Für die „Konservativen“ ist bereits der Gedanke an die Existenz einer Alternative unerträglich.
Vom Skandal um das Buch von Laryssa Denysenko (Maja und ihre Mütter, Kiew 2017, Verlag „Verlag“, in der 1. Auflage von der Böll-Stiftung unterstützt, Anm. d. Übers.) haben wohl schon alle gehört. Und alle, die das wollten, haben ihre Wut über das Geschrei von „Obskurantismus“ oder „Tolerastentum“ ausgesprochen. Hinter den Kulissen dieses Konflikts lassen sich aber tiefe Probleme und feine Nuancen erkennen.
Im Grunde ist in Lwiw nichts Neues passiert: Neulich hatten wir einen weiteren Konflikt zum Thema LGBT, also Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transsexuelle. Wenn im Buch von Laryssa Denysenko kein gleichgeschlechtliches Paar vorkäme, hätten die Rechtsradikalen nicht darauf reagiert. Egal, was die Leute sagen: in diesem Konflikt ging es um die Werte. Für eine Seite ist eine homosexuelle Familie eine Verrückung der Norm, für die andere nicht. Es ist klar, dass keine Seite die Werte ihrer Gegner anerkennt: „falsche Grundannahmen“, „Perversion“, „falsche Perspektiven“ – alles Mögliche, aber keine Werte. Das ist auch keine Neuigkeit, denn wir, wir sind immer Held und Geheimagent, sie aber ein unheimlicher Spion. So ist das halt, in der Sache ändert sich daran nichts. So können wir also jetzt von der Konkurrenz von zwei Wertparadigmen sprechen: einem sozusagen „liberalen“ und einem sozusagen „konservativen“. Werte-Systeme gibts natürlich viel mehr, aber wir werden einstweilen nicht Ockham bemühen.
Die Ukrainer sind ein ziemlich konservatives Volk, so zählen tendenziell „Liberale“ mit ihrem Verlangen nach Dominanz zur Opposition. Mittlerweile reagieren die „Konservativen“, die an eine dominierende Stellung gewöhnt sind, sehr schmerzlich auf das kleinste Auftauchen oppositioneller Aktivitäten. Nun mal aber ehrlich, kann etwa ein kleines Büchlein, das kaum sich für den Rang eines nationalen Bestellers beanspruchen kann, irgendeinen Einfluss haben? Es zeigt sich, dass jedenfalls für einige Konservative bereits der Gedanke daran unerträglich ist, dass in der Ukraine eine gewisse Alternative bestehen könnte und dass sie als einzige annehmbare Situation die vollständige ideologische Alleinherrschaft in Geiste der UdSSR ansehen. Von der gleichen Hegemonie träumen übrigens auch die „Liberalen“, einige Akteure verbergen nicht ihre leninistischen Fantasien, darüber aber ein anderes Mal). Nun und daher rühren die wesentlichen Probleme der „Konservativen“.
Dass in einer Gesellschaft für eine gewisse Zeit Werte dominieren, ist ein Ergebnis des Wettbewerbs verschiedener Wertsysteme. Dieses Ergebnis aber ist nie endgültig: Die jetzigen Sieger mögen morgen schon Verlierer sein. Diesen Gedanken zu akzeptieren sind nicht alle bereit: was denn, wir, die Träger der einzigen wahren Werte, sollten mit diesen Kretins in Wettbewerb treten, die ihren Unsinn verbreiten? Als Resultat reagieren sie auf die Aktivierung von Konkurrenten mit der Faust oder mit dem Hieb des administrativen Verwaltungs-Hebels auf die Wirbelsäule, nicht aber durch Intensivierung eigener Aktivitäten. Wenn man in einer dominierenden Position sich befindet, dann kann man sich lange Zeit mit kräftigen Antworten begnügen und sich als Vorherrscher fühlen. Aber dieses Gefühl ist trügerisch. Beruft man sich auf Stärke, darauf, dass man den Gegner einschüchtern und zerstreuen kann, so kann man leicht seine eigene Wettbewerbsfähigkeit verlieren.
Worum geht es? Die ältere Generation wird sich erinnern, wie leicht in den 1990er Jahren Marxisten-Leninisten zu Demokraten, Nationalisten, Anhängern verschiedener Sekten und pseudowissenschaftlicher Lehren wurden. Es geht nicht um die politischen Wendehälse, sondern um gewöhnliche Menschen und ihre persönliche intellektuelle Suche. Warum war die so rätselhafte sowjetische Ideologie der Sowjetunion so leicht in eine offensichtliche Spinnerei eines Kaschpirowski oder Roerich zu verwandeln? (Ersterer war ein Wunderheiler, letzterer Theosoph, Anm. d. Ü.) Abgesehen davon, dass die Sowjetunion ein monströses Staatsgefängnis war, wohl auch deshalb, weil die sowjetische ideologische Fassade schon lange ihre Attraktivität verloren hatte und sich nur infolge von Druck aufrecht erhielt. Es war eine Reihe verstümmelter Dogmen, die weder durch die Praxis noch durch die Aufrichtigkeit derer gestützt war, die sich für sie aussprachen. Deshalb begannen, als der Zwang aufhörte, vom KGB gejagte Abweichler und randständige Beherrscher der öffentlichen Meinung zu werden. Und die hungrige gelangweilte Gesellschaft lief los, die verbotenen weltklassischen Geschmäcklereien aufzuschnappen.
Klar, alle historischen Analogien sind relativ, aber Ähnliches kann man auch in der gegenwärtigen Ukraine beobachten. Ja, die Mehrheit der Ukrainer nennt sich heute Christen. Aber ist das deshalb, weil die Kirche – konfessionelle Einzelheiten lassen wir mal außer Acht – eine dermaßen große gesellschaftliche Autorität genießt? Wohl kaum, eher geht es um eine Trägheit, die von dem Ausbruch der religiösen Wiedergeburt der 1990er Jahre herrührt. Klar, unsere Politiker mögen es, in der Kirche zu posieren, aber die Mehrheit der Ukrainer ist drei Mal pro Jahr in der Kirche zum Empfang des Sakraments noch weniger. Welcher Anteil der erklärten Christen kann das Glaubensbekenntnis auswendig aufsagen? Wie viel von ihnen haben wenigstens einmal im Leben eine mehr oder weniger anständige Katechese angehört? Besser darüber gar nicht nachdenken! Und die Situation ändert sich nicht, selbst wenn die Volksabgeordneten das „Vaterunser“ lesen oder sogar den Rosenkranz beten sollten.
Das Gleiche betrifft den nichtreligiösen Teil der „Konservativen“, deren Werte sich ebenso an die Trägheit anklammern und erheblich weniger praktiziert werden, als mancher gerne möchte. Im vergangenen Jahr fielen mehr als 35.000 „traditionelle“ Familien auseinander, und wie viele von ihnen waren von Gewalt, Vernachlässigung und anderen üblen Sachen betroffen? Seit der Zeit der Unabhängigkeit ist die Anzahl der Kinder in der Ukraine um die Hälfte gesunken, mehr als 100.000 Kinder leben in Internaten, von ihnen haben 90 Prozent lebende Eltern. Es ist kaum wahrscheinlich, dass all das von „offen provokativen Präsentationen und von LGBT-Paraden kommt. Das geschieht, weil diese „traditionellen Werte“ mehr deklariert als praktiziert werden. Und üblicherweise deklariert man sie nur, bevor man eine Reihe von Bedrohungen gegenüber den ideologischen Konkurrenten ausspricht.
Würden die Befürworter des „Konservatismus“ sich wirklich um ihre Werte kümmern, dürften sie nicht mit den Fäusten wackeln, sondern würden einen wirklichen Wettkampf um die Herrschaft in der Gesellschaft beginnen. Zum Beispiel darum, qualitativ hochwertige Kinderbücher zu schreiben, Bildungsstrukturen zu schaffen, für soziale Transformationen zu kämpfen usw. Nur so, indem man die Herausforderungen der Zeit beantwortet, kann man gewisse Ideen in die Gesellschaft einbringen und gleichzeitig auch sich selbst von toten Dogmen reinigen, die ihre Zeit überlebt haben. Aber dafür muss man vor allem seinen eigenen Stolz überwinden und die sündige Erde betreten, dahin, wo der Sieg ein Ergebnis tagtäglicher Anstrengungen ist, und nicht ein Geschenk des Schicksals oder der Vorsehung.
14. September 2017 // Hryhorij Schwez
Quelle: Zachid.net
Anm. d. Übers.: Im Vorfeld des Lemberger Buchforums erhoben sich wiederholt Drohungen gegen die Präsentation des provokativen Kinderbuches. Rechtsradikale Jugendliche versuchten zu Beginn des Buchforums gewaltsam das Gelände zu besetzen und nutzten auf diese Weise die Möglichkeit auf sich aufmerksam zu machen. Das Buch wurde weiterhin wie geplant im Freigelände verkauft, nur eine öffentliche Präsentation fiel aus, die stattdessen die Radikalen auf andere Weise erwirkt hatten. Mittlerweile wurden zwei Auflagen verkauft. Weitere provokative Buchvorstellungen sind bereits geplant.
Das Buch liegt auch als PDF vor: Мая та її мами
Eine große Präsentation des Buches gab es am 2. Tag des 24. Buchforums, am 14. September im zentral am Marktplatz gelegenen großen Event-Restaurant Kopalna Kavy, vgl. beispielsweise bookforum.ua
Den ersten Kommentar im Forum schreiben