OK!

Diese Website setzt Cookies für personalisierte Werbung und statistische Zwecke ein und es werden Daten zeitweilig gespeichert. Mehr Informationen zum Datenschutz

FacebookXVKontakteTelegramWhatsAppViber

Maja, ihre Mütter und der Wettbewerb der Ideen

Maja und ihre Mütter - Collage
Für die „Konservativen“ ist bereits der Gedanke an die Existenz einer Alternative unerträglich.

Vom Skandal um das Buch von Laryssa Denysenko (Maja und ihre Mütter, Kiew 2017, Verlag „Verlag“, in der 1. Auflage von der Böll-Stiftung unterstützt, Anm. d. Übers.) haben wohl schon alle gehört. Und alle, die das wollten, haben ihre Wut über das Geschrei von „Obskurantismus“ oder „Tolerastentum“ ausgesprochen. Hinter den Kulissen dieses Konflikts lassen sich aber tiefe Probleme und feine Nuancen erkennen.

Im Grunde ist in Lwiw nichts Neues passiert: Neulich hatten wir einen weiteren Konflikt zum Thema LGBT, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuelle. Wenn im Buch von Laryssa Denysenko kein gleichgeschlechtliches Paar vorkäme, hätten die Rechtsradikalen nicht darauf reagiert. Egal, was die Leute sagen: in diesem Konflikt ging es um die Werte. Für eine Seite ist eine homosexuelle Familie eine Verrückung der Norm, für die andere nicht. Es ist klar, dass keine Seite die Werte ihrer Gegner anerkennt: „falsche Grundannahmen“, „Perversion“, „falsche Perspektiven“ – alles Mögliche, aber keine Werte. Das ist auch keine Neuigkeit, denn wir, wir sind immer Held und Geheimagent, sie aber ein unheimlicher Spion. So ist das halt, in der Sache ändert sich daran nichts. So können wir also jetzt von der Konkurrenz von zwei Wertparadigmen sprechen: einem sozusagen „liberalen“ und einem sozusagen „konservativen“. Werte-Systeme gibts natürlich viel mehr, aber wir werden einstweilen nicht Ockham bemühen.

Die Ukrainer sind ein ziemlich konservatives Volk, so zählen tendenziell „Liberale“ mit ihrem Verlangen nach Dominanz zur Opposition. Mittlerweile reagieren die „Konservativen“, die an eine dominierende Stellung gewöhnt sind, sehr schmerzlich auf das kleinste Auftauchen oppositioneller Aktivitäten. Nun mal aber ehrlich, kann etwa ein kleines Büchlein, das kaum sich für den Rang eines nationalen Bestellers beanspruchen kann, irgendeinen Einfluss haben? Es zeigt sich, dass jedenfalls für einige Konservative bereits der Gedanke daran unerträglich ist, dass in der Ukraine eine gewisse Alternative bestehen könnte und dass sie als einzige annehmbare Situation die vollständige ideologische Alleinherrschaft in Geiste der UdSSR ansehen. Von der gleichen Hegemonie träumen übrigens auch die „Liberalen“, einige Akteure verbergen nicht ihre leninistischen Fantasien, darüber aber ein anderes Mal). Nun und daher rühren die wesentlichen Probleme der „Konservativen“.

Dass in einer Gesellschaft für eine gewisse Zeit Werte dominieren, ist ein Ergebnis des Wettbewerbs verschiedener Wertsysteme. Dieses Ergebnis aber ist nie endgültig: Die jetzigen Sieger mögen morgen schon Verlierer sein. Diesen Gedanken zu akzeptieren sind nicht alle bereit: was denn, wir, die Träger der einzigen wahren Werte, sollten mit diesen Kretins in Wettbewerb treten, die ihren Unsinn verbreiten? Als Resultat reagieren sie auf die Aktivierung von Konkurrenten mit der Faust oder mit dem Hieb des administrativen Verwaltungs-Hebels auf die Wirbelsäule, nicht aber durch Intensivierung eigener Aktivitäten. Wenn man in einer dominierenden Position sich befindet, dann kann man sich lange Zeit mit kräftigen Antworten begnügen und sich als Vorherrscher fühlen. Aber dieses Gefühl ist trügerisch. Beruft man sich auf Stärke, darauf, dass man den Gegner einschüchtern und zerstreuen kann, so kann man leicht seine eigene Wettbewerbsfähigkeit verlieren.

Worum geht es? Die ältere Generation wird sich erinnern, wie leicht in den 1990er Jahren Marxisten-Leninisten zu Demokraten, Nationalisten, Anhängern verschiedener Sekten und pseudowissenschaftlicher Lehren wurden. Es geht nicht um die politischen Wendehälse, sondern um gewöhnliche Menschen und ihre persönliche intellektuelle Suche. Warum war die so rätselhafte sowjetische Ideologie der Sowjetunion so leicht in eine offensichtliche Spinnerei eines Kaschpirowski oder Roerich zu verwandeln? (Ersterer war ein Wunderheiler, letzterer Theosoph, Anm. d. Ü.) Abgesehen davon, dass die Sowjetunion ein monströses Staatsgefängnis war, wohl auch deshalb, weil die sowjetische ideologische Fassade schon lange ihre Attraktivität verloren hatte und sich nur infolge von Druck aufrecht erhielt. Es war eine Reihe verstümmelter Dogmen, die weder durch die Praxis noch durch die Aufrichtigkeit derer gestützt war, die sich für sie aussprachen. Deshalb begannen, als der Zwang aufhörte, vom KGB gejagte Abweichler und randständige Beherrscher der öffentlichen Meinung zu werden. Und die hungrige gelangweilte Gesellschaft lief los, die verbotenen weltklassischen Geschmäcklereien aufzuschnappen.

Klar, alle historischen Analogien sind relativ, aber Ähnliches kann man auch in der gegenwärtigen Ukraine beobachten. Ja, die Mehrheit der Ukrainer nennt sich heute Christen. Aber ist das deshalb, weil die Kirche – konfessionelle Einzelheiten lassen wir mal außer Acht – eine dermaßen große gesellschaftliche Autorität genießt? Wohl kaum, eher geht es um eine Trägheit, die von dem Ausbruch der religiösen Wiedergeburt der 1990er Jahre herrührt. Klar, unsere Politiker mögen es, in der Kirche zu posieren, aber die Mehrheit der Ukrainer ist drei Mal pro Jahr in der Kirche zum Empfang des Sakraments noch weniger. Welcher Anteil der erklärten Christen kann das Glaubensbekenntnis auswendig aufsagen? Wie viel von ihnen haben wenigstens einmal im Leben eine mehr oder weniger anständige Katechese angehört? Besser darüber gar nicht nachdenken! Und die Situation ändert sich nicht, selbst wenn die Volksabgeordneten das „Vaterunser“ lesen oder sogar den Rosenkranz beten sollten.

Das Gleiche betrifft den nichtreligiösen Teil der „Konservativen“, deren Werte sich ebenso an die Trägheit anklammern und erheblich weniger praktiziert werden, als mancher gerne möchte. Im vergangenen Jahr fielen mehr als 35.000 „traditionelle“ Familien auseinander, und wie viele von ihnen waren von Gewalt, Vernachlässigung und anderen üblen Sachen betroffen? Seit der Zeit der Unabhängigkeit ist die Anzahl der Kinder in der Ukraine um die Hälfte gesunken, mehr als 100.000 Kinder leben in Internaten, von ihnen haben 90 Prozent lebende Eltern. Es ist kaum wahrscheinlich, dass all das von „offen provokativen Präsentationen und von LGBT-Paraden kommt. Das geschieht, weil diese „traditionellen Werte“ mehr deklariert als praktiziert werden. Und üblicherweise deklariert man sie nur, bevor man eine Reihe von Bedrohungen gegenüber den ideologischen Konkurrenten ausspricht.

Würden die Befürworter des „Konservatismus“ sich wirklich um ihre Werte kümmern, dürften sie nicht mit den Fäusten wackeln, sondern würden einen wirklichen Wettkampf um die Herrschaft in der Gesellschaft beginnen. Zum Beispiel darum, qualitativ hochwertige Kinderbücher zu schreiben, Bildungsstrukturen zu schaffen, für soziale Transformationen zu kämpfen usw. Nur so, indem man die Herausforderungen der Zeit beantwortet, kann man gewisse Ideen in die Gesellschaft einbringen und gleichzeitig auch sich selbst von toten Dogmen reinigen, die ihre Zeit überlebt haben. Aber dafür muss man vor allem seinen eigenen Stolz überwinden und die sündige Erde betreten, dahin, wo der Sieg ein Ergebnis tagtäglicher Anstrengungen ist, und nicht ein Geschenk des Schicksals oder der Vorsehung.

14. September 2017 // Hryhorij Schwez

Quelle: Zachid.net

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Anm. d. Übers.: Im Vorfeld des Lemberger Buchforums erhoben sich wiederholt Drohungen gegen die Präsentation des provokativen Kinderbuches. Rechtsradikale Jugendliche versuchten zu Beginn des Buchforums gewaltsam das Gelände zu besetzen und nutzten auf diese Weise die Möglichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Das Buch wurde weiterhin wie geplant im Freigelände verkauft, nur eine öffentliche Präsentation fiel aus, die stattdessen die Radikalen auf andere Weise erwirkt hatten. Mittlerweile wurden zwei Auflagen verkauft. Weitere provokative Buchvorstellungen sind bereits geplant.

Das Buch liegt auch als PDF vor: Мая та її мами

Eine große Präsentation des Buches gab es am 2. Tag des 24. Buchforums, am 14. September im zentral am Marktplatz gelegenen großen Event-Restaurant Kopalna Kavy, vgl. beispielsweise bookforum.ua

Übersetzer:    — Wörter: 1157

Christian Weise trägt seit 2014 übersetzend und gelegentlich schreibend bei zu den Ukraine-Nachrichten. Im Oktober 2020 erschienen von ihm zwei literarische Übersetzungen: Vasyl’ Machno, Das Haus in Baiting Hollow. Leipziger Literaturverlag und Yuriy Tarnawsky, Warme arktische Nächte. Ibidem, Stuttgart. Im Januar 2020 bereits erschien seine Übersetzung des Bandes Verfolgt für die Wahrheit. Ukrainische griechisch-katholische Gläubige hinter dem Eisernen Vorhang. Ukrainische katholische Universität, Lwiw.

Mit ukrainischen Themen ist er seit 1994 vertraut, als er erstmals Kiew und Lemberg besuchte und sich zunächst mit kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigte. Wenn nicht Pandemien hindern, bereist er etwa fünfmal im Jahr die Ukraine.

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Bluesky, Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und täglich oder wöchentlich per E-Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 5.0/7 (bei 1 abgegebenen Bewertung)

Kommentare

Neueste Beiträge

Aktuelle Umfrage

Werden die von Trump eingeleiteten Friedensgespräche erfolgreich sein?
Ja!
21% / 22 Teilnehmer
Nein!
40% / 42 Teilnehmer
Es wird erst gar nicht zu Verhandlungen kommen!
13% / 13 Teilnehmer
Welche Friedensgespräche?
23% / 24 Teilnehmer
Weiß nicht ...
3% / 3 Teilnehmer
Stimmen insgesamt: 104
Abstimmen
Frühere Umfragen
Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)11 °C  Ushhorod13 °C  
Lwiw (Lemberg)13 °C  Iwano-Frankiwsk14 °C  
Rachiw9 °C  Jassinja10 °C  
Ternopil13 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)14 °C  
Luzk14 °C  Riwne14 °C  
Chmelnyzkyj13 °C  Winnyzja13 °C  
Schytomyr12 °C  Tschernihiw (Tschernigow)9 °C  
Tscherkassy10 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)10 °C  
Poltawa9 °C  Sumy9 °C  
Odessa13 °C  Mykolajiw (Nikolajew)12 °C  
Cherson11 °C  Charkiw (Charkow)9 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)10 °C  Saporischschja (Saporoschje)11 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)10 °C  Donezk10 °C  
Luhansk (Lugansk)9 °C  Simferopol11 °C  
Sewastopol14 °C  Jalta12 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Hallo liebe Forengemeinde und Mitleser, ich bin gerade auf einem Kurztripp durch die Ukraine. Es ist wunderschön wieder hier zu sein. Es fehlen die Touristen, gestern habe ich einen persönlichen und...“

„Kurzer Bericht, hab dann doch den Wachwechsel erwischt, bei den Polen ging dann bestimmt 45 Minuten gar nix. Und dann wurde in zwei Schüben eingelassen, ich finde, dann ging es in einem guten Tempo voran....“

„Bin jetzt da, 10 PKW vor mir, das ist akzeptabel, ist ja auch der 1.Mai. Bin zufrieden mit der Situation. @Frank Fahre immer noch ein schwarzes Auto... kennst doch meine Erfahrung mit der Polizei in UA...Kaffeebraun...“

„Probier doch einfach. Wenn der offen ist doch alles ok. Bin da glaube mal zurück drüber gefahren. War dann nur eine ewige Kurverei bis zur A4. Bin da aber eh erstmal bis Krakau. Kann natürlich auch...“

„Schade, dass es keine Info´s zu Zosin gibt, wer aber noch was weiß, bitte schreiben, ich fahre jetzt in 30 Minuten los und kann immer noch in ca. 10h bei einem Stopp nochmals nachlesen. Google Maps schickt...“

„Diesen Grenzübergang hatte ich schon auf dem Schirm, kenne ihn nur noch nicht. Kann jemand noch etwas zu Zosin sagen, wäre ja auch machbar oder lieber nicht? Vielen Dank Bernhard.“

„Hallo Bernd Es hängt etwas davon ab, wohin Du in Ukraine fahren möchtest. So wie es scheint möchtest Du (wie ich normalerweise) in Richtung Kiew fahren. Ich benütze deshalb seit Jahren den Übergang...“

„Ergänzend, möchte nach Luzk fahren, ist ja sicherlich nicht uninteressant für einen Ratschlag.“

„Möchte morgen über Nacht in die Ukraine fahren und plane die Ankunft an der Grenze sehr früh am Morgen. Fahre entweder über Polen oder ggf. über Tschechien, je nachdem was google maps empfiehlt. Normalerweise...“

„Das ist ein simples D-Visum, wie man es auch in Deutschland für die Beantragung einer Aufenthaltsgenehmigung braucht. Man benötigt dazu keine Mindestaufenthaltszeit. Auch bei der Aufenthaltserlaubnis...“

„Zunächst möchte ich sagen, daß die PKP für die Sitzplatzzüge, die zum Beispiel von Kattowitz bis nach Przemysl fahren, die Preise nicht erhöht hat. Allgemein gilt die Polnische Staatsbahn eher als...“

„"Warum verlangt die PKP von den Fahrgästen solch einen Preis ?" - Weil sie es können ... Die Nachfrage dürfte weiter hoch sein und weil es keine vergleichbaren Alternativen gibt (Buslinien über Nacht...“

„Die Polnische Staatseisenbahn PKP Intercity S.A. erhöhte für den Schlafwagen-Zug D 68 am 1. Februar 2025 die Fahrpreise um + 38 Prozent. : Vom Warschauer Ostbahnhof fährt abends um 17.49 Uhr der Schlafwagen-Zug...“

„Hallo. Meine Ex-Frau ist schon über 22 Jahre in Deutschland. Jetzt benötigt sie einen Termin für das Konsulat. Aber es werden nur Termine über Diia vergeben. Kann uns jemand erklären wie das genau...“

„Hallo..... Ich benötige nochmals euer Schwarmwissen.... Bin seit Dezember letzten Jahres in der Ukraine verheiratet worden Jetzt meine Frage.....ich habe auf der Seite der ukrainischen Botschaft einen...“