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Gibt es ein Leben ohne Janukowitsch? Ein Nachwort

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„Die wichtigste Bewährungsprobe ist nicht die Präsidentschaft von Janukowitsch, sondern das, was aus der Ukraine wird, wenn Janukowitsch abtritt.“

„Die Maßnahmen der Regierungsriege zementieren nicht so sehr die Macht Janukowitschs, sondern vielmehr erhöhen diese das Risiko für extreme Szenarien, die gleichermaßen gefährlich für Janukowitsch und die Ukraine sind.“

„Wenn sich ein inkompetenter und verhasster Regent an den heimischen Staat kettet, kann seine Entfernung den endgültigen Zusammenbruch des Landes herbeiführen.“

Dies sind Zitate aus dem Artikel „Gibt es ein Leben ohne Janukowitsch?“, der im Februar 2011 in der Ukrainskaja Prawda veröffentlicht wurde.

Bereits ein Jahr nach der Inauguration von Wiktor Janukowitsch war klar abzusehen, dass ein gütlicher Abschied vom vierten Präsidenten nicht möglich sein würde.

Und nachdem Janukowitsch begonnen hatte, seine politischen Gegner hinter Gitter zu bringen, haben sich die Chancen auf einen friedlichen Ausgang vollends verflüchtigt.

Von da an bewegten wir uns unerbittlich auf eine Katastrophe zu und die substanzlose „Stabilität“ sollte lediglich das Präludium zu den zukünftigen Erschütterungen sein.

Viele haben das verstanden. Andere aber wollten das Offensichtliche nicht sehen, und als sich der Zusammensturz vollzog, zeigten sie mit dem Finger anklagend auf den rebellischen Euromajdan.

Gut, die Denkweise ist nachvollziehbar. Im November 2013 gab es noch keinen Krieg. Die Krim gehörte noch zur Ukraine. Der Donbass lag nicht in Ruinen. Menschen starben nicht zu Hunderten und Tausenden. Der Dollar kostete acht Hrywnja. Die Ukrainer lebten ärmlich, aber relativ friedlich. Wäre nur nicht dieser verdammte Majdan gewesen…

Und wenn es keinen Majdan gegeben hätte? Was wäre dann gewesen?

Ich wage zu behaupten, genau dasselbe – nur etwas später. Faktisch hat der Majdan das Unausweichliche lediglich beschleunigt und seine historische Bedeutung wurde zunächst überbewertet – sowohl zum Negativen als auch zum Positiven.

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Schauen wir uns einfach mal eine simple naturwissenschaftliche Analogie an. Jeder weiß, dass Wasserstoff leicht entzündlich ist, das heißt leicht mit Sauerstoff oxydiert. Im 19. Jahrhundert hat der deutsche Chemiker Döbereiner gezeigt, dass diese Reaktion unter Einsatz eines Platinkatalysators auch bei Raumtemperatur stattfinden kann.

Der tüchtige Deutsche hat daraufhin ein sicheres chemisches Feuerzeug patentieren lassen. Natürlich kann man nach eigenem Gusto das Platin dafür lobpreisen oder kritisieren, dass es mit Sauerstoff reagiert. Dies ist um einiges einfacher als zu verstehen, warum die Reaktion überhaupt stattfindet.

Der Euromajdan war ein ebensolcher Katalysator. Als ukrainischer Wasser- und Sauerstoff fungierten Dutzende von Elementen – politische, ökonomische, mentale. Zusammengemischt hätten diese längst eine explosive Mischung ergeben.

Nennen wir nur einige von ihnen.

Die Elite. Die Regierung Januowytsch wurde zu einer Art evolutionärer Sackgasse. Die Laster der einheimischen Elite – Autoritarismus, Unflätigkeit, Unangemessenheit – erreichten ihren Höhepunkt und wurden nicht mehr durch einen internen Wettbewerb kompensiert.

Im Ergebnis bekamen wir einen inkompetenten und äußerst unpopulären Präsidenten, der enorme Handlungsvollmachten in seinen Händen konzentrierte und nicht beabsichtigte abzutreten.

Dies machte einen Machtwechsel ohne Blutvergießen praktisch unmöglich. Es fällt schwer, ein dümmeres Argument gegen den Euromajdan zu finden als „richtig wäre es gewesen, auszuharren und die Wiederwahl Janukowitschs im Jahr 2015 entspannt abzuwarten“.

Bereits die Parlamentswahlen 2012 wurden von eklatanten Wahlfälschungen, Schlägereien und Tränengas begleitet. Und dabei ging damals lediglich um einige Abgeordnetenmandate.

2015 aber hätte alles auf dem Spiel gestanden. Und leider kündigte uns eben dies die bevorstehende gewaltsame Spaltung an.

Der Nachbar. Es fällt schwer zu glauben, dass die Annexion der Krim von Moskau nicht lange vor den Ereignissen im März 2014 geplant wurde. Nur ein sehr naiver Mensch kann glauben, dass die Krimoperation impromptu als Reaktion auf die Ereignisse auf dem Majdan stattfand.

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Der von Russland vorgebrachte Vorwand für die Invasion ist hierbei nicht wichtig – wichtig war seine Handlungsbereitschaft. Seine Bereitschaft, alle denkbaren und undenkbaren internationalen Normen zu missachten. Seine Bereitschaft, fremdes Territorium einzunehmen. Seine Bereitschaft, sein Nachbarland mit Separatismus unter Druck zu setzen und Soldaten zu schicken.

All dies ist im Kreml seit Langen gereift: der Point of No Return wurde sicherlich bereits 2008, während des siegreichen russisch-georgischen Krieges, erreicht. Seit dieser Zeit kann die innere Destabilisierung der Ukraine unmittelbar mit einer russischen Aggression gleichgesetzt werden.

Ohne den Majdan wäre das alles höchstwahrscheinlich erst 2015 geschehen: Wenn Janukowitsch nicht friedvoll abgetreten wäre, hätte Putin diesen turbulenten Abgang nicht für sich instrumentalisieren können.

Die Entwicklung. Revolutionen und Interventionen finden in jedem Land statt. Aber die Verluste der Ukraine – die menschlichen, territorialen, ökonomischen – sind wegen ihres ungewappneten Zustands gegenüber dieser wahren Force majeure besonders schwer.

Während morsche Rohre bis zum ersten starken Frost irgendwie funktionieren, dann übersteht eine ineffektive Staatsmaschinerie lediglich bis zur ersten ernsten Herausforderung. In all diesen Jahren hat sich die Ukraine faktisch nicht weiterentwickelt, lebte von Trägheit und baute schrittweise die verfügbaren Ressourcen ab.

Auf diese Weise kann man nur unter sehr günstigen Bedingungen existieren: wenn man zur Auffüllung der Staatskasse um Geld bittet, wenn der heruntergewirtschafteten Armee kein ernsthafter Gegner gegenübersteht, wenn das Leben keine verantwortungsvollen Entscheidungen abverlangt.

Aber das Jahr 2014 holte die Ukraine aus diesem Schongang und brachte all diese langjährigen Probleme zum Vorschein. Wir ernten heute nicht die sozio-ökonomischen Früchte des Majdans, sondern die der langjährigen ukrainischen Stagnation.

Die Spaltung. Dank der Bibel und Lincoln wissen wird, dass ein Haus, das in sich uneins ist, nicht bestehen wird. Über mehr als 20 Jahre hat uns nicht die Sprache, nicht die Nationalität oder Kultur getrennt, sondern unsere Haltung gegenüber dem ukrainischen Projekt.

Während für die einen das Jahr 1991 eine historische Folgerichtigkeit darstellt, ist dieses für andere ein unglücklicher Fehler. Die einen waren bereit, eine autonome Ukraine zu akzeptieren – eine nationalistische, liberale oder irgendeine andere Form von Autonomie.

Andere begreifen die Ukraine als natürlichen Annex Russlands. Vor echtem Hass schützte uns lediglich fehlender Aktivismus.

Solange das Land an Ort und Stelle steht, kann man sich nicht wegen unterschiedlicher Positionen hinsichtlich seiner Entwicklung anfeinden, solange niemand eine UdSSR-2 aufbaut, kann man sich wegen eines solchen Vorhabens nicht bekriegen.

Aber so hätte es nicht ewig weitergehen können. Irgendwann mussten sich die Gegenspieler in Bewegung setzen und mit den Köpfen zusammenstoßen. All dies wäre auch unabhängig davon geschehen, ob Mustafa Najem seine Mitbürger zur Tea-Party aufruft, oder nicht.

Entsprechend sind die großen Schocks des Jahres 2014 lediglich indirekt mit dem Euromajdan verbunden. Wie aber sehen seine direkten Resultate aus?

Wegen des Majdans haben wir lediglich ein überflüssiges Jahr der Illusion, der Selbstzufriedenheit und des Selbstbetrugs verloren.

Im Verlauf des Jahres konnte man das Beste glauben und hoffen, dass sich alles irgendwie noch zum Guten entwickelt.

Dass Janukowitsch ohne Blutvergießen abtreten würde. Dass der Kreml die Ukraine in Ruhe lassen würde – ohne Krieg. Dass im 21. Jahrhundert internationales Recht etwas bedeuten würde. Dass sich die Widersprüche, die sich über viele Jahre anhäuften, von allein auflösen würden…

Der Majdan führte zu einer vorzeitigen Ernüchterung. Darin liegt aber auch sein Wert. Und deshalb hassen ihn diejenigen, die es vorgezogen hätten, in einer komfortablen Scheinwelt zu leben.

In einer Welt, in der die unvermeidliche Katastrophe hinter falscher „Stabilität“ hätte verborgen werden können.

In einer Welt, in der niemand darüber nachdenken würde, ob es ein Leben ohne Putin gibt.

29. November 2014 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:    — Wörter: 1155

Jahrgang 1978. Yvonne Ott hat Slavistik und Wirtschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg studiert. Seit 2010 arbeitet sie als freie .

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