Ergebnis sieht die Deputiertenliste nicht so aus, wie die Parteiversammlung sie erstellt hat, sondern so, wie die Wähler der Partei sie sehen wollen.
Dazu müssen die ukrainischen Wähler aber wirklich wissen, für wen sie, abgesehen vom Parteichef, stimmen. Sie müssen die Ansichten derer teilen, für die sie stimmen, und verstehen, wodurch sich diese Ansichten vom innerparteilichen Kampf unterscheiden. Denn, stellen Sie sich nur vor, in der zivilisierten Welt gibt es keinen „demokratischen Zentralismus“, da kämpft immer jeder gegen jeden, darunter auch gegen die Regierungsinstitutionen. Und die Wähler schätzen Politiker für eine eigene Meinung – wenn diese mit ihrer eigenen übereinstimmt. Und da stellt sich die Frage: für wen stimmen die Wähler? Wen kennen sie noch außer ein paar Talking Heads aus dem Fernseher? Die erdrückende Mehrheit der Abgeordneten tritt nicht im Fernsehen auf, gibt keine Interviews, und gerade diese stille Mehrheit hat gute Aussichten, mit jeder, ich unterstreiche, mit jeder Liste wiedergewählt zu werden. Der eine mag, der andere verabscheut Timoschenko, Leschtschenko, Ljowotschkin, Najem, Sementschenko, Parasjuk, aber wen interessiert der Kollektivabgeordnete Pupkin?
Ja und natürlich wollen die Wähler in den Regionen niemanden von der Liste streichen, der ihnen den Bau von Kindergärten oder Krankenhäusern verspricht. Andererseits aber werden sich die Leute, die so etwas bauen können, nach der Abschaffung der Immunität kaum noch für ein Mandat interessieren und ihr Geld weniger auf den Bau von Kindergärten verwenden als vielmehr auf die Abgeordneten selbst, wodurch die Fraktionen zu Söldnerarmeen werden. Das ist einfach effektiver.
Dabei muss ich noch einmal unterstreichen, dass am Wahlsystem mit offenen Listen selbst nichts Schlechtes ist, es geht einfach von einem Grad politischer Kultur voraus, den wir früher oder später erreichen werden. Und dann wird dieses System funktionieren.
Als ich an diesem Artikel arbeitete, habe ich einfach die Forderungen der Opposition in die Suchmaschine eingegeben. Und der erste Artikel zu diesen Forderungen bestätigte, dass die drei verbreitetsten Themen im Vorwahlgeplänkel in der Ukraine die Abschaffung der parlamentarischen Immunität, die Verbesserung des Lebens „schon heute“ und offene Wahllisten waren. Diese Themen werden von einer politischen Generation an die nächste weitergegeben, und jedes davon spekuliert je nach Mutigkeit des Sprechers auf das Wählervertrauen und seine fehlende Aufklärung in einigen Fragen.
Aber dieser Artikel ist überhaupt nicht gegen die heutige Demonstration gerichtet. Er erschien noch vor dem Majdan im April 2012 in der Zeitung „Der Tag“ (Den). Und besser als alles andere zeigt er, wie wenig sich in der ukrainischen Politik und in der Zivilgesellschaft geändert hat. Nur der Kampf gegen die Korruption ist zum Synonym der „Verbesserung des Lebens“ geworden, aber selbst das ist nicht neu.
Was sich vor allem nicht ändert, ist, dass die Menschen behandelt werden wie Aquariumsfische, die man mit Versprechen füttern muss. Und diese Versprechen sind nicht unbedingt leer, es will einfach niemand so ehrlich sein und sagen, dass institutionelle Veränderungen keine schnelle Verbesserung des Lebensstandards bringen, sondern den Bürgern nur die Möglichkeiten für eigene Initiativen schaffen, in der Wirtschaft wie in der Politik. Dass diese institutionellen Veränderungen für jeden Einzelnen maximale Verantwortung voraussetzen. Weil eben die Bürger ihre Regierung wählen. Gerade ihr Vertrauen oder fehlendes Vertrauen in die Regierungskräfte macht die staatlichen Institutionen arbeitsfähig oder lähmt sie. Gerade von der Achtung oder Miss-Achtung der Gesetze und Institutionen durch die Bürger hängt ihre eigene Zukunft ab.
Wenn man das nicht versteht, wird das Land unweigerlich in Richtung Autoritarismus gehen. Nicht nur der freiheitliche Geist hat die Ukraine vor dem Autoritarismus bewahrt, sondern auch die Konkurrenz zweier politischer Projekte, grob gesagt des prowestlichen, ukrainischen und des prorussischen, kleinrussischen. Nach 2014 wurde das kleinrussische Projekt schwächer und kann nicht mit dem ukrainischen konkurrieren, zumindest bis zur Wiedererlangung der besetzten Gebiete. Gerade deswegen ist die Stärkung der autoritären Richtung im Rahmen des siegreichen ukrainischen Projekts so wahrscheinlich wie nie. Die einzige Schutzvorrichtung vor diesem Projekt ist der Westen. Aber der Westen konnte schon innerhalb der EU weder Orbán in Ungarn noch Kaczyński in Polen oder Fico in der Slowakei verhindern.
Und gegen die Entwicklung hin zu einer autoritären Ukraine, in deren Fallen die politische Elite des neuen Landes, vorläufig geteilt in Regierung und Opposition, die Ukrainer lockt, hat auch der Westen kein Gegengift.
17. Oktober 2017 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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