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Tag ohne Helden

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Zwei ideologische Lager — das national-patriotische und das russisch-sowjetische — strahlen eine Begeisterung für den Militarismus aus, der sich einzig durch die Farbe der Bänder unterscheidet. Wenn etwas die heutige Ukraine konsolidieren kann, dann sind das bereits nicht mehr die Heldenmythen. Gemeinsame Helden gab es bei uns nicht und wird es nicht geben. Dafür gibt es eine Lehre aus der Geschichte, die es zu studieren gilt …

Stockholm am 19. Januar 1918. Ein normaler Arbeitstag. Die Menschen gehen ihren Angelegenheiten nach, arbeiten in Kontoren und Fabriken, erziehen ihre ungehorsamen Kinder, wirtschaften im Haushalt – mit einem Wort, sie leben einfach.

In Anbetracht dieses langweiligen Bildes fällt es schwer, zu glauben, dass am anderen Ende Europas heldenhafte Dinge vor sich gehen.

An diesem Tag schickte die ukrainische Führung, die sich keine adäquate Unterstützung hatte sichern oder eine kampffähige Armee hatte schaffen können, ungelernte Studenten und Gymnasiasten in die Schlacht. Wie zu erwarten war, wurden die jungen Helden bei Kruty vernichtend geschlagen. Ihr Kampf für eine unabhängige Ukraine blieb genauso ergebnislos, wie die darauf folgenden Versuche der UPA-Helden.

Danach zerbröselt Saudi-Arabien die Weltmarktpreise für Öl und der Kollaps der sowjetischen Wirtschaft bringt allen Republiken der Sowjetunion die Unabhängigkeit –darunter auch jenen, die kein eigenes Kruty hatten oder über mächtige Befreiungsbewegungen verfügten.

Während die ukrainischen Helden bei Kruty starben, probten die sowjetischen Helden – die Arbeiter der Fabrik „Arsenal“ – in der Hauptstadt Kiew den Aufstand. Sie kämpften und starben für die Freiheit der Werktätigen, für ein glückliches und reiches Leben, für eine gerechte Gesellschaft ohne die Ausbeutung des Einen durch den Anderen.

Das Ergebnis ist allen bekannt – die Errichtung der grausamsten Diktatur, der GULAG, die mit einem hohen Lebensstandard unvereinbare Kommandowirtschaft, und schließlich, der totale Zusammenbruch des sowjetischen Systems.

An diesem Januartag setzten sich die Kampfhandlungen an den Fronten des Ersten Weltkriegs auch nicht ohne Heldentum fort.

Die englischen Helden brannten darauf, den Krieg zu gewinnen, der alle Kriege für immer beenden würde.

The War That Will End War – dieser klangvolle Slogan, von H. G. Wells vorgelegt, veranlasste die tapferen Briten zu Heldentaten und Selbstaufopferung.

Die deutschen Helden opferten sich für das große Reich. Ihr Kampf brachte der deutschen Nation weder Ruhm noch Macht, sondern Zerstörung und Demütigung. Ebenso kläglich scheiterte der Versuch einer Revanche, der von den neuen Helden des Reiches unternommen wurde. Später nahm Deutschland trotzdem die dominierende Rolle in Europa ein, aber nicht mit Waffengewalt, sondern mithilfe einer produktiven Ökonomie.

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Im Januar 1918 erinnerte nur noch wenig an die serbischen Helden, die das weltweite Blutbad mit der heldenhaften Ermordung des Ehepaars in Sarajewo begonnen hatten. Sie träumten von einem großen Serbien.

Was sind die Früchte ihres selbstlosen Kampfes? Die Errichtung eines künstlichen Konglomerats, neue verheerende Kriege und ethnische Säuberungen, der unrühmliche Zerfall eines nicht lebensfähigen Staatsgebildes…

Und so erwiesen sich die Ziele, in deren Namen die Helden des Jahres 1918 mordeten und starben, entweder als utopisch und unerreichbar, oder sie wurden mit anderen Mitteln erreicht – ohne Blutvergießen, aber weitaus effektiver.

Diese traurige Tendenz nahm eine weitere Entwicklung. Im XX. Jahrhundert wurden mindestens drei ambitionierte Projekte in Angriff genommen, die in eine goldene Zukunft führen sollten – das kommunistische Experiment, das „Neue Europa“, die Dekolonisierung.

Alle drei Projekte waren mit reichlich Blutvergießen verbunden und mit fanatischem Heroismus gewürzt, brachten aber nicht die erwarteten Resultate. Der todbringende Kredit, den man für das zukünftige Heil aufgenommen hatte, wurde nie zurückgezahlt.

Das vergangene Jahrhundert war überaus reich an Helden, und heute ruft man uns dazu auf, sie zum Beispiel zu nehmen. Aber leider kämpften die wackeren Helden häufig ins Leere. Ihre Heldentaten erwiesen sich als fruchtlos, ihre Tode als sinnlos.

Viele von uns werden diese offensichtliche Tatsache niemals anerkennen. Der Heldenkult hängt mit einem bizarren Wertesystem zusammen, in dem der Kampf wichtiger ist als das Resultat und sinnlose Selbstaufopferung den realen Nutzen überlebt.

Eine ähnliche Geistesverwirrung drückte sich auch in der skandalösen Replik von Herrn Putin aus, der stolz erklärte, dass „die größten Verluste im Großen Vaterländischen Krieg eben die RSFSR davontrug – mehr als 70%“.

Als Antwort begann einer unserer empörten Landsleute die ukrainischen Leichname und Verluste aufzuzählen. Obwohl man die schrecklichen Verluste wohl kaum für ein Synonym des Erfolgs halten kann.

Die sowjetischen Soldaten, welche bei den massenhaften Offensivoperationen des Jahres 1942 ums Leben kamen, hatten keinen größeren Anteil am Sieg über Deutschland, als die verlorenen Helden des Ersten Weltkriegs – hunderttausende Franzosen und Engländer, die vom stümperhaften General Nivelle vor die deutschen Maschinengewehre gejagt worden waren.

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Warum verwandeln sich vergebliche Opfer so eifrig in tapfere Helden? Dafür gibt es einige gewichtige Gründe.

Zum einen ist der Heldenkult ein unentbehrliches Versteckspiel für die Machthaber. Der einfache Arbeiter kann die von ihnen verdorbene Produktion der „heldenhaft Gestorbenen“ nicht erklären.

Inkompetente Führer und Feldherren haben diese Möglichkeit. Je mehr stumpfes Selbstbewusstsein, Kurzsichtigkeit, grobe Fehler und sinnlos aufgeriebene Menschenleben, desto lauter das heroische Pathos, das von der offiziellen Propaganda aufgewärmt wird.

Zum anderen kommen starrsinnige Ideologen nicht ohne Helden aus. Wenn eine ideologische Doktrin keine anderen Früchte trägt, als Zerstörung und Tod, liegt der Schluss nahe, dass sie bankrott ist.

Was soll der Fanatiker tun, der den Bankrott der eigenen Ideen nicht zugeben möchte? Es gibt einen Ausweg! Es genügt, von „Helden, die ihre Leben für unsere heilige Sache gegeben haben“ zu sprechen, und es geschieht ein Wunder: Das vergossene Blut diskreditiert die ideologische Chimäre schon nicht mehr, sondern gibt ihr im Gegenteil einen besonderen Wert.

Schlussendlich wird der Heldenkult von der Gesellschaft gefordert. Es fällt äußerst schwer, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass Leben und Schicksal dir nahe stehender Leute am Ende nur Staub sind, weggefegt von fremden Ambitionen, Talentlosigkeit und insolventen Ideen. Das ist psychologisch untragbar. Und wir klammern uns eifrig an die Mythen über Helden, die nicht umsonst gestorben sind und begeisterte Nachkommen für neue Heldentaten.

Der Heldenkult ist ein effektives Instrument zur Verzerrung der unbequemen Realität. Er ermöglicht es, eine Tragödie in einen Feiertag zu verwandeln, eine Niederlage in einen Sieg, Inkompetenz in Heldenmut, und Tod, Leiden und Zerstörung in Gegenstände des Stolzes.

Es ist nicht verwunderlich, dass Kritik an Heldenmythen als außergewöhnlich schmerzhaft empfunden wird und heftigste psychologische Reaktionen hervorruft. Es genügt, daran zu erinnern, welche Reaktion der bekannte Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ in der deutschen Gesellschaft der 1930er Jahre hervorrief…

„Gegen literarischen Verrat am Soldaten des Weltkrieges, für Erziehung des Volkes im Geiste der Wahrhaftigkeit. – Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Erich Maria Remarque“, – riefen die national gesinnten, deutschen Studenten aus.

Naja, aus den Jugendlichen, welche das unheroische Buch verbrannten, wurde eine hervorragende Backmischung zur Zubereitung von Kanonenfutter…

In der ukrainischen Gesellschaft trifft man weitaus öfter auf derartige Stimmungen, als auf Versuche, die tragischen Erfahrungen der Vergangenheit gedanklich zu erfassen.

Zwei ideologische Lager – das national-patriotische und das russisch-sowjetische – strahlen begeisterten Militarismus aus und unterscheiden sich nur durch die Farbe ihrer Bänder. Dabei bemühen sich beide Seiten, die Helden der anderen bloßzustellen, um den Sockel für die eigenen freizumachen.

Und wenn jemand die heutige Ukraine konsolidieren kann, dann ganz sicher nicht Heldenmythen.

Gemeinsame Helden hatten wir nie und werden wir auch nie haben. Dafür haben wir ein gemeinsames Geschichtsbuch, das man lesen sollte.

Im stürmischen 1918 starben und töteten unsere Urgroßväter im Namen einer goldenen Zukunft. Die heutige Ukraine ist eben diese Zukunft, wegen der soviel Blut vergossen wurde und der so viele heldenhafte Opfer gebracht wurden.

Leider ist sie nicht sehr golden und wir leben unvergleichbar schlechter, als die Nachkommen der bodenständigen Schweden, für die der 29. Januar 1918 ein heldenloser Tag wie jeder andere blieb.

Denn keinerlei Heldentum kann die nüchterne Vernunft und die geschickten Handlungen ersetzen, welche reale Siege und greifbare Erfolge bringen.

27.01.2011 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Istorytschna Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke — Wörter: 1265

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