Vorhersagbarkeit war noch nie eine starke Eigenschaft der Ukraine. Die kommenden Wahlen bilden da keine Ausnahme. Wir sehen regelmäßig neue Umfragewerte und streiten über die Ziffern nach dem Komma. Wir diskutieren potenzielle Neulinge und die mögliche Wahlbeteiligung. Wir erinnern uns an den letzten Wahlkampf, als der zukünftige Präsident in den letzten Monaten vor der Wahl plötzlich andere Mitbewerber ausstach.
Theoretisch sind wir auch jetzt nicht sicher vor Unerwartetem. Es ist noch mehr als ein halbes Jahr bis zu den Wahlen. Ein Drittel der Wähler ist noch unentschieden bezüglich der Wahl. Die Favoriten des Rennens jagen sich gegenseitig die Prozente ab. Das ist der ideale Spielraum für „schwarze Schwäne“ (Bezugnahme auf eine Theorie des Libanesen Nassim Nicholas Taleb über die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, A.d.R.).
Doch die Hauptintrige erwartet uns nicht in den Wahlbüros. Die Frage ist, was kommt danach.
Das Schlüsselproblem der Ukraine besteht darin, dass es bei uns keine klar gezogenen roten Linien gibt. Eben solche, die sich kein Politiker zu überschreiten traut. Jeder von ihnen hat in der Stufe der Unvorhersehbarkeit Donald Trump einiges voraus.
Aussöhnung nach dem Moskauer Szenario? Verzicht auf die besetzten Gebiete? Anschalten der Gelddruckmaschine? Korruptionsbeladener Patriotismus? Zensur? Wiederaufnahme des Handels mit der Russischen Föderation? In den Parteiprogrammen können wir die unglaublichsten Szenarien entdecken.
Jeder ukrainische Politiker ist ein „schwarzer Schwan“. Nichts hält seine Exzentrik zurück. Parteien existieren nicht, sie sind der stumme Anhang der Leader. Die Institute sind schwach. Der Wähler ist desorientiert. Das heißt, man kann ihm alles Mögliche verkaufen.
Und das alles trägt zur Fragilität des aktuellen Status quo bei.
In den letzten vier Jahren lebt die Ukraine im Raum der ernsthaftesten Herausforderungen ihrer gesamten neueren Geschichte. Der Krieg ist nicht beendet. Die Gebiete sind besetzt. Moskau hört nicht auf den ukrainischen Staat zu sabotieren, und die Wirtschaft hat sich nur dank westlicher Geldgeber stabilisiert.
Es reicht, ein paar Ziegel aus dem Fundament zu entfernen, damit die ganze Konstruktion zusammenbricht.
Der Preis eines beliebigen Fehlers im System könnte unglaublich hoch sein.
Nein, es ist nichts Verwunderliches daran, dass Streitigkeiten über Politik der Hitzigkeit an religiösen Streit erinnern. Auf der einen Seite der Barrikade sind die, die sich mit der aktuellen unvollkommenen Unvorhersagbarkeit abfinden. Auf der anderen Seite sind die, die bereit sind, einen neuen Einsatz im ukrainischen Politik-Kasino zu wagen.
Zudem gibt es in der Gesellschaft die Illusion des „Glücks-Schalters“, mit dessen Hilfe man in einem Moment die Realität ändern und man sie in die Stadien „vorher“ und „nachher“ unterteilen kann.
Eine Realität, in der man alles Schlechte hinter sich lässt und das Land in Zukunft Jahrzehnte sorgenfreier Blüte erwarten. Im Ergebnis entsteht ein idealer Nährboden für Manipulation.
Übrigens ist die Ukraine mit dem Wunsch nach einem plötzlichen Wunder nicht allein. Genau dieselbe Nachfrage bringt Exzentriker in den verschiedensten Ländern der Welt an die Macht. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass während die anderen Länder ihre Wirtschaft riskieren, unser Einsatz unsere Unabhängigkeit sein könnte.
Alles könnten eben jene „roten Linien“ ändern, dieser gemeinsame Nenner in den unterschiedlichen Parteiprogrammen.
Man muss nur das Offensichtliche anerkennen. Der Krieg im Donbass kann nicht schnell beendet werden, man muss sich entweder verteidigen oder kapitulieren. Der Handel mit Russland ist Gift, weil er das Feld für politische Korruption vergrößert. Jegliche wirtschaftliche Monopole sind schädlich.
Man muss nach seinen Verhältnissen leben, die Schwelle für Geschäftseröffnungen für den Bürger senken, ihn nicht an Geschenke gewöhnen, die staatliche Regulierung aufweichen, Institute bauen, das Land und seine Reputation nicht zur Geisel der eigenen Ambitionen machen.
Aber es liegt auch ein Witz darin, dass ein gemeinsamer bedingungsloser Nenner in der ukrainischen Politik nicht existiert. Letztendlich erinnern die Wahlen an den Stein in den Heldensagen: Gehst du nach links, verlierst du die Wirtschaft, gehst du nach rechts, verlierst du die Souveränität, geradeaus verlierst du Zeit.
Und in dieser Situation möchten viele Zuschauer die weiße Weste zur Schau tragen, auf das moralisch-ethische Podest steigen und die eigene Nichtbeteiligung demonstrieren. Aber so funktioniert es nicht.
Jede Wahl bietet Raum für eine schwierige Wahl, meistens die des geringeren Übels. Der Verzicht auf den Gang ins Wahllokal ist lediglich das Einverständnis mit der Wahl, die andere treffen, die Kastration der eigenen Subjektivität.
Sie können nicht die Verantwortung für das Land auf sich nehmen. Aber das heißt nicht, dass es nicht von Ihnen abhängt.
21. Juli 2018 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Den ersten Kommentar im Forum schreiben