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Die ersten Feuer der Euroskepsis - Die Liebe der Ukrainer zum Populismus stimmt Nationalisten optimistisch

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Es ist heute allen klar, dass die Eurointegration kein Gang über den roten Teppich ist, sondern ein dorniger Weg des Ausprobierens. Da sind das Eindämmen der russischen Aggression und die Notwendigkeit, den Staat von der Wurzel her zu reformieren, noch bei weitem nicht die einzigen Schwierigkeiten auf diesem Weg. In dem Maße, in dem sich die Ukraine der EU annähert, wird sie mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählt auch die Formierung einer inneren Opposition, die die Eurointegration sabotiert. Während früher hauptsächlich prorussische Parteien zu den Gegnern zählten, so geht die euroskeptische Flagge jetzt in die Hände der ukrainischen Nationalisten über.

Das alte Lied

Die aktive Teilnahme der ukrainischen Nationalisten am Euromajdan war ein Resultat der situativen Vereinigung regimekritischer Kräfte. Das liberale Publikum glaubte, dass Janukowytschs Sturz der Ukraine den Weg in die EU öffnet, doch die Nationalisten machten währenddessen ihre eigene Revolution – eine nationale, versteht sich. Während sich Erstere europäische Werte auf die Fahne schrieben, fuhren Letztere ein ausschließlich nationalistisches Programm: das prorussische Regime abschaffen, das aufständische Volk anführen und eine „Große Ukraine“ aufbauen.

Sobald der Majdan dem Ende zuging, begann der Konsens zwischen Liberalen und Nationalisten zu bröckeln. Die russische Einmischung in den Donbass ließ den anwachsenden Konflikt zunächst einfrieren, da Putin zum Hauptfeind der Nationalisten wurde und die Ansprüche an die neue Regierung in den Hintergrund rückten. Die inzwischen mehr oder weniger stabile Waffenruhe an der Front bringt die Nationalisten dazu, sich an ihr Parteiprogramm zu erinnern und den politischen Olymp erneut zu stürmen. Hier treffen wir auch unsere alten Bekannten wieder – die Euroskeptiker, bereit, gegen die Eurointegration anzutreten.

So geht es im Programm der Ukrainischen Vereinigung „Swoboda“ um „europäischen Ukrainozentrismus“, das heißt, um die Wiedergeburt der GUAM (Partnerschaft mit Georgien, Aserbaidschan und Moldawien) und den Ausbau einer Ostsee-Schwarzmeer-Union. Von Eurointegration nicht ein Wort. An dieser Stelle lohnt es sich, an die einstige politische Romanze der „Swoboda“ mit dem französischen „Front National“ zu erinnern und an die Teilnahme an der Allianz europäischer nationaler Bewegungen. Mit den westlichen Euroskeptikern hatte sich die „Swoboda“ genau dann zerstritten, als diese einstimmig die Annexion der Krim unterstützten.

Die Anführer des „Rechten Sektors“ (Prawyj Sektor A.d.Ü.) drücken sich noch offener aus. „Die Ukraine ist nicht verpflichtet in die Europäische Union einzutreten“ lesen wir im Programm der Partei. Nach Meinung der Ideologen des Rechten Sektors liegt der „natürliche Wachstumsraum der Ukraine“ in Mittel-Osteuropa, von Finnland und Estland bis Aserbaidschan und Albanien. Gegen den Eintritt der Ukraine in die EU plädierte auch Dmytro Jarosch mehrfach, der sich jetzt eine eigenständige politische Karriere aufbaut. Seiner Meinung nach würde eine EU-Mitgliedschaft die Ukraine in ihrer Souveränität einschränken und dazu führen, dass ihr Werte vorgeschrieben würden, die sie nicht vertrete.

Skeptische oder gar offen negative Einstellungen gegenüber der EU demonstrieren auch andere nationalistische Gruppierungen. Ein zentraler Punkt ist für sie die Nicht-Anerkennung liberaler Werte und der Wunsch, nationale Souveränität nicht für überstaatliche Strukturen „aufzugeben“. Als Alternativen bieten die Nationalisten an, eigene geopolitische Projekte zu erschaffen, in denen die Ukraine den Status des Leader-Landes haben wird. Währenddessen richten die Ideologen der Nationalisten sehr viel mehr Aufmerksamkeit auf die Kritik an der „sich zersetzenden EU“, welche an „Tolerastie“ (Toleranz+Päderastie; A.d.Ü.) leidet.

Aufklärungskampf

Aus dieser Perspektive wird verständlich, dass der „Bund gegen Migration“ in Jahotyn, der Marsch gegen die „Narrenfreiheit der Ausländer“ in Iwano-Frankiwsk, die Auflösung des LGBT-Festivals in Lwiw und einige andere Vorfälle alles miteinander Versuche der Nationalisten sind, eine neue politische Nische und Zuhörerschaft für sich zu finden. In allen Fällen nutzen sie unverkennbar die Rhetorik der westlichen Euroskeptiker. Auf der Internetseite der Gruppierung, die für die LGBT-Auflösung verantwortlich war, findet man zum Beispiel reichlich Material über das „Ende der EU“, die „Homointegration“ etc.

All das haben wir bereits aus den Mündern der Befürworter der Zollunion (auch Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft aus derzeit Belarus, Russland, Kasachstan, Armenien und Kirgistan, A.d.R.) gehört, als sie die Ukrainer mit dem „Euro-Sodom“ erschreckten und den Untergang Europas prophezeiten. Das prorussische Lager dagegen ist heute zerstört und diskreditiert. Doch Euroskepsis im patriotischen Gewand kann durchaus Anhänger finden. Beginnen wir damit, dass lediglich 50 Prozent der Ukrainer positive Erwartungen an die Eurointegration haben – diese Daten veröffentlichten Soziologen im November 2015. Negative Erwartungen haben demnach 26 Prozent der Ukrainer, 24 Prozent enthielten sich.

Die Verbreitung von Euroskepsis ist in dieser Situation nur eine Frage der politischen Professionalität, wie wir erst kürzlich in Iwano-Frankiwsk und Jahotyn gesehen haben. In Iwano-Frankiwsk wurde ein Zwischenfall mit Beteiligung zweier ausländischer Studenten, die ein einheimisches Mädchen vergewaltigt haben sollen, ausschlaggebend für eine Massenaktion der Rechtsradikalen. „Wir stehen jetzt am Rande dessen, was in Europa passiert. Wenn wir darauf nichts erwidern, erwartet uns das Schicksal der europäischen Staaten“, fasste einer der Aktivisten zusammen. Einen ähnlichen Anlass nutzten die Nationalisten auch in Jahotyn aus. Ihretwegen verwandelte sich die Eröffnung einer vorübergehenden Flüchtlingsunterkunft für 200 Personen in einen Skandal und die Stadtbewohner erschraken darüber, dass man ihre Stadt zugunsten Europas in ein islamisches Ghetto umwandelt. Und schließlich wurde der Skandal in Lwiw zum wahren Geschenk für die Euroskeptiker, denn er erlaubte daran zu erinnern, dass wir zusammen mit einem visafreien Regime ein „Euro-Sodom“ bekommen und die „Legalisierung von Normabweichungen“.

Die Kraft der Enttäuschung

Die Ukrainer mit syrischen Flüchtlingen und Homosexuellen zu erschrecken ist nicht so einfach – die Mehrheit der Bevölkerung lässt sich von solchen Fragen nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen haben die Nationalisten eine viel wertvollere Ressource in der Hand: die Enttäuschung der Ukrainer vom prowestlichen Flügel der Außenpolitik. Die Vertiefung der Wirtschaftskrise und die massenhafte Verarmung der Bevölkerung befeuern euroskeptische Stimmungen stärker als alle Migranten und Homosexuellen zusammen.

Außerdem sind einige Illusionen bezüglich der EU-Mitgliedschaft einfach zum Scheitern verurteilt. So erwartet sich die Mehrheit der Eurooptimisten von der Eurointegration offene Grenzen, die Erhöhung des Lebensstandards und freien Zugang zu Bildung und Arbeit in der EU. Allerdings gibt es keinerlei Garantie, dass solche Fantasien Realität werden, geschweige denn zum erwarteten Termin. Im besseren Fall ist das eine Frage von fünf bis zehn Jahren, „europäische Gehälter“ jedoch verspricht von vornherein keiner.

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Wenn eine Enttäuschungswelle die Illusionen der Gesellschaft unter sich begräbt, beginnt eine Sternstunde für Nationalisten und Euroskeptiker. Indem sie sich an unzufriedene Bevölkerungsschichten wenden, bekommen sie die Chance, den Eingang in die große Politik zu finden, den sie nach dem Euromajdan verpasst hatten. Bedenkt man die katastrophal schlechten Umfragewerte der aktuellen Regierung und die Liebe der Ukrainer zum Populismus, sehen die Nationalisten mit Optimismus in die Zukunft. Welche Folgen das jedoch für die Ukraine hat, bleibt eine offene Frage.

6. April 2016 // Hryhoryj Schwez

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Annegret Becker — Wörter: 1097

Annegret Becker hat Slawistik und Linguistik, insbesondere Ukrainisch und Tschechisch, in Greifswald studiert. Sie übersetzt vor allem journalistische, historische und Sachtexte aus dem Ukrainischen.

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