Schon zum zweiten Mal in diesem Jahr wurden Neuwahlen zur Werchowna Rada (Parlament) eines der wichtigsten Themen in der ukrainischen Politik. Im Februar und März, als sie Arsenij Jazenjuk aus dem Ministerpräsidentensessel herausdrängten, waren Neuwahlen wohl das Hauptmittel, um Druck auf die „Volksfront“ (Partei unter Führung von Arsenij Jazenuk) auszuüben. Jetzt – wo es gerade nicht nötig ist, Druck auf irgendjemand speziellen auszuüben, sondern wo man nur der Situation Schwung geben will angesichts der Abgabenlast, der skandalösen elektronischen Erklärungen (=Vermögenserklärung von Abgeordneten, Regierungsmitgliedern und Beamten im Internet) und des Wechsels in der Verwaltung in den USA – jetzt kehrt das Thema Neuwahlen zurück. Und es kehrt zurück in genau derselben Verpackung.
Um die Machthabenden anzugreifen, sind irgendwelche speziellen neuen Ideen wirklich nicht nötig. Das Maß an Unzufriedenheit mit den Machthabenden ist in der Gesellschaft ohnehin schon sehr hoch – im September ergaben Umfragen, dass mehr als 70 Prozent die Lage der Dinge im Land als nicht richtig ansehen. Und dabei handelte es sich noch nicht um eine dieser aufheizenden Rechnungen, die in diesem Monat vor sich gingen und die ein mehr oder weniger gut versorgtes Publikum auf Facebook in Erstaunen versetzen. Den Angreifenden genügt es, ein Problem nach dem anderen herauszugreifen aus all jenen Problemen, die die Ukraine objektiv hat, und mit ihnen auf Neuwahlen zu spielen. Nach dem Motto: Mit diesem Parlament wird sich nichts ändern.
Aber um die Macht zu verteidigen, ist es trotzdem notwendig, sich irgendetwas Neues auszudenken, die Idee von Neuwahlen irgendwie anders zu verpacken. Und es ist überraschend, dass die Verteidiger der Staatsmacht das nicht tun. Sie erzählen im Moment genau dasselbe, was sie schon vor einem halben Jahr erzählt haben, als sie noch in die ursprüngliche Machtverteilung verteidigten, die Jazenjuk mit dem Ministerpräsidentensessel ausgestattet hatte. Aber schon damals erschienen diese Argumente schwach und funktionierten höchstens teilweise.
Erstes Argument: Putin wird uns überfallen. Nach dem Motto: In einer Situation besonderer Instabilität, die Wahlen hervorrufen könnten, nutzt der Besessene im Kreml das Chaos in der Ukraine umgehend aus und entreißt unserem Land noch irgendein Stück. Dieses Argument kann man leicht entkräften – erinnern wir uns daran, dass die wirkliche Ausrufung von Wahlen im Krieg stattgefunden hat, genau im Jahr 2014, als die Situation an der Front deutlich schlechter war als jetzt und unsere Verteidigungskräfte deutlich geringer waren – und dass das damals nicht in der Katastrophe geendet ist.
Zweites Argument zur Verteidigung der Regierung: Wenn es zu Neuwahlen kommt, werden noch schlimmere Leute in das neue Parlament einziehen, als dort jetzt schon sitzen. Korrupte Politiker reinsten Wassers und Populisten, die unfähig sind, die für Reformen notwendigen Gesetze zu erlassen. Übrigens, wenn es im Frühjahr noch einfach war, daran zu glauben, dann ist es nach der Veröffentlichung der elektronischen Erklärungen, die im Wortsinn einen Entrüstungssturm in der Ukraine ausgelöst haben, eine reine Fantasie-Vorstellung, irgendjemanden davon zu überzeugen, dass man den derzeitigen Abgeordneten noch ein bisschen Zeit geben muss für ihre Arbeit zum Wohl des Landes. Die absolute Mehrheit der Wähler lässt sich schon nicht mehr umstimmen, dass diese Leute diese Zeit nur dafür nutzen, noch mehr eigenes Geld zu verdienen.
Und angesichts solcher Umstände von den Verteidigern der Regierung zu hören, dass noch schlimmere Leute ins Parlament einziehen könnten, das bedeutet, das offenherzige Bekenntnis zu hören, dass die Regierung im Kampf gegen die Korruption versagt hat, und zwar so weit, dass sie nicht in der Lage ist, die Bestechlichen aus dem Parlament herauszuhalten, und das sogar zu einem Zeitpunkt, wenn das die Regierung selbst bedroht.
Drittes Argument: Nach dem Motto Reformen brauchen Zeit, und es wäre nötig, noch ein paar Jährchen zu warten, damit sie Resultate zeigen, und Neuwahlen würden all dies zerstören. Aber wenn die Reformen jetzt kein überzeugendes Resultat zeigen, zweieinhalb Jahre nach ihrem Beginn, auf welcher Grundlage kann man dann hoffen, dass sich in weiteren zweieinhalb Jahren endlich Resultat zeigen werden? Zumal man bedenken muss, dass die Herren der regierenden Parteien in unserem Land lange vor dem Maidan in die Politik gegangen sind und schon damals Reformen versprochen haben.
Stellen Sie sich einen typischen Wähler vor, der im Fernsehen einen typischen Verteidiger der Regierung sieht, der als Antwort auf Kritik eine dieser drei Geschichten erzählt oder eine Mixtur aus diesen drei. Wird der Wähler diesem Verteidiger glauben? Ich bin überzeugt: Nein. Und um noch einmal auf die Zahlen aus den Meinungsumfragen zurückzukommen: Im September – als die Kampagne für Neuwahlen noch nicht einmal gestartet war – waren knapp über 40 Prozent der Befragten bereit, diese Idee zu unterstützen. Weitere vierzig waren entweder kategorisch gegen Neuwahlen oder hatten schlicht Zweifel, dass diese nötig seien. Ich erinnere daran, dass das noch vor den elektronischen Erklärungen war und den aufheizenden Berechnungen war, ein Spiel, mit dem man sogar Zweifelnde vollends umstimmen könnte.
Für den Augenblick – wird die Regierung vor Neuwahlen gerettet durch die Einbildung ihrer Gegner, die glauben, dass ihnen allein effektive, aber bezahlte Meetings reichten, um die Situation in Schwung zu bringen. Genau so, wie die führenden Parteien ihre Anhänger für ihren Kurs der Landesführung nicht mobilisieren können – sie haben einfach nicht genug mit der Lage der Dinge zufriedene Anhänger – so können auch die Angreifenden ihre Anhänger nicht mobilisieren für einen realistischen, nicht-konstruierten Protest. Einen solchen Protest, den – einmal angenommen – die Einwohner der Hauptstadt unterstützen würden und der den gesamten Gang des politischen Prozesses ändern würde.
Und was, wenn sich die Angreifenden doch noch irgendetwas ausdenken? Was könnten die Verteidiger der Regierung als Antwort darauf bringen – außer dem vierten Argument, den Streitkräften?
Das Problem liegt doch darin, dass man in einem demokratischen System immer zu Wahlen bereit sein muss. Wie sollte es anders enden, als dass die Ukraine ohne jegliche vorgezogene Neuwahlen bei regulären Wahlen ankommen wird, aber auch dann wird über sie geredet werden wie auch heute schon: Indem man mit Putin droht und aufruft und weiter auf Reformresultate in noch einigen Jahren hofft.
16. November 2016 // Dmitrij Litwin, Journalist
Quelle: Lewyj Bereg
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