„Diese junge unabhängige Republik ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Fläche, der Bevölkerungszahl und der wirtschaftlichen Entwicklung her vergleichbar mit Großbritannien, Frankreich und Westdeutschland.
Die ukrainische Nationalversammlung verkündete, keine Zeit verlierend, die Verfassung des neuen Landes, in der erklärt wurde, dass die ökonomische Freiheit des Volkes der Basisbestandteil seiner politischen Freiheit ist.
Der Mensch kann nicht politisch frei sein, wenn seine Existenzmittel vom Staat, den Gewerkschaften oder monopolistischen Organisationen abhängen.
Auf ihrem ersten Kongress beschloss die Nationalversammlung ein Gesetz, das die Einmischung des Staates in das Privatleben der Bürger und der Wirtschaft verbot. Außerdem wurden Gesetze beschlossen, welche die Schaffung von Monopolen und Gewerkschaften mit mehr als 10 000 Mitgliedern verboten.
Die ersten Vorteile des freien Unternehmertums zeigten sich in der Landwirtschaft und die Ukraine gelangte auf den Weg zur Rückkehr ihrer Positionen als einer der Hauptlieferanten für landwirtschaftliche Produkte in der Welt.“
Die zitierten Zeilen gehören dem britischen Armeebefehlshaber und Literaten Sir John Hackett, dem ehemaligen Kommandeur der Nordgruppe der Nato-Armeen.
An der Grenze der 1970er und 1980er Jahre brachte der General im Ruhestand zwei spektakuläre pseudodokumentarische Romane heraus, die dem Dritten Weltkrieg gewidmet waren.
Über die Niederlage und das Auseinanderfallen der UdSSR schreibend, widmete der Autor der Nachkriegsordnung der Welt Aufmerksamkeit. Dabei wurden der postsowjetischen Ukraine besonders schmeichelhafte Wertungen zu Teil – zehn Jahre vor dem wirklichen Zusammenbruch des Imperiums und der Ausrufung der ukrainischen Unabhängigkeit.
Natürlich rufen die Fantasien von Sir John heute nur ein bitteres Lächeln hervor: wenn man den realen Weg der unabhängigen Ukraine berücksichtigt, in der es sogar den Bodenmarkt erst mit einer 13-jährigen Verspätung zu legalisieren gelang.
Und das von Hackett Geschriebene regt ein weiteres Mal dazu an, über unsere unrealisierte Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft nachzudenken. Den politisch aktiven Bürgern ist diese Beschäftigung wohl bekannt.
Die Angewohnheit die vergangenen 30 Jahre als Geschichte verpasster Möglichkeiten zu sehen, ist leider Gottes der größte Indikator der ukrainischen Abwärtsentwicklung.
Wir schauen beständig zurück auf der Suche nach dem Punkt, an dem unser Land nicht richtig abgebogen ist. Wir sind überzeugt davon, dass das ukrainische Potenzial enorm mehr zu erlangen ermöglicht hätte, doch wurde es talentlos vertan.
Jemand – wie der Vorsitzende der Präsidentenfraktion Dawid Arachamija – fantasiert über eine Ukraine, die ihre Atomwaffen behalten hat und die Weltmächte erpresst.
Jemand denkt über eine Ukraine nach, die zu ihrem ersten Präsidenten nicht den Apparatschik Leonid Krawtschuk wählte, sondern den Dissidenten Wjatscheslaw Tschornowol [ukr. Wjatscheslaw Tschornowil].
Jemand schwärmt wie gehabt von einer sozialistischen Ukraine, die nicht aus der UdSSR ausgetreten ist.
Die Sucher nach der verpassten ukrainischen Chance haben sehr verschiedenen, nicht selten wiedersprüchliche Ansichten. Doch alle setzen ein Gleichheitszeichen zwischen die Begriff „alternativ“ und „erfolgreich“. Das Ungeschehene wird apriori als besser und attraktiver gesehen.
Beispielsweise vergleichen die Patrioten, die sich einen anderen Ausgang der Präsidentschaftswahlen von 1991 vorstellen, die Ukraine mit dem Polen des Dissidenten Wałesa und dem Tschechien des Dissidenten Havel.
Derweil stand dem unabhängigen Georgien zu Beginn der 1990er Jahre der Dissident Swiad Gamsachurdija und dem unabhängigen Aserbaidschan der Dissident Əbülfəz Elçibəy. In beiden Fällen kann man offensichtlich nicht von einer Erfolgsgeschichte sprechen.
Und, Hand aufs Herz, muss man zugeben, dass die Ukrainer vor 30 Jahren mehr anderen Bewohnern der sowjetischen Wohngemeinschaft ähnelten, als den Polen oder Tschechen, die im 20. Jahrhundert eine vollwertige Erfahrung von Staatlichkeit hatten.
Doch der Gedanke selbst darüber, dass eine hypothetische Ukraine des Präsidenten Tschornowol sich ebenfalls als nicht erfolgreich hätte erweisen können, erscheint als Gotteslästerung. Die Alternative ist deswegen eine Alternative, da sie wie ein Passierschein in das verlorene Paradies aussieht!
Im Unterschied zur Wirklichkeitsform, ist die Möglichkeitsform beinahe durch nichts beschränkt. Sie gestattet es der harten Wirklichkeit nicht, unsere Überzeugungen zu widerlegen. Sie rechnet nicht mit unseren Träumen ab, diese einer gnadenlosen praktischen Überprüfung unterziehend.
Die Geschichte unter dem Vorzeichen „wenn nur“ ist weitaus bequemer als die reale Geschichte und in diesem Sinne hat sich die derzeitige ukrainische Gesellschaft als großzügig ausgestattet erwiesen.
Der Zauber der vergangenen dreißig Jahre liegt darin, dass sie beinahe jedem seine ungeschehene Ukraine geschenkt haben.
Praktisch jeder hat seinen Bifurkationspunkt, die eigene schicksalsträchtige Gabelung, die angeblich die Bewegung des Landes in die richtige Richtung störte.
Praktisch ist jeder frei zu denken, dass die Ukraine der Träume hätte zustande kommen und zum Erfolg kommen können, wenn die feindlichen Intrigen oder die feindlichen Umstände nicht gewesen wären. So wird das Gefühl des eigenen Rechthabens unterstützt.
Die unheilbaren „Watniki“ [Von der russischen Opposition eingeführter Begriff für Putin-Anhänger und Sowjetnostalgiker. Wird in der Ukraine vor allem für die Gegner des Umsturzes von 2014 und generell Gegner des Westkurses verwendet. A.d.Ü.] können sich eine komfortable Ukraine ausmalen, in der es erst gar nicht zum Maidan kam oder dieser rechtzeitig niedergeschlagen wurde. Ruhe und Idylle, Frieden und territoriale Integrität, der Dollar kostet acht Hrywnja und in der brüderlichen Zollunion kommt es zum ökonomischen Aufblühen: diese verlockende konterrevolutionäre Fantasie kann keiner Erfahrungsüberprüfung und Entzauberung unterzogen werden.
Die patriotischen Anhänger Poroschenkos erlitten ihre Niederlage im Jahr 2019 und können sich dafür jetzt eine wundervolle Ukraine vorstellen, in der Pjotr Alexejewitsch [ukr. Petro Olexijowytsch Poroschenko] wiedergewählt wurde.
Der Sieg über das Kreml-Regime, der Nato-Beitritt, ein ökonomischer Boom, das Aufblühen von Kultur und Wissenschaft: in dieser hypothetischen Realität hat all das Platz, was die Seele sich wünscht und was das Land angeblich wegen der verachteten 73 Prozent verloren hat.
Rechte und Linke, Reformatoren und Konservative, Liberale und Radikale, Sozialisten und Anarcho-Kapitalisten: Die Uneingerichtetheit der existierenden Ukraine erlaubt es jedem von ihnen zu glauben, dass eine alternative, mit ihren Ideen bewaffnete Ukraine, wesentlich mehr erreicht hätte.
Bei Bedarf kann sogar der amtierende Präsident – der einen triumphalen Sieg bei den Wahlen errungen hatte und über umfassende Vollmachten verfügt – seine persönliche, nicht zustande gekommene Ukraine beklagen.
Im Dezemberinterview mit der New York Times beschwerte sich das Staatsoberhaupt: „Früher lebte ich mit globalen Plänen. Als ich Präsident der Ukraine wurde, erhielten wir außer den strategischen, großen Richtungen, leider Covid und wir leben von Tag zu Tag.“
Aber Selenski steht eine alternative Realität zur Verfügung, in welcher er Glück hat, in der seine Präsidentschaft nicht mit der weltweiten Coronavirus-Krise zusammenfiel, in der die Bankowaja [Sitz des Präsidenten, A.d.Ü.] nichts von den globalen Plänen und strategischen Ausrichtungen ablenkte und in der es Wladimir Alexandrowitsch [ukr. Wolodymyr Olexandrowytsch Selenskyj] gelang mit Brillanz alle Pläne zu realisieren.
In Wahrheit muss der sechste Präsident, wenn er sich in Ruhe derartigen Gedankenspielen hingeben will, auf die zweite Amtszeit verzichten.
Je mehr Zeit am Staatssteuer verbracht wird, um so weniger Raum bleibt für tröstende „wenn nur“.
In 30 Jahren haben sich alle Vorgänger Wladimir Selenskis davon überzeugt und der derzeitige ukrainische Führer wird kaum eine Ausnahme werden.
7. August 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Angetrieben durch die Häresie, dass es eine falsche und richtige Christenheit gibt.
Das die richtigen Christen in Moskau saßen.
Und Polen als Katholiken zwangläufig Feinde sein müssten.
Es gibt in der Menschheitsgeschichte etliche Beispiele, wo 300-500 Jahre später
man immer noch an den idiotischen Entscheidungen leiden muss.
Ohne Martin Luther keine Shoa.
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