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Andreas Umland: Europas Beitrag zur ukrainischen Misere

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Sowohl von westlichen Besuchern der Ukraine als auch von ausländischen Analysten postsozialistischer Staaten hört man häufig, dass in der ukrainischen Politik Chaos herrscht. Kaum jemand – am allerwenigsten die Ukrainer selbst – würde dies bestreiten. Sogar einfache EU-Bürger fühlen sich gelegentlich berufen, ihre Meinung zur ukrainischen Innenpolitik zu äußern, und kritisieren das politische Durcheinander in Kiew. Manchmal mischt sich hierbei westliches Unverständnis postsowjetischer Probleme mit eurozentrischer Arroganz. Dies führt gelegentlich zu einer Stereotypisierung des Landes, welche an das Image erinnert, das ehemalige KGB-Offiziere in Moskau der größten neuen Demokratie Europa zu verleihen versuchen.

Schlimmer noch ist, dass in vielen westeuropäischen Bewertungen der heutigen Ukraine kaum Erwähnung findet, dass der wichtigste westliche Partner der Ukraine – die Europäische Union – für die fortgesetzte Unbestimmtheit des ukrainischen politischen Kurses inzwischen mitverantwortlich ist. Viele Politologen würden ohne Zögern zustimmen, dass die Perspektive eines Beitritts zur EU eine gewichtige Rolle in der schnellen Stabilisierung und Demokratisierung Mittelosteuropas und des Baltikums in den Neunzigern gespielt hat, wenn nicht gar eine notwendige Bedingung für die zügige Transformation der ehemaligen Satellitenstaaten der UdSSR war. Kaum ein Zeithistoriker würde überdies bestreiten, dass Frieden, Stabilität und Wohlstand auch in Westeuropa in den letzten sechzig Jahren eng mit dem Projekt und Prozess der europäischen Integration verbunden waren.

Allerdings sind nur wenige europäische Politiker und EU-Bürokraten bereit, öffentlich den Umkehrschluss aus diesen Befunden bezüglich der heutigen Ukraine zu ziehen. Wenn man anerkennt, dass die Teilnahme am europäischen Integrationsprozess, die Perspektive und Verhandlungen eines EU-Beitritts positive Auswirkungen von Tallin bis Dublin hatten, so sollte man auch einräumen, dass die Verweigerung einer Aussicht auf EU-Mitgliedschaft für die Ukraine dazu führt, dass dieses Land jener Entwicklungsmöglichkeiten und Orientierungshilfe beraubt bleibt, von der die westlichen Nachbarn der Ukraine in der Vergangenheit und bis heute profitierten.

Der öffentliche Gebrauch des Begriffs “Europa” in der Nachkriegszeit war und ist eng mit der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dynamik der wachsenden Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaften verbunden. Wenn wir heute „europäisch“ sagen, verstehen wir darunter oft die EU und diejenigen überwiegend positiven Ergebnisse, die der Integrationsprozess mit sich gebracht hat und der über Landesgrenzen hinweg eine bemerkenswerte ökonomische und gesellschaftliche Entwicklung in weiten Teilen des Kontinents sichergestellt hat. Vor dem Hintergrund der beeindruckenden Leistungen der letzten Jahrzehnte gerät allerdings sowohl die Lage Europas als Kulturgemeinschaft als auch die Situation einzelner europäischen Staaten vor dem Beginn des Integrationsprozesses in Vergessenheit. Der größte Teil der europäischen Vorkriegsgeschichte war weit verwirrender als die Innenpolitik und Außenbeziehungen der heutigen Ukraine. Man erinnere sich etwa an das Schicksal des Völkerbundes, die Entwicklung der Weimarer Republik oder den Bürgerkrieg in Spanien.

Aufgeklärte mittelosteuropäische Intellektuelle würden womöglich zugeben, dass die gegenwärtige Situation einiger Länder ihrer Region ohne die Aussicht und schließliche Verwirklichung der EU-Mitgliedschaft heute womöglich eher derjenigen Weißrusslands oder Georgiens als jener Portugals oder Irlands ähneln würde. Wer weiß, was z. B. mit der Slowakei, Rumänien oder Estland passiert wäre, wenn ihnen in den Neunzigern die Perspektive einer künftigen EU-Mitgliedschaft verwehrt worden wäre. Selbst bezüglich des „westlichsten“ Landes aus dem ehemaligen Warschauer Pakt – der DDR – ist nicht ganz klar, welchen Weg die Ostdeutschen gegangen wären, wenn sie nicht dank der Wiedervereinigung Bundesrepublik „freien Eintritt“ in EU erhalten hätten.

Die EU und ihre Wertehierarchie stellten sowohl für die west- als auch osteuropäischen politischen Eliten und Staatsdiener Orientierungshilfen auf dem Weg hin zu einer besseren gemeinsamen Zukunft dar. Die europäische Integration gab einen Fahrplan vor und hat schließlich den Denkmechanismus der Führungsklassen der Mitgliedsländer verändert. Erst als sich die Gelegenheit ergab, an einem großen pankontinentalen Projekt teilzunehmen, haben sich west- und mittelosteuropäische Politiker, Beamte und Intellektuelle gleichermaßen auf dieses Ziel konzentriert und ihre Aktivitäten auf eine erfolgreiche Entwicklung ihrer Länder innerhalb dieses Kontextes abgestimmt.

Akzeptiert man die Relevanz der EU-Mitgliedschaftsperspektive und -Vorbereitung für die Entwicklung vieler europäischer Länder, sollte man sich auch der umgekehrten Wirkung bewusst sein, welche die bisherige diesbezügliche Absage seitens Brüssels auf die Kiewer Elite hat. Als Folge des neuen westeuropäischen Isolationismus findet sich die Ukraine in einer Art „Altem Europa“ wieder, d.h. in einer Situation, die an europäische Vorkriegsverhältnisse erinnert. Im Gegensatz zu den Politikern der meisten heutigen europäischen Länder, muss die ukrainische Führung nach wie vor in einer Welt konkurrierender Nationalstaaten, wechselhafter internationaler Allianzen, geschlossener politischer Lager und harter Nullsummen-Spiele agieren, bei denen der Gewinn des einen nationalen oder internationalen Akteurs den Verlust des anderen bedeutet. Ähnlich hat Politik in Europa auf nationaler und internationaler Ebene vor dem Beginn der beiden Weltkriege funktioniert – und zu deren Entstehung beigetragen. Östlich der gegenwärtigen Grenzen der Europäischen Union ist diese Struktur politischer Prozesse weiterhin präsent. Sie hat – unter vielen anderen negativen Folgen – zu den jüngsten Kriegen auf dem Balkan und im Kaukasus geführt.

Die meisten Ukrainer wären als erste bereit zuzugeben, dass ihr Land noch nicht zum EU-Beitritt, ja nicht einmal zu einer Kandidatur für eine Mitgliedschaft bereit wäre. Dennoch fällt es proeuropäisch gesinnten Ukrainern schwer, die Rhetorik und Handlungen der EU bezüglich dieser Fragen in den letzten Jahren zu verstehen: Warum ist die Türkei bereits offizieller Kandidat für eine Mitgliedschaft in der EU und warum sind Rumänien sowie Bulgarien längst Vollmitglieder, während der Ukraine nicht einmal die Chance zugestanden wird, in ferner Zukunft der EU beizutreten? Ist die Türkei im Vergleich zur Ukraine „europäischer“? Sind Rumänien und Bulgarien tatsächlich so viel höher entwickelt als die Ukraine? Haben nicht sowohl die Orange Revolution als auch die von OSZE, dem Europarat und der EU gebilligten Parlamentswahlen von 2006 und 2007 gezeigt, dass sich die Ukrainer demokratischen Werte und Verfahren verpflichtet fühlen? Ist die Ukraine nicht eines jener postsowjetischen Länder, die am erfolgreichsten die Verhinderung ethnischer Konflikte und Integration von Minderheiten bewältigt hat? Haben die Bevölkerung und die ukrainische Elite nicht die nötige Zurückhaltung gezeigt, wenn sich Konflikte zwischen den beiden politischen Lagern in Kiew zuspitzten oder wenn die Politik Russland bezüglich etwa der Krim wieder einmal provokativ wurde?

Freilich gab es in den letzten Jahren auch viele Entwicklungen in der Ukraine, die in eine andere Richtung zeigen. Dazu gehören die weiter grassierende Korruption im Staatsapparat, die bizarren politischen Konfrontationen in Legislative und Exekutive, die Stagnation der Reform der öffentlichen Verwaltung oder die nur schleppende Restrukturierung der ukrainischen Industrieproduktion und Sozialpolitik. Jedoch stellt sich mit jedem weiteren Jahr, das nach der Orange Revolution vergeht, mehr und mehr die Frage, ob diese und andere negative Erscheinungen bei der Modernisierung der ukrainischen Staats- und Wirtschaftsstrukturen nur noch als Ursachen oder bereits als Ergebnisse der mangelnden Bereitschaft der EU anzusehen sind, der Ukraine eine Mitgliedschaftsperspektive zu eröffnen? Wird die angebliche EU-Untauglichkeit der Ukraine nicht langsam zu einer “self-fulfilling prophecy” – eine Prophezeiung, die sich selbst erfüllt? Ist die politische Führung der EU-Staaten nicht inzwischen Mitschuld daran, dass die Ukraine immer noch weit davon entfernt ist, “europäischen Standards” zu genügen?

Indem die Europäische Kommission und Mitgliedsstaaten zwar eng mit der Ukraine zusammenarbeiten, sich dem Eintrittsbegehren des Landes gegenüber jedoch weiter verschließen, hinterlässt die EU die Kiewer Führung in einem geopolitischen Vakuum. Da es der Ukraine an einer plausiblen langfristigen Zukunftsperspektive fehlt, ist sie zu einem Schlachtfeld in einem kulturpolitischen Stellvertreterkrieg zwischen prowestlichen und prorussischen staatlichen und nichtstaatlichen, nationalen und internationalen Organisationen geworden, die um die Zukunft dieses zwar wichtigen aber bislang noch nicht konsolidierten europäischen Staates kämpfen. Ohne die disziplinierende Wirkung einer offiziellen EU-Mitgliedschaftsperspektive existiert in der Ukraine kein allgemein anerkanntes Maß, an welchem sich bestimmen ließe, ob diese oder jene staatliche Maßnahme oder politische Aktion dem Lande nützt oder schadet. Ukrainischen Politikern, Beamten und Intellektuellen fehlt es bislang an einer gemeinsamen Orientierung, es mangelt ihnen an einem klaren Bezugspunkt bei der Formulierung und Durchsetzung außen- und innenpolitischer Präferenzen. Russland wäre zwar sicher zu einer Union mit der Ukraine bereit. Jedoch würde eine „Wiedervereinigung“ mit dem Nachbarstaat von großen Teilen inbesondere der westukrainischen Bevölkerung wie auch der Kiewer Elite entschieden abgelehnt werden. Letztere schaut vielmehr nach “Europa”, das allerdings nur halbherzig und mit Ausweichformeln wie “Nachbarschaft”, “Partnerschaft” oder “Assoziation” auf das ukrainische Beitrittsbegehren reagiert.

Eine Stabilisierung der Ukraine wäre nicht nur im Sinne der Bürger dieser jungen Demokratie. An einer Ordnung des ukrainischen politischen Prozesses müssten auch Brüssel, Paris und Berlin interessiert sein. Besteht doch weiterhin die Gefahr, dass sich in dem wirtschaftlich schwachen, politisch geteilten und sozial krisenhaften ukrainischen Staat desintegrative Dynamiken entwickeln. Derlei Tendenzen könnten wiederum als Vorwand für eine russische Einmischung, womöglich sogar für eine militärische Intervention Moskaus – etwa auf der Krim – dienen. Eine sich daraus entwickelnder kriegerischer Konflikt der beiden größten europäischen Flächenstaaten wiederum hätte schwerwiegende Folgen für ganz Osteuropa sowie für die russisch-westlichen Beziehungen. Im schlimmsten Fall könnte das gesamte europäische Sicherheitssystem, das nach dem Kalten Krieg entstanden ist, aus den Fugen geraten.

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Eine EU-Mitgliedschaftsperspektive wäre kein Allheilmittel für die Missstände in der Ukraine. Sie würde das russisch-ukrainische Verhältnis sowie andere Problemfelder nur mittelbar berühren. Dennoch ist die Einräumung der Chance auf eine EU-Mitgliedschaft derzeit das wahrscheinlich effektivste Instrument des Westens, auf die Innen- und Außenpolitik der heutigen Ukraine Einfluss zu nehmen. Die Möglichkeit einer künftigen Integration des Landes in die EU würde sowohl die politischen Konfliktlinien als auch den öffentlichen Diskurs des Landes neu strukturieren.

Weder die breite Bevölkerung der Ukraine, noch die politische Führung Russlands haben im Prinzip etwas gegen einen Beitritt der Ukraine zur EU – ganz im Gegensatz zu deren Position bezüglich einer NATO-Mitgliedschaft. Die Polemik um die Notwendigkeit und Folgen eines ukrainischen NATO-Beitritts, der zwar von der prowestlichen Elite unterstützt aber von der Mehrheit der Ukrainer sowie der Kremlführung abgelehnt wird, würde weniger akut werden. Die Ukraine könnte bereits heute zielgerichtet auf eine Annäherung an den Westen hinarbeiten ohne das dies zu einer Verschärfung in den Beziehungen zu Moskau führen würde.

Für alle Beteiligten – nicht zuletzt für die Ukrainer selbst – ist klar, dass der Weg der Ukraine in die EU lang sein würde. Daher leuchten die bekannten Begründungen für das demonstrative Schweigen der EU während der letzten Jahre nicht ein. Die gegenwärtigen Herausforderungen der Union bezüglich etwa der Reform ihrer Strukturen oder Finanzen sowie der Integration derzeitiger und anstehender Neuzugänge sind zwar enorm. Im Lichte der offensichtlichen Ferne einer schlussendlichen Vollmitgliedschaft der Ukraine überzeugt jedoch der Verweis auf die Fülle und Kompliziertheit der heutigen Probleme der Gemeinschaften nicht. Selbst ein offizielles Ja der EU zur Möglichkeit einer künftigen Mitgliedschaft der Ukraine würde die Europäische Kommission und EU-Mitgliedsländer auf dieser Stufe nur zu wenig verpflichten. Obwohl eine solche Deklaration zunächst kaum etwas an den Außenbeziehungen der EU ändern täte, würde sie die Kiewer (sowie Moskauer) Elite tief beeindrucken und der ukrainischen Bevölkerung ein wichtiges Signal vermitteln – mit entsprechenden Rückwirkungen auf Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Womöglich würden einst Historiker die Erklärung über eine prinzipielle Bereitschaft der Europäischen Union die Ukraine aufzunehmen, als ein nicht weniger wichtiges Ereignis für die ukrainische und europäische Geschichte betrachten als den eigentlichen EU-Beitritt der Ukraine.

Die EU-Staats- und Regierungschefs sollten versuchen, die Ukraine im zeithistorischen Kontext zu sehen und sich die neuere Geschichte ihrer eigenen Länder in Erinnerung rufen. Sie sollten das ahistorische Abstrahieren der heutigen ukrainischen Probleme von jenen Schwierigkeiten, mit denen auch ihre Länder vor der Teilnahme am europäischen Integrationsprozess zu kämpfen hatten, beenden. Die EU sollte im Interesse aller europäischen Völker der Ukraine offiziell die Möglichkeit einräumen, nach Erfüllung entsprechender Auflagen eine Mitgliedschaft zu beantragen. Und die EU sollte dies – ebenfalls im Interesse aller Beteiligten – besser früher als später tun.

Quelle: Dserkalo Tyshnja

(Eine gekürzte Version dieses Beitrages erschien am 1.11.2009 in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“.)

Bei der Rückübersetzung half Ilona Stoyenko

Autor:    — Wörter: 1899

Dr. Andreas Umland (1967) ist seit 2010 Dozent am Fachbereich Politikwissenschaft der Kyjiwer Mohyla-Akademie (NaUKMA) und seit 2021 Analyst am Stockholmer Zentrum für Osteuropastudien (SCEEUS) des Schwedischen Instituts für Internationale Beziehungen (UI).

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