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Das Russland, das sie verloren haben

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Michail Dubinjanski: Das Russland, das sie verloren haben

Vor dreißig Jahren, am 12. Juni 1991, errang Boris Jelzin den Sieg bei den ersten allgemeinen Präsidentschaftswahlen in der russischen Geschichte.

Im Leben unsere nördlichen Nachbarn begann eine Epoche, die sich fast auf ein ganzes Jahrzehnt erstreckte. Die Zeit einer Scheindemokratie und von Auseinandersetzungen zwischen Banditen, Meinungsfreiheit und Hyperinflation, der Herrschaft der sieben Banker und des Tschetschenienkrieges.

Und noch die Zeit des Wladimir Putins, der den Weg vom unscheinbaren St. Petersburger Staatsangestellten zum Regierungschef und dem offiziellen Präsidentennachfolger beschritt.

Das Russland der 1990er Jahre hat nicht nur dem ehemaligen Tschekisten den Fahrtschein in das große Leben gegeben: das Jelzin’sche Russland wurde für die Putin-Regierung zur Hauptlegitimationsquelle.

Die 90er verwandelten Wladimir Putin in einen Helden aus dem Lehrbuch, der angeblich die Landsleute vor Chaos und Armut rettete.

Die 90er vermochten es die Not des Volkes mit Demokratie und Meinungsfreiheit zu verbinden, um dann leicht sowohl mit dem einen als auch dem anderen abzurechnen.

Die 90er haben die liberale Opposition hoffnungslos diskreditiert und die Bevölkerung überzeugt, dass die einzige Alternative zu Putin die Rückkehr in die düstere Vergangenheit ist.

Wie seltsam das auch klingen mag, so hat die Ukraine die Wiederwahl Leonid Kutschmas im Jahre 1999 vor einem solchen Szenario bewahrt. Der Abschluss der Markttransformation, eine günstige Außenkonjunktur, der Anstieg der Rohstoffpreise zu Beginn der 2000er: all das war nicht durch einen Wechsel des politischen Regimes verdeckt.

Die Ukraine darbten unter der wachsamen Führung von Leonid Danilowitsch und unter ihm begannen sie bereits langsam Speck anzusetzen. Im Ergebnis konnte sich der Mythos über den Wunderhelden, der das Land aus den Unruhen der 90er befreite, nicht festsetzen.

Dagegen setzte sich im russischen Massenbewusstsein für lange Jahre der Kontrast zwischen dem Jelzin’schen Alptraum und dem Putin’schen Wohlstand fest. Doch nichts ist ewig unter der Sonne und diese langen Jahre gehen schrittweise ihrem Ende entgegen.

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Das erschreckende Beispiel des Russlands der Jahre 1991 – 1999 verblasst unvermeidlich. Die Welt der Anteilsscheine am Volksvermögen und der Videorekorder, von Beresowski und Bassajew, der purpurnen Sakkos und der Banknoten mit den fünf Nullen hört auf, eine frische Erinnerung zu sein: es ist bereits Eigentum der Geschichte.

Die Generation, welche die 90er in der Blüte ihrer Jahre erlebte, hat es geschafft alt zu werden. Die Generation, die in den 90ern aufgewachsen ist, nähert sich der Schwelle der 40. Und die Generation bis 30 ist fast komplett frei von irgendwelchen Emotionen, die mit der Jelzin’schen Epoche verbunden sind.

Charakteristisch ist, dass eben diese Altersgruppen vor kurzem ein weiteres Gewächs des Russlands der 1990er Jahre brandmarkte: Wladimir Schirinowski. „Lassen sie uns das Alter erhöhen. Diejenigen, die unter 30 Jahre alt sind, werden als Kinder betrachtet. Sie begreifen nichts, bevor sie 30 Jahre alt sind, sind sie alle Kinder“, erklärte der Führer der Liberaldemokratischen Partei Russlands vom Rednerpult der Staatsduma.

Bekanntlich drückt der Hofnarr Wladimir Wolfowitsch nicht selten die Gedenken und Gefühle des Kremls in übersteigerter und grotesker Form aus. Und es sieht so aus, als ob die Juni-Äußerung zu keiner Ausnahme wurde.

Hinter den Vorwürfen der Infantilität, die an die russische Jugend gerichtet sind, versteckt sich die Abneigung gegenüber Leuten, welche die Jelzin-Zeit nicht erlebt haben und daher nicht bereit sind auf Putin mit den Augen der Eltern zu blicken.

Die neue Generation ist vom Trauma der 90er befreit: ähnlich dem, wie die sowjetische Jugend der 1970er und 1980er frei von den Traumata der Stalin-Epoche war und daher nach mehr als nur einem relativen Gesättigtsein und Sicherheit dürstete.

Wie auch in der UdSSR spielen die natürlichen demografischen Prozesse gegen den Kreml. Mit jedem Jahr wird es weniger von den „wilden Neunzigern“ Eingeschüchterte geben und von den sich nicht einschüchtern lassenden mehr.

Die Putin’sche Regierung verliert das Jelzin’sche Russland, das ihm viele Jahre als Glauben und Wahrheit diente. Es verschwindet eine der fundamentalen Stützen der russischen Regierungsklasse in der Vergangenheit. Und das ist der Fall, bei dem die Binnenprobleme der Russischen Föderation auf unmittelbare Weise die Ukrainer betreffen.

Je weniger Platz im benachbarten kollektiven Bewusstsein das Russland der 1990er einnimmt, um so mehr Bedeutung erlangt für den Kreml die Ukraine der 2020er.

Im Rahmen des Putin’schen Mythos erfüllt die ukrainische Gegenwart bereits die Funktion, wie die russische Vergangenheit. Uns ist genau die Rolle zugeteilt worden, wie die in Russland in Vergessenheit geratende Jelzin-Zeit: als Gegenbeispielland, Vogelscheuchenland, eine Brutstätte des Schmutzes, des Chaos und des Verfalls.

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Wir sollen das benachbarte Publikum davon überzeugen, dass es zum derzeitigen Kremlregime keine Alternative gibt und nicht geben kann.

„Wollt ihr, dass es so wird wie in der Ukraine?“, dieses eiserne Argument ist vor allem an diejenigen gerichtet, die vom langjährigen Argument „Wollt Ihr, dass es wie in den Neunzigern wird?“ nicht mehr erreicht werden. Dass ein derartiger Ersatz wirklich funktioniert, kann man am kürzlichen Beispiel des benachbarten Belarus sehen.

Die protestierenden Belarussen lebten nicht unter Präsident Jelzin und sind vom Trauma der 1990er Jahre in weitaus geringerem Grad betroffen, als die Russen: doch Parallelen zur Ukraine und der ukrainischen Revolution [gemeint ist der Umsturz von 2014, A.d.Ü.] wiesen sie eifrig von sich.

Das ukrainische Schreckgespenst erlaubt es der Propagandamaschine des Kremls nicht vom Kanon abzuweichen, der bereits Anfang der 2000er Jahre ausgearbeitet wurde. Bei Bedarf kann praktisch jedes Merkmal der „verfluchten Neunziger“ leicht mit irgendetwas Ukrainischem ersetzt werden.

Anstelle der Ereignisse am Weißen Haus [in Moskau] – die Ereignisse auf dem Maidan [2013/2014]. Anstelle des brennenden Tschetscheniens – der blutende Donbass. Anstelle der kriminellen Willkür – bewaffnete Radikale. Nun, und demokratisches Allesgeht, Oligarchenspielchen oder finanzielle Abhängigkeit vom Westen sind in der Ukraine in der besten Form vertreten.

Es versteht sich, dass die ukrainische Armut nicht vergleichbar mit dem russischen Elend der 90er ist: doch für professionelle Informationsmanipulatoren ist das kein Problem.

Auf die Ukraine zeigen kann man sogar dann, wenn die Erinnerung an die Regierung Boris Nikolajewitschs endgültig aus den jungen russischen Hirnen geweht ist.

Es herrscht die Vorstellung vor, dass die Errichtung einer erfolgreichen und wohlhabenden Ukraine der Schlüssel zum Sieg über den Kreml, zur automatischen Befreiung der Krim und des Donbass wird. Das ist in vielem eine Übertreibung.

Schlussendlich hat das südkoreanische Wirtschaftswunder nicht zum Fall des kommunistischen Regimes in Pjöngjang geführt und das deutsche Aufblühen hat nicht der Rückkehr von Königsberg in den Heimathafen gedient. [Anspielung auf Putins Rede nach der Annexion der Krim zur Rückkehr der Halbinsel in den Heimathafen. A.d.Ü.]

Doch dafür funktioniert die beschriebene Logik in der Gegenrichtung einwandfrei. Das ukrainische Unwohlsein – ist ein ständiger Gewinn für die Kremlführung.

Die ukrainische Unordnung ist eine Unterstützung der Legitimität Putins und seiner potenziellen Nachfolger. Die ukrainische Bitternis ist die Möglichkeit das verlorene Russland der neunziger Jahre zu ersetzen.

In Wahrheit ist die Ukraine, im Unterschied zum Pleite gegangenen Jelzin’schen Projekt, keine Gefangene der Geschichte, die keinen Konjunktiv kennt. Und das Abweichen von der Rolle, die uns der Kreml zugeschrieben hat, liegt nach wie vor in unseren Händen.

12. Juni 2021 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein — Wörter: 1156

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