Beim Versuch das Land 2015 vor dem Staatsbankrott zu retten, gab die damalige Regierung Wertpapiere aus, deren Ausschüttungen vom Wirtschaftswachstum abhängen. Je höher das Bruttoinlandsprodukt [BIP], um so mehr muss die Ukraine zahlen. Was bedeutet das heute und wie kann es die Staatsfinanzen beeinflussen? Vor fünf Jahren tat Kyjiw [Kiew] so, als ob es drei Hasen auf einen Streich erlegt habe. Wenigstens sagten es die damalige Finanzministerin Natalija Jaresko und Ministerpräsidentin Arsenij Jazenjuk so.
Im Krisenjahr 2015 gelang es der Ukraine den Wert der Schulden zu senken und die Verkündung des Staatsbankrotts zu vermeiden. Jaresko führte schwierige Verhandlungen mit ausländischen Investoren durch, im Ergebnis dessen wurde ein sogenannter Haircut vereinbart – die Verringerung von direkten und garantierten Staatsschulden um 20 Prozent oder 3,6 Milliarden US-Dollar.
Das Finanzministerium erklärte, dass diese Vereinbarung einen dreifachen Effekt habe.
Erstens, gelang es im System der Staatsfinanzen dank der Stundung der Schuldzahlungen 15,3 Milliarden US-Dollar freizumachen.
Zweitens, gelang es die Staatsschuld auf 71 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.
Drittens, der Finanzierungsbedarf des Budgets in den Jahren 2019-2025 werde niedriger und überschreite zehn bis zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht.
Parallel dazu gab die Ukraine besondere Wertpapiere aus – Instrumente erneuerten Werts oder BIP-Warrants [VRI; value recovery instruments; GDP-linked bonds – an das Wirtschaftswachstum gekoppelte Anleihen]
Das war das „Bonbon“ für die Investoren, die 20 Prozent ihrer Einlage infolge der Abschreibung verloren. Die Rentabilität der Warrants wurde an die Werte des Bruttoinlandsprodukts der Ukraine geknüpft. Ihr Wirkungsprinzip sieht so aus: je höher das Bruttoinlandsprodukt, um so mehr erhalten die Investoren in der Zukunft. Und die Zukunft tritt bereits recht bald ein.
Den Restrukturisierungsbedingungen nach könnten die Zahlungen nach den VRI ab 2021 beginnen, doch der Wert des Bruttoinlandsprodukts, von dem das abhängt ist der Entwicklungswert der Wirtschaft von zwei Jahren vorher, vom Jahre 2019. Diese Ziffer veröffentlicht das Statistikamt im Frühling 2020.
Die Ekonomitschna Prawda hat analyisiert, wie die Zahlungen der Ukraine aussehen könnten und ob das ihren Haushalt erdrückt.
Zurück in die Vergangenheit oder worauf sich Jaresko einigte
Jaresko hat den Posten der Finanzministerin im Dezember 2014 erhalten. Das war das Jahr, als die Wirtschaft um 6,8 Prozent fiel und die Staatsschuld 1,1 Billionen Hrywnja oder beinahe 73 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichte. In der Regierung war die Stimmung äußerst pessimistisch. Am Horizont tauchte der Staatsbankrott auf.
Nach einigen Monaten begann Jaresko langwierige Verhandlungen mit dem Spezialausschuss der Kreditgeber über die Restrukturierung der Schuldverschreibungen des Staates.
Spezialausschuss der Kreditgeber: eine Struktur der Vertreter der Halter ukrainischer Staatsanleihen, welche von der Restrukturierung betroffen waren. Zum Ausschuss gehörten Franklin Advisors Inc., BTG Pactual Europe LLP, TCW Investment Management Company und T.Rowe PriceAssociates Inc.
Die Verhandlungen dauerten länger als ein halbes Jahr und waren schwierig. Die ausländischen Investoren versuchten maximal vorteilhafte Bedingungen für sich herauszuhandeln und den Abschreibungsanteil zu senken. Ein weiterer Kreditgeber – Russland – wählte eine eigene Vorgehensweise.
Die Russische Föderation ist ebenso ein Halter ukrainischer Eurobonds. 2013 vereinbarte der damalige Präsident Wiktor Janukowytsch die Gewährung von 15 Milliarden US-Dollar Kredit im Austausch für ukrainische Wertpapiere. Ende 2013 kaufte der russische Nationale Stabilitätsfonds die erste Tranche der Obligationen für eine Summe von drei Milliarden US-Dollar.
Weitere Tranchen gab es nicht – wenig später begann die Revolution der Würde. [offizielle euphemistische Sprachregelung in der Ukraine für die zum Sturz von Janukowytsch führenden Proteste im Winter 2013/2014, A.d.Ü.]
Die „Schulden Janukowytschs“ sollte die Ukraine 2015 tilgen und schlug der Russischen Föderation die gleichen Restrukturierungsbedingungen vor, wie auch den anderen Kreditgebern. Moskau weigerte sich anfänglich an den Verhandlungen teilzunehmen. Später erklärte der Präsident der Russischen Föderation, dass Russland bereit für eine Umschuldung ist und verkündete die Bedingungen.
„Wir sind bereit auf eine tiefe Restrukturierung einzugehen, 2016 eine Milliarde zu erhalten, 2017 eine weitere Milliarde und 2018 noch eine Milliarde“, erklärte er.
Die Ukraine war damit nicht einverstanden und verhängte ein Moratorium auf die Zahlung der Schulden an Russland.
Mit dem Rest der Kreditgeber erreichte Kyjiw eine Vereinbarung über die Restrukturierung der staatlichen Euroanleihen und Obligationen des Staatsunternehmens „Finansuwannja infrastrukturnych projektiw/Finanzierung von Infrastrukturprojekten“ (Fininpro) über 18 Milliarden US-Dollar. Der durchschnittliche Prozentsatz stieg von 7,22 Prozent auf 7,75 Prozent.
Die Tilgungsfrist des Teils der Schulden, der nicht abgeschrieben wurde, wurde von 2015-2023 auf 2019-2027 verschoben. Die Rosine der Restrukturierung wurde die Ausgabe der oben erwähnten Instrumente zur Einbringung von Forderungen/VRI. Sie wurden zur Grundlage der Kritik an Jaresko durch viele Ökonomen.
Die Rentabilität der Warrants war an den Wert des Bruttoinlandsprodukts geknüpft worden. Deren Prinzip sieht so aus: je höher das Bruttoinlandsprodukt, um so mehr erhalten die Investoren. Also setzte Jaresko darauf, dass die Wirtschaft der Ukraine sich nicht in hohem Tempo entwickeln wird und die Zahlungen für die Warrants bleiben minimal oder es wird gar keine geben.
Funktionsregeln der VRI
- Die Ukraine zahlt den Kreditgebern nichts, wenn die Wirtschaft langsamer als drei Prozent wächst.
- Bei einem Wirtschaftswachstum von drei bis vier Prozent im Jahr können die Kreditgeber auf 15 Prozent eines Prozents Wirtschaftswachstum rechnen.
- Bei einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent erhalten die Kreditgeber 40 Prozent eines Prozents des Wachstums zwischen drei und vier Prozent plus 40 Prozent des Wachstumstempos über vier Prozent.
- Zahlungen für die VRI werden im Laufe von 20 Jahren, beginnend von 2021 an durchgeführt. Das letzte Jahr der Geltung der Warrants ist 2038. Die Zahlungen nach dessen Ergebnissen müssen im Jahr 2040 gemacht werden.
- Im Verlauf der Jahre 2021 bis 2025 dürfen die Auszahlungen ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht übersteigen.
- Die Ukraine macht keine Zahlungen, solange das Bruttoinlandsprodukt 125,4 Milliarden US-Dollar nicht übersteigt. Diese Grenze hat die Ukraine 2018 überschritten.
Die Ukraine ist nicht das erste Land, das Wertpapiere dieser Art ausgegeben hat.
1989 nutzte Costa Rica diese Option für die Restrukturierung der Schulden seiner Geschäftsbanken. Die Bedingungen waren diese: wenn das Bruttoinlandsprodukt des Landes das Bruttoinlandsprodukt des Jahres 1989 inflationsbereinigt um 120 Prozent übertrifft, dann erhalten die Investoren Ausschüttungen.
Uruguay1991 gab 1991 Instrumente aus, die an den Wert des Warenkorbs des Exports geknüpft waren (mit einem Deflator zum Importpreis von Erdöl). Eine Bindung an das Bruttoinlandsprodukt bei der Restrukturierung der Schulden nutzten auch Bulgarien 1994, Bosnien und Herzegowina 1997, Argentinien 2005 und 2010, Griechenland 2012.
Was auf die Ukraine zukommt
Das Entwicklungstempo der Wirtschaft prognostizieren die Zentralbank NBU und das Wirtschaftsministerium und die faktische Ziffer verkündet das Statistikamt. Eben der Wert des Statistikamts wird eine Bedeutung für die Zahlungen bei den Warrants haben, jedoch kann man diese orientierungsweise auch nach den Prognosedaten berechnen.
Die Zentralbank prognostiziert, dass die Wirtschaft der Ukraine 2019 um 3,3 Prozent wächst und 2020 um 3,5 Prozent, 2021 um 4 Prozent. Das Wirtschaftsministerium prognostiziert ein Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts um 3 Prozent 2019, um 3,7 Prozent 2020 und um 3,8 Prozent 2021.
Das Statistikamt berichtete, dass sich im vierten Quartal 2019 das Wachstumstempo der Wirtschaft auf 1,5 Prozent verlangsamte. Die Daten für das Gesamtjahr gibt es im März.
„Das Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts 2019 wird bei deutlichen 3,2-3,3 Prozent liegen. Jedoch ist sogar danach, wenn im März das Statistikamt die Wachstumsdaten verkündet und die Höhe des Bruttoinlandsprodukts in Hrywnja bekanntgibt, die Höhe der Zahlungen nicht bis zum Schluss klar“, sagt der Finanzanalyst der ICU-Gruppe Mychajlo Demkiw.
Die Rede geht davon, dass das Finanzministerium im Mai 2021 die Zahlungen in Dollar zum mittleren Kurs der zwei Monate machen muss, die dem Zahlungsdatum vorangehen. „Sicher zu sagen, wie der Kurs in mehr als einem Jahr sein wird, ist unmöglich. Die erwartete Höhe der Zahlungen im Jahr 2021 wird bei 40-80 Millionen US-Dollar liegen (etwa zwei Milliarden Hrywnja)“, prognostiziert der Analyst.
Diese Summe ist für den Staat nicht kritisch. Dazu wird die Zahlungssumme bis 2026 nicht mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Die Zahlungen werden zu meistern sein, wenn die Wirtschaft nicht anfängt sich mit größeren Tempi und einem Wachstum von sechs bis sieben Prozent zu entwickeln beginnt.
Danach wird es keine Einschränkungen mehr geben. Alles hängt von der Natur des Wachstums ab.
Wenn die Entwicklung dynamisch wird, dann könnte der Ansatz „Reiche fürchten Ausgaben nicht“ greifen. Eine andere Sache ist, falls die Ukraine eine Krise ereilt und im nächsten Jahr die Wirtschaft um sieben bis zehn Prozent wächst. Der Statistik nach wird das Bruttoinlandsproduktwachstum hoch sein, doch die Ukraine wird davon kein reicher Staat. Die niedrige Vergleichsbasis wird einen starken Effekt haben.
„Im Falle eines starken Wirtschaftswachstums nach der Krise, und bis 2040 wird es kaum gelingen diese zu vermeiden, wird das Finanzministerium Milliarden US-Dollar zahlen müssen. Der Mechanismus der Warrants wurde vor allem deswegen kritisiert“, fasst Demkiw zusammen.
Den Berechnungen des Experten nach, wenn das Wachstumstempo der Wirtschaft etwas höher ist, beispielsweise vier Prozent, dann steigt die Höhe der Zahlungen auf bis zu 0,3 Milliarden US-Dollar und bei einem Wachstum von fast sechs Prozent und mehr wird die Höhe der Zahlungen die 1,6 Milliarden US-Dollar – ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts – nicht übersteigen.
Verkaufen, so lassen, erneuern
Nach der Ausgabe der Warrants im Jahre 2015 wurden sie schlecht gehandelt auf einem Niveau von 30 Prozent des Nominalsatzes. Investoren glaubten nicht besonders an eine schnelle ökonomische Erholung der Ukraine. Jedoch auf der Welle der Neuigkeiten über die Pläne ein Wirtschaftswachstum von fünf bis sieben Prozent zu erreichen und der Öffnung des Bodenmarktes begann der Preis für die Warrants Anfang 2020 auf 120 bis 130 Prozent des Nominalsatzes zu steigen.
In Regierungs- und Expertenkreisen gibt es zwei Szenarien zu den BIP-Warrants.
Das erste: ihr langfristiger Aufkauf. „Die VRI müssen dann aufgekauft werden, wenn sie billig sind. Früher gab es den Vorschlag dafür das Geld aufzuwenden, das von Janukowytsch konfisziert wurde [Eigentlich handelt es sich um in Hrywnja notierte Staatsanleihen im Wert von angeblich etwa 1,5 Milliarden US-Dollar, die von einem Kramatorsker Gericht beschlagnahmt wurden. Inwiefern diese Anleihen etwas mit Janukowytsch zu tun haben, wurde nicht bewiesen. A.d.Ü.], doch die Parlamentarier sagten, dass dieses an die Menschen verteilt werden soll. Woher jetzt das Geld genommen werden soll ist unbekannt“, erzählte ein Gesprächspartner in der Regierung der Ekonomitschna Prawda.
Spezialkonfiskat: Gelder Janukowytschs, die auf verbrecherischem Wege erhalten wurden. Im Haushalt 2017 wurden Einnahmen in Höhe von 22,5 Milliarden Hrywnja [heute circa 850 Millionen Euro] angesetzt. Innerhalb mehrere Jahre wurden die Gelder für verschiedene Ausgabeposten des Staatshaushaltes aufgewendet.
Über das Szenario eines Aufkaufs redete der jetzige Chef des Parlamentsausschuss zu Fragen der Finanz-, Steuer- und Zollpolitik, Danylo Hetmanzew. Er bezeichnete die BIP-Warrants als „Zeitbombe“.
„Diese Idee ist schwer zu realisieren. Sogar als die Warrants ausgegeben wurden, wären für ihren Aufkauf drei Milliarden US-Dollar notwendig gewesen. Wer nimmt auf sich die Verantwortung für diese nicht bis zum Schluss verständlichen und nicht prognostizierbaren Papiere mehrere Milliarden US-Dollar auszugeben?“, fragte rhetorisch der Analyst von Concorde Capital Olexandr Paraschtschij.
Zudem gibt es diese Milliarden im Haushalt nicht, diese müssten wahrscheinlich kreditfinanziert werden.
Das zweite Szenario: Tausch der Warrants gegen Euroanleihen.
„Die Halter der VRI haben deren Tausch in Eurobonds erwartet. Noch vor einem halben Jahr haben die Investoren darauf gezählt, dass die Regierung im Hinblick auf ein mögliches Wirtschaftswachstum die Warrants in ein für die Investoren verständlicheres Instrument tauscht, beispielsweise in Euroanleihen mit einem festgelegten Zinssatz“, sagt Paraschtschij.
Derweil sind die Warrants nicht in die Struktur der Staatsschulden aufgenommen worden und ihre Umwandlung in Euroanleihen zöge eine Erhöhung der Auslandsschulden mit sich.
Außerdem, wenn jetzt die VRI nach dem Prinzip „die Wirtschaft wächst – die Ukraine zahlt, das Wirtschaftswachstum fällt unter drei Prozent – die Ukraine zahlt nicht“ funktionieren, dann muss im Falle von Eurobonds immer gezahlt werden.
Den Informationen von Quellen nach, die mit der Position des Finanzministeriums vertraut sind, haben die Staatsbediensteten eine Wartehaltung eingenommen, in erster Linie aus innenpolitischen Gründen.
„Es werden verschiedene Varianten die Situation unter Kontrolle zu nehmen in Betracht gezogen. Die Warrants werden nicht zum Problem, es muss lediglich ein Kompromiss mit den Parlamentsabgeordneten erreicht werden“, fasst ein Gesprächspartner der Ekonomitschna Prawda im Ministerkabinett zusammen.
19. Februar 2020 // Halyna Kalatschowa
Quelle: Ekonomitschna Prawda
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