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Totgeborenes Recht

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Mir macht Putin keine Angst. Mich beängstigen vielmehr die vergleichsweise jungen Menschen, die sich an die Tribüne des ukrainischen Parlaments drängen. Sie sind schlecht ausgebildet und unendlich zynisch und erlauben sich das, was ein bekannter russischer Jurist Anfang des 20. Jahrhunderts einmal als das Schaffen eines toten Rechts bezeichnet hatte – das heißt das Schaffen von nicht lebensfähigen, nicht realisierbaren rechtlichen Normen, über die der junge Karl Marx einmal in aller Deutlichkeit schrieb: „Tendenzgesetze, Gesetze, die keine objektiven Normen geben, sind Gesetze des Terrorismus.“
Demonstration für die LustrationDemonstration für die Lustration

1972 wurde ich nach Paragraf 62 des Strafgesetzbuches der USSR wegen „anti-sowjetischer Agitation und Propaganda“ verurteilt. Das in der heutigen Ukraine geschaffene Lustrationsgesetz ist ein typisches totes Recht, das keine objektiven Normen beinhaltet – wie auch der leider namenhafte Paragraf 62.

Bei uns herrschen amoralische Staatsorgane – das betrifft die Legislative genauso wie die Exekutive. Und bei uns herrscht ein amoralisches Gerichtswesen, das auf rigorose Weise auf Unterwerfung und merkantile Anreize getrimmt worden ist. Aber auch wir, die sogenannten gewöhnlichen Ukrainer, stimmen mit all diesen unseren Zweigen der Staatsorgane überein.

In jedem Land darf es nur ein Rechtssystem geben, in dem gleichzeitig unterschiedliche Moralvorstellungen existieren dürfen, die wiederum mit den sozialen Differenzierungen innerhalb der Bevölkerung übereinstimmen sollten. Man sollte meinen, dass das eine selbstverständliche, banale Tatsache ist. Insbesondere im Hinblick auf ein Land, indem mehrere Generationen von Menschen eine Hochschulausbildung bekommen (von der Turnausbildung bis hin zur theoretischen Physik) und es gelernt haben, dass die sogenannte marxistisch-leninistische Klassenmoral wichtiger und federführender sei, als die allgemein-menschliche Moral.

Hier in der Ukraine befinden sich Recht und Moral noch immer in derselben sowjetischen Klassenbeziehung. Das Lustrationsgesetz ist dafür ein leuchtendes Beispiel. Das Verfälschen von Urteilen im rechtlichen Sinne birgt eine unermessliche Gefahr – ein Mensch, der ein schweres Vergehen verübt hat, muss ins Gefängnis und nicht vor ein Lustrationsgericht (Komitee, Kommission oder was auch immer). Und noch ein weiteres Beispiel für die Mangelhaftigkeit: Die Ursünde der Ukraine soll während der Präsidentschaftsepoche Janukowitschs begangen worden sein! Die vorherigen Präsidenten sollen ohne jeden Zweifel so etwas wie Heilige gewesen sein, die nun rigoros und zuverlässig aus der Verdachtszone ausgeschlossen werden.

Ich erlaube mir ein weiteres Zitat vom jungen Marx anzubringen: „In einem gesetzlosen Herrschaftssystem kann es keine gesetzmäßigen Handlungen geben.“ Unsere Gesetzgeber, die gerade dem Verbot von totalitären Symbolen zugestimmt haben, lehnen es kategorisch ab, sich daran zu erinnern, dass sich auch bereits bei Stalin und Hitler eine durchaus logische und konkrete Gesetzgebung herausgebildet hat, die es ihnen erlaubt hat, Millionen von unschuldigen Menschen hinzurichten. Das ist ein ziemlich gewagter Vergleich? Ich glaube nicht. Die Logik der gesetzgebenden Entscheidungen (und besonders der Vorschläge) ist in der gegenwärtigen Ukraine eben diese – von der Rechtstheorie, die in zivilisierten Ländern seit 200 Jahren gilt, wird abgewichen.

Unser Land ist ein sehr merkwürdiges. Unser erster Präsident, der in der Epoche der anti-dissidentischen Repressionen eine steile Karriere in der KPdSU gemacht hat, sagt uns, was wir unter Gewissen und Weisheit zu verstehen haben; unser Zweiter, der, um seine dritte Amtszeit zu sichern, unser Land fast an die Grenze des Bürgerkriegs gebracht hatte, führt erfolglose Gespräche mit russischen Politikern; unser Dritter, der schlimmste von allen, klagt lautstark darüber, dass sich der aktuelle Präsident nicht von ihm beraten lässt… Und dann gibt es noch den Vierten, der feige aus seinem Land geflüchtet ist, der uns einfach nicht ausstehen kann. Er hasst uns, wie ein schwacher Mensch einen starken und erfolgreichen Menschen nur hassen kann. Nun kommt auch noch diese miserable und unlogische Lustration dazu, die genauso ist, wie unser Gesetzgeber, der es kategorisch ablehnt, einen zivilisierten Rechtsstaat zu errichten.

27. April 2015 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Maria Ugoljew — Wörter: 601

Maria Ugoljew ist freischaffende Journalistin und Übersetzerin. Sie hat erst Slawistik, Kunstgeschichte sowie Musikwissenschaft in Greifswald und Brno studiert und dann bei einer Lokalzeitung volontiert. Heute lebt sie in Berlin.

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