Die große nationaldemokratische Oktoberrevolution, von der Patrioten so oft sprechen, sollte genau zum jetzigen Zeitpunkt stattfinden. Ein geeigneterer Moment ist kaum vorstellbar.
Das Gerichtsurteil gegen eine Führungspersönlichkeit der Opposition fiel beinahe auf den Tag der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA). Die feurigen Reden der unbeugsamen Julia Timoschenko sowie ihrer Weggefährten passen beeindruckend zum rebellischen Geist der Helden der UPA.
Ergänzen wir dies zusätzlich durch eine schlechte Konjunktur, erhalten wir die idealen Bedingungen für einen revolutionären Ausbruch.
Und wir hätten zweifellos eine siegreiche Revolution, fügte sich die objektive Realität den wohlgeformten ideologischen Dogmen und existierte jenseits der wilden Vorstellungen der nationalen Patrioten irgendwo eine pflichtbewusste ukrainische Nation.
Und wäre Heroismus in der Tat von historischer Bedeutung.
Die heutige Ukraine verfügt weder über Freiheit, noch Recht, noch Fachkompetenz. Dafür gibt es bei uns hervorragende Beispiele für Heroismus. Und ich konstatiere dies ohne jedes Quäntchen Ironie.
Zu Timoschenko kann man sich unterschiedlich positionieren, Furchtlosigkeit und ein stählerner Wille können ihr jedoch nicht abgesprochen werden.
Julia Wladimirowna ist von heroischer Natur und sie bewies dies vor einem ungerechten Gericht. Eine zierliche Frau, die dem unbarmherzigen System entgegentreten ist und Achtung und Bewunderung verdient. Der Heldenmut der JWT überdeckt teilweise ihre Misserfolge als Ministerpräsidentin und die jüngste Hilflosigkeit in der Opposition.
Kann man einen anderen verhafteten Oppositionellen als Helden bezeichnen – wie Jurij Luzenko?
Zweifellos. Der 30-tägige Hungerstreik ist ein couragierter und mutiger Akt, zu dem bei weitem nicht jeder fähig wäre. Der Gefangene Luzenko erweist sich als ehrenwerter als der Minister oder Politiker Luzenko.
Leider kamen die Oppositionsführer lediglich mit einer Rolle zurecht – der des heldenhaften Einzelgängers, der in die Hände des Feindes gefallen war, aber weder gebeugt werden konnte noch sich ergeben wollte. Gestern konnten sie weder effektiv noch erfolgreich sein, dafür haben sie sich heute als standhaft und furchtlos erwiesen. Sie haben auch die europäische Ukraine nicht aufgebaut, dafür vervollständigen sie die lange Liste der mutigen Kämpfer, auf die man vollauf stolz sein kann.
Helden gibt es, nur eben wenige. Wir haben es hier nicht nur mit einem chronischen ukrainischen Problem zu tun, sondern mit einem faszinierenden zivilisatorischen Phänomen.
Wie zynisch das auch klingen mag, aber der Heldennimbus ist die ewige Begleiterscheinung des Verlierertums. Je schlimmer eine Situation wird, desto stärker wird eine psychologische Kompensation in Form eines ruhmvollen Helden benötigt. An und für sich erschöpft sich damit der praktische Nutzwert des Heldentums.
Diese utilitaristische Herangehensweise an Helden war bereits Ende des 18. Jahrhundert, in den Jahren der Französischen Revolution, auf dem Vormarsch. Als Vorreiter kann der General-Adjutant Desmares dienen, der gegen die aufständischen Vendéer kämpfte und eine Niederlage nach der anderen ertragen musste. Was tun? Was Paris berichten? Die ärgerlichen Misserfolge und die eigene Inkompetenz? Desmares fand eine Lösung – er begann, den trockenen Berichten farbenreiche Beschreibungen des Heroismus seiner Leute beizufügen.
Dem unbegabten General gelang besonders gut der romantische Bericht vom Untergang des jugendlichen Husaren Joseph Bara, der in einer Schlacht gegen die Rebellen fiel. Die jakobinische Propaganda griff ihn sofort auf. „Nur Frankreich hat dreizehnjährige Helden!“ – ließ der Bürger Robespierre pathetisch verlauten. Das Konterfei des jungen Kämpfers war auf Gravuren, Münzen, in Gedichten und Liedern festgehalten.
Von Joseph Bara wurde Schulkindern erzählt. Seine Geschichte wurde mit immer neueren bildreichen Details angereichert. Nachträglich stellte sich heraus, dass dem gefangen genommenen Knaben von den Aufständischen sein Leben versprochen wurde, wenn er einen Trinkspruch zu Ehren des Königs hervorbringe. „Es lebe die Republik!“ – hatte der tapfere Jüngling gerufen und wurde von feindlichen Kugeln durchbohrt … Vor diesem heldenhaften Hintergrund verblassten sämtliche Misserfolge in der Vendée.
Beispielhaft ist auch die sowjetische Praxis während des Zweiten Weltkrieges. Die Mehrheit der allseits bekannten heroischen Charaktere – der Pilot Gastello, die Partisanin Kosmodemjanskaja, die achtundzwanzig sagenhaften Gardisten der Panfilow Division – sind während der schwierigsten und ungünstigsten Phase des Krieges mit Deutschland entstanden.
In dem Maße, wie sich das Kriegsglück zu Gunsten der Sowjets neigte, war die heroische Welle im Abnehmen begriffen. Selbstverständlich wurden die tapferen Männer in den Reihen der Roten Armee nicht weniger. Lediglich der Bedarf an heldenhaften Einzelkämpfern ist zurückgegangen: statt ihrer kamen siegreiche Darstellungen, tapfere Berichte über eingenommene Städte und zerschlagende Divisionen des Gegners.
So ist es nicht verwunderlich, dass die national-patriotische Version der ukrainischen Geschichte außerordentlich reich an Helden ist. Auch hier gibt es furchtlose Jünglinge, die bei Kruty gefallen sind, und tapfere Aufständige in Cholodny Jar sowie die unbeugsamen Kämpfer der UPA (Ukrainischen Aufstandsarmee) und die aufopferungsvollen Dissidenten in der Epoche der Stagnation. Etliche Helden erfüllen eine ganz bestimmte Funktion: Sie kompensieren das Ausbleiben eines realen Sieges.
Warum fällt es den nationalen verantwortungsbewussten Historikern so schwer, den althergebrachten sowjetischen Interpretationen der Vergangenheit entgegenzuwirken. Aufseiten der Sowjetophilen befindet sich nicht nur ein mächtiger propagandistischer Produktionsvorlauf, sondern auch reale Erfolge. Wenn diese auch auf Kosten von Millionen Menschenleben erreicht wurden, waren diese dennoch Erfolge.
Sich mit Siegern zu assoziieren, ist bei weitem angenehmer und der Spießbürger wird kaum auf die Marke des „Großen Sieges“ zugunsten standhafter heldenhafter Loser verzichten.
Mit imperialen Siegern zu konkurrieren, ist in der Tat schwierig. Daher das unterbewusste Bestreben, die national-patriotischen Helden in den Rang vollwertiger Sieger zu erheben.
Gewiss haben alle von der adretten Spitzfindigkeit über die Ukrainische Aufstandsarmee gehört die angeblich im Zweiten Weltkrieg gesiegt hat. Die Rotarmisten kämpften halt für die Sowjetunion, aber wo ist die Sowjetunion heute? Die Soldaten der Wehrmacht kämpften für das Dritte Reich – wo ist jetzt das Dritte Reich? Aber die UPA kämpfte für eine unabhängige Ukraine, und die unabhängige Ukraine existiert!
Diese Logik ist so entzückend, dass ihr auch ihre Fehlerhaftigkeit nichts anhaben kann. Wem gehören jetzt die Provinzen Elsass und Lothringen? Richtig, Frankreich. Folglich haben den Deutsch-Französischen Krieg von 1870-71 die Franzosen gewonnen.
Es gab keine Zerschlagung bei Sedan und keine bedauerliche Kapitulation. Der hervorragende Feldherr und Staatsmann Napoleon III hat dem bedauernswerten Otto von Bismarck ein Schnippchen geschlagen. Das glauben sie nicht? Aber wem gehört denn nun Elsass-Lothringen? Eben!
Die Kämpfer der UPA haben in etwa den gleichen Bezug zum Entstehen der unabhängigen Ukraine im Jahr 1991, wie Kaiser Napoleon III zur Rückführung der verlorenen Provinzen in den Bestand Frankreichs. Aber wenn der Seele nichts bleibt als den heldenhaften Opfern, bleibt lediglich, sich und andere davon zu überzeugen, dass diese Opfer nicht vergeblich gewesen sind.
Kehren wir zurück zum heutigen Tag. Selbst die Mitstreiter Timoschenkos müssen verbittert eingestehen, dass die Masse der Bevölkerung den Strapazen der Julia gleichgültig gegenüber steht. Aber es ist vorstellbar, dass die ukrainische Wirtschaft bald endgültig den Bach runter geht, der verzweifelte Philister wird ein schreckliches Ende dem Schrecken ohne Ende vorziehen, und das Regime Janukowitschs wird von einer sozialen Eruption weggefegt werden.
Was werden zukünftige Chronisten, die mit Julia Wladimirowna sympathisieren, schreiben? Richtig! Dass die Willkür der Justiz das Fass der Geduld des Volkes zum Überlaufen gebracht hat und die Standhaftigkeit der heroischen Julia dieses dazu brachte zu rebellieren. Man muss zugeben, dass ein solcher Mythos sich sehr wirkungsvoll ausnehmen würde!
Eine verbreitete Annahme geht davon aus, dass große Siege und Errungenschaften sich aus einzelnen Heldentaten zusammensetzen.
Bedauerlicherweise ist dem nicht so. Ein aufopfernder Heroismus ist nicht der Weg zum Erfolg, und der Ausweichs- und Ersatzstoff für einen Sieg kommt lediglich Saccharin oder Getreidekaffee gleich.
Heutzutage gewinnt das Heldensurrogat mehr denn je an Aktualität für die Ukraine. Finstere Wolken ziehen sich immer stärker über dem Land zusammen, die Opposition ist vollkommen hilflos, und reale Möglichkeiten, die Situation zum Besseren zu wenden, existieren nicht.
Unter solchen Bedingungen erlangt sogar die jugendliche Mitstreiterin Kortschinskis mit einem Blumenstrauß einen Heldennimbus (Anspielung auf den Zwischenfall bei dem Bildungsminister Tabatschnik von einer Studentin mit einem Blumenstrauß „geschlagen“ wurde). Die nicht gleichgültige Öffentlichkeit ist zu jeder farbenträchtigen Aktion, zur geringsten Illusion des Sieges bereit, auch wenn diese noch so sinnlos und zweifelhaft ist.
Offenbar wird unser depressives Land in nächster Zukunft noch genügend Helden erleben. Aber werden wir die Zeit erleben, zu der eine erfolgreiche und glückliche Ukraine keine aufopferungsvollen Helden mehr nötig haben wird?
13. Oktober 2011 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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