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Der Nobelpreis, den es nicht gab

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Am 5. Oktober startete in Schweden mit der Vergabe des Preises auf dem Gebiet der Medizin die diesjährige Nobelwoche. Seit der Einführung der prestigeträchtigen Auszeichnung wurde er 110 Mal an Mediziner vergeben und zweimal hätte der Lemberger Rudolf Weigl erhalten können – ein bekannter Biologe, der den ersten wirksamen Typhus-Impfstoff erfand und Tausende von Menschenleben rettete. Er konnte, doch er hat ihn nicht erhalten… Daran hinderte ihn die damalige politische Situation: Das erste Mal geschah es 1942, weil er nicht mit den Nazis zusammenarbeiten wollte, und das zweite Mal 1948, weil er einer derartigen Zusammenarbeit bezichtigt wurde… Hier ist unsere Geschichte über Rudolf Weigl.

Rudolf Weigl wurde am 2. September 1883 in der Stadt Přerov (heute Tschechien) im Österreichisch-Ungarischen Reich geboren. Sein Vater starb, als der Bub fünf Jahre alt war. Die verwitwete Mutter heiratete einen polnischen Lehrer und der zukünftige Immunologe fand sich in Galizien wieder. Die Umgebung polonisierte den Jungen und als die Lwiwer Periode seines Lebens begann, verstand er sich selbst bereits ausschließlich als Pole. Mit 30 Jahren wurde Weigl zum Doktor der Naturwissenschaften. 1914 begann der Weltkrieg und der Lwiwer Wissenschaftler wurde einberufen, um die Typhus-Epidemie beim Militär zu bekämpfen. Der Krieg, der der Welt Tod, Epidemien, Hunger und Revolutionen brachte, spielte eine entscheidende Rolle in Weigls wissenschaftlicher Karriere. Seine Arbeit war nicht weniger gefährlich als die militärische Schlacht – Typhus forderte manchmal mehr Leben als der Krieg und die Suche nach einem Heilmittel endete oft mit dem Tod von Forschern.

1909 hatte der als Arzt in einem Gefängnis in Tunesien arbeitende Franzose Charles Nicolle den Verdacht, dass Läuse Träger von Typhus waren. 1910 interessierte sich der Amerikaner Howard Ricketts für die Typhusepidemie in Mexiko. Er äußerte eine ähnliche Annahme, schaffte es aber nicht mehr sie zu beweisen, da er sich infizierte und starb. 1914 entdeckten Stanislaus von Powazek, ein österreichischer Wissenschaftler tschechischer Herkunft, und der brasilianische Infektiologe Henrique da Rocha Lima den Typhuserreger im Darm von Läusen. 1915 entsandte die österreichische Regierung von Prowazek und da Rocha Lima, um den Ausbruch der Epidemie unter russischen Kriegsgefangenen zu untersuchen. Wie Stanislaus von Prowazek schrieb, gab es im Lager so viele Läuse, dass sie „regneten“. Die Wissenschaftler hofften, sich mit enganliegender Kleidung und Gummistiefeln zu schützen, doch das rettete sie nicht – sie erkrankten beide. Am 17. Februar 1915 starb Stanislaus von Prowazek, aber Henrique da Rocha Lima erholte sich glücklicherweise. Es war ebendieser da Roche Lima, der den Erreger als Reinkultur isolierte und ihn nach den beiden von der Krankheit getöteten Wissenschaftlern Rickettsia prowazekii benannte. Für die lebensgefährliche Arbeit erhielt er von Kaiser Wilhelm II. das Eiserne Kreuz. 1928 erhielt Charles Nicolle als Einzelperson den Nobelpreis im Bereich Medizin und Physiologie für die Untersuchung von Typhuserregern. Viele Forscher waren der Meinung, dass er ihn mit da Roche Lima hätte teilen sollen.

Also erforderte die Arbeit, der sich Rudolf Weigl widmete, nicht nur scharfen Verstand, sondern auch die Bereitschaft zu persönlichen Opfern. So starb 1922 noch einer seiner Erforscher an Typhus – der Österreicher Edmund Weil. Als er ein Heilmittel gegen Typhus suchte, infizierte sich auch Weil. An diesem Leiden erkrankte der Wissenschaftler zweimal. Für Weigls Arbeit war eine große Menge krankheitserregender [pathogener] Mikroorganismen notwendig, doch die Schwierigkeit bestand darin, dass sich der Typhuserreger nur im Darm von Läusen vermehrte. Um also eine große Menge des Typhuserregers zu erhalten, begann der Forscher ihn unter dem Mikroskop bei 30-facher Vergrößerung in die Läuse zu injizieren, indem er Insekten als Träger für die Reproduktion verwendete. Heute, im Zeitalter der Nanotechnologie, mag dies für ein wissenschaftliches Labor etwas ungewöhnlich erscheinen – aber 1918 war es eine komplizierte und mühsame Aufgabe.

Indes wurde Typhus einer der Hauptgründe für die Niederlage der ukrainischen Revolution. Im Herbst 1919 begann eine Epidemie in der Armee der Ukrainischen Volksrepublik [Kurzlebiges Staatsgebilde auf dem Gebiet der heutigen Ukraine zwischen 1917 und 1921. A.d.R.]. Im Oktober 1919 erkrankten 6.000 Soldaten an Typhus, im November waren es bereits 13.000 Erkrankte. Es kam dazu, dass sie begannen, die Gesunden zu zählen, von denen es nur 5.000 gab. In jenen schicksalhaften Tagen starben der Chef des ukrainischen Roten Kreuzes, Andrij Wjaslow, der Gesundheitsminister Dmytro Odryna, der Kommandeur der Armee der Ukrainischen Volksrepublik, Fähnrich Wassyl Tjutjunnyk, der Leiter der Garnison von Kamjanez-Podilskyj, Generalleutnant Fedir Kolodij und der Chef der Hauptdirektion des Generalstabs der Ukrainischen Volksrepublik, General Wjatscheslaw Bronskyj. Und in Kyjiw nahm Typhus das Leben des bekannten Grafikers sowie Gestalters der Hrywnja und von Briefmarken Heorhij Nabut.

1920 leitete Weigl das Forschungszentrum für Typhus, welches später einfach Weigl-Institut genannt wurde. 1928 wurde endlich der erste wirksame Typhus-Impfstoff entwickelt. Ab den 1930ern begann seine Produktion, doch beim besten Willen Weigl konnte nur einige Tausend Impfstoffeinheiten pro Jahr herstellen. Als echter Wissenschaftler bildete Weigl würdige Schüler aus und begründete die Lwiwer Schule für Epidemiologie. Einer ihrer Vertreter war Henryk Mosing, der 1928 Weigls Assistent und Gefährte wurde.

Weigls Arbeit machten ihn auf der ganzen Welt berühmt, seine Impfung wurde zur Bekämpfung der Epidemien in Asien und Afrika verwendet. Weigl wurde mit dem belgischen Leopoldsorden und dem Orden des Heiligen Georg vom römischen Papst Pius XI. ausgezeichnet sowie als Ehrenmitglied der New Yorker und der belgischen Akademie der Wissenschaften geehrt. Weigls Impfstoff machte ihn zu einem willkommenen Gast in Europa – und Lwiw zu einem Wallfahrtsort für europäische Wissenschaftler. In Polen selbst hingegen wurde der eigene Wissenschaftler „nicht bemerkt“. Womöglich hing dies damit zusammen, dass Weigl, als die Zulassung von Juden an polnischen Universitäten eingeschränkt wurde, dies als mittelalterliche Barbarei bezeichnete, wofür ihm mangelnder Patriotismus vorgeworfen wurde. Oder wegen seiner ständigen Auseinandersetzungen mit Regierungsbeamten, die der Meinung waren, dass der Professor zu viel Geld für den Kauf ausländischer Ausrüstung verschwenden würde. Eine Auszeichnung (10.000 Złoty) erhielt Weigl nur vom Lwiwer Präsidenten.

1939 wurde Lwiw durch den sowjetisch-deutschen Pakt Teil der UdSSR. Die polnische Regierung bot Weigl und Mosing (welcher zu Beginn des Krieges eine Expedition in die Karpaten unternahm, aber sofort nach Lwiw zurückkehrte) an, sie nach Rumänien zu evakuieren, doch beide lehnten ab. In der Sowjetunion schlug der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Nikita Chruschtschow, Weigl vor, das Institut nach Moskau zu verlegen, doch der Wissenschaftler wählte abermals Lwiw. In der Zwischenzeit infiltrierte der sowjetische Dienst schnell alle Institutionen und löste mit ihren Denunziationen eine Welle der Repression aus. Der NKWD erhielt auch eine Denunzierung von Weigl, in welcher die Behörden über den Mangel an sowjetischer Führung am Institut und die Gefahr biologischer Sabotage informiert wurden. Aber sogar der NKWD musste die Bedeutung von Weigls Arbeit anerkennen – und rührte den Forscher nicht an. Sie platzierten lediglich Serhij Terechow über ihm, der sich – man muss ihm Tribut zollen – nicht in die Arbeit der Institution einmischte.

Nach dem Angriff des Dritten Reichs auf die Sowjetunion gelang es Weigl, eine Evakuierung zu vermeiden, doch die neuen Besatzer begannen, ihn ebenfalls zu verführen. Alle wussten, dass Weigl der Abstammung nach ethnischer Deutscher war und er nur eine Unterschrift benötigte, um auf die „kaiserliche Liste“ zu gelangen und die Fakultät in Berlin zu leiten. Doch Weigl teilte Himmlers Stellvertreter, SS-General Katzmann, mit, dass die Nationalität nur einmal gewählt wird und er für sich selbst vor langer Zeit definiert hat, dass er Pole ist. Und diesmal wurde Weigl seine Wahl vergeben – über ihm platzierten sie bloß einen eigenen „rassisch sauberen“ Direktor Hermann Eyer, aber dieser mischte sich wie sein sowjetischer Vorgänger nicht in die Arbeit des Instituts ein. Der wahre Preis, den Weigl für seine Wahl bezahlte, war die Weigerung der Deutschen, einen Polen für den Nobelpreis zu nominieren.

Das deutsche Kommando brauchte den Typhus-Impfstoff für seine Soldaten und das gab Weigl die Möglichkeit, in den harten Jahren des Krieges zum Stellvertreter der Lwiwer Intelligenz zu werden. Schließlich waren zur Herstellung von Impfstoffchargen eine große Anzahl von Rickettsien und somit Läuse, in denen sie sich vermehrten, erforderlich. Wenn Läuse „Träger“ zur Kultivierung von Erregern waren, dann waren die „Träger“ zur Fütterung der Läuse die Bewohner Lwiws. Dazu wurde eine Spezialschachtel mit 500 Läusen am Bein befestigt. Es war nicht erlaubt, mehr als sechs Schachteln gleichzeitig zu tragen. Die Ernährer mussten eine Schulung durchlaufen und strenge Regeln einhalten – weil übermäßige Nahrungsaufnahme beim Menschen zu einer Allergie führen konnte und das die Läuse tötete. Schätzungen zufolge kümmerten sich zwischen 3.000 und 5.000 Bewohner Lwiws um die Parasiten. Dabei stellte Mosing fest, dass bei Ernährern, die Medikamente gegen Rheuma einnahmen, die Läusen starben – so wurde eines der ersten Mittel zur Bekämpfung der Pedikulose entdeckt.

So sahen die Schachteln zur Läusefütterung ausSo sahen die Schachteln zur Läusefütterung aus

Die Arbeit als „Läuse-Fütterer“ sicherte mit Dokumenten den Mitarbeiter des „Instituts für Typhus und epidemiologische Forschung des Oberkommandos der Armee“ – dies rettete ihn vor der Deportation nach Deutschland und vor Überfällen, aber es lieferte auch Rationen, die während der deutschen Besatzung gleichbedeutend mit der Rettung des Lebens waren. Die Läuse wurden von Lwiwern gefüttert, deren Namen auf der ganzen Welt bekannt waren. Unter ihnen war Stefan Banach, ein Mathematiker, korrespondierendes Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Professor am Polytechnischen Institut in Lwiw und an der Universität Lwiw, Autor von Lehrbüchern der Mathematik und Begründer der Funktionsanalyse. Auch seine Schüler und Kollegen Władysław Orlicz, Feliks Barański und Bronisław Knaster ernährten Läuse. Unter den Vertretern anderer Wissenschaften sind der ehemalige Rektor der Lwiwer Universität, der Botaniker Seweryn Krzemieniewski, die Geografen und Polarforscher Alfred Jahn und Aleksander Kosiba, die Literaturwissenschaftlerin und Untergrundsoldatin der Nationalen Armee Stefania Skwarczyńska, der Archäologe Stefan Krukowski, der Soziologe Józef Chałasiński und der Psychologe Mieczysław Kreutz [Im Original fälschlicherweise als Jan Kreutz bezeichnet. A.d.R.]. Die Jugend, die sich durch das Nähren von Läusen rettete, wurde dann auch für ihre Leistung berühmt. Stanisław Skrowaczewskiwar damals nur ein junger Pianist, aber durch eine Verletzung der Hände während des Krieges musste er Dirigent und Komponist werden und später erfuhr die ganze Welt von ihm. Jerzy Broszkiewicz und Adam Hollanek wurden Schriftsteller und Zbigniew Herbert wurde Dichter und einer der Impulsgeber der polnischen Widerstandsbewegung in den 1980ern.

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Auch Weigl gelang es, das Unmögliche zu tun – das deutsche Kommando vom Nutzen der Juden zu überzeugen. Dank seiner Intervention wurden die Familien seines Schülers, des Mikrobiologen Henryk Meisel, und des Arztes Ludwik Fleck gerettet werden. Es gab auch weniger bekannte Juden, Mitarbeiter des Instituts, denen es dank Weigl gelang, die Besatzung zu überleben. Bekannt ist auch, dass es ihm gelungen ist, den rettenden Impfstoff über Mosing an die Ghettos in Lwiw und Warschau zu liefern.

Foto: muzeum.gliwice.pl

1944 wurden Weigl und alle Industrieanlagen zur Produktion des Impfstoffs unter Zwang nach Krakau evakuiert. Vor seiner Absetzung ernannte Weigl Mosing zum Direktor des Instituts. Die Wiederherstellung der sowjetischen Herrschaft brachte eine neue Welle der Repression gegen jene, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Jedoch waren Mosing in Lwiw und Weigl in Krakau nicht davon betroffen. Mosing belebte das Institut wieder und Weigl leitete die Fakultät für Biologie in Krakau. 1948 wurde Weigl für den Nobelpreis nominiert, aber die polnischen Kommunisten sandten die Forderung an das Komitee, seine Kandidatur zurückzuziehen, was sie mit Kollaboration (die Arbeit während der deutschen Besatzung) begründeten. Mosing ging trotz seiner führenden Rolle im Kampf gegen Typhus in der Sowjetunion 1973 ohne Ehrungen, Auszeichnungen oder Feierlichkeiten in den Ruhestand.

Rudolf Weigl starb am 11. August 1957. 2003 wurde seinen Enkeln die Medaille „Gerechter unter den Völkern“ für Weigls Rettung von Lwiwer Juden zur Zeit der deutschen Besatzung verliehen.

13. Oktober 2020 // Olexsandr Witolin

Quelle: Sbrutsch

Übersetzerin:   Agnes Poitschek — Wörter: 1877

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