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Ukrainische Gefängnisse und ihre medizinische Versorgung

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Sieben Jahre meiner Jugend verbrachte ich unter den widrigen Bedingungen in einem sowjetischen Gefängnis. Ich zählte damals als ein besonders gefährlicher Staatsfeind, und wie wir wissen, gab es in der UdSSR keine politischen Gefangenen. Ich hatte an vielen Demonstrationen und Hungerstreiks (zwei davon dauerten jeweils 112 und 114 Tage) teilgenommen. Ich erinnere mich gut an das Gefühl der Handschellen um meine Handgelenke, an den Kieferspreizer im Mund und die Sonde in der Speiseröhre. Ich erinnere mich an vieles, und gerade deshalb habe ich auch das Recht, über sehr unangenehme Dinge zu sprechen und zu schreiben.

Im ukrainischen Gefängnis ist es schlimm. Manchmal sogar sehr schlimm. In den Gefängnissen Großbritanniens ist es hingegen viel besser, und in den schwedischen und niederländischen ist es wie im Urlaub. Ich sehe darin jedoch ein moralisches Problem, über das laut – sehr laut – gesprochen werden sollte: Ist es moralisch vertretbar, einem Verbrecher im Gefängnis ein angenehmeres Leben zu ermöglichen, als es die gesetzestreuen Opfer in Freiheit haben? Ist es moralisch vertretbar, im Gefängnis die Möglichkeit zu effektiver medizinischer Versorgung zu gewährleisten, während eine ältere Ukrainerin, die ihr Leben lang schwere Arbeit im Kolchos verrichtet, niemanden getötet, nichts gestohlen und niemanden überfallen hat, keinerlei Zugang zu solcher Versorgung hat? Ich habe keine Antwort auf diese überaus nicht rhetorischen Fragen, doch als ukrainischer Steuerzahler und Arzt bestehe ich darauf, dass diese Fragen in der ukrainischen Gesellschaft gehört werden.

In der heutigen Ukraine ist es nicht gefährlich, sich für Menschenrechte einzusetzen. Es ist sogar ehrenhaft. Vor allem deshalb, weil der Begriff des “Menschenrechtlers” relativ verschwommen ist. So wage ich es zu bezweifeln, dass ehemalige drogenabhängige und homosexuelle Ukrainer, die an AIDS erkrankt sind, das Recht haben, sich stolz als Menschenrechtler zu bezeichnen und von der Gesellschaft und dem Staat irgendetwas zu fordern. Man kann um etwas bitten, etwas erklären, aber nicht einfach etwas fordern. Damit meine ich die Forderung einiger ukrainischer Menschenrechtsorganisationen, das medizinische System für Strafgefangene dem ukrainischen Gesundheitsministerium unterzuordnen.

Ich kenne mich gut aus mit den Realia der “freien” ukrainischen Gesundheitsversorgung. Ich fahre häufig in die ukrainische Provinz und spreche mit den dortigen Patienten und Ärzten. Ich kenne traurige und sehr beklemmende Einzelheiten. Was halten Sie von Patientenmahlzeiten für 4,50 Griwna am Tag? Für gesetzestreue Menschen, die ihrer Heimat alle Kräfte und Lebensjahre geopfert haben. Und was sagen Sie zum völligen Mangel an modernen und effektiven Medikamenten in den ukrainischen Krankenhäusern? Und erst zur völlig veralteten, medizinischen Diagnosetechnik, mittels derer sich weder Magengeschwüre, noch Tuberkulose erkennen lassen? Diese Liste kann ich lange fortsetzen, doch das werde ich nicht tun, denn wir alle wissen, wo und wie wir leben.

In den ukrainischen Gefängnissen ist es in der Tat schlimm. Alte, baufällige Gebäude, Trostlosigkeit und akuter Ärztemangel. Ich veröffentliche ständig Stellenanzeigen für Ärzte in Gefängnissen und Strafanstalten in einer medizinischen Zeitschrift, telefoniere mit potenziellen Interessenten und biete ihnen diese Stellen an. Doch alle Bemühungen scheinen umsonst zu sein, die Mediziner wollen diese Arbeit nicht. Sie bevorzugen eine Arbeit “in Freiheit”, die ruhiger ist, weniger Verantwortung abverlangt und die – um ehrlich zu sein – auch mehr Geld bringt. Wer hat die Schuld an diesem Problem? Sind es die Verantwortlichen der medizinischen Versorgung in den Gefängnissen oder etwa die Gefängnisdirektoren?

Es gibt 160.000 Gefangene in unserem relativ ruhigen Land, in dem man Abends sicher auf den Straßen ist, in dem in der Regel Gleiche von Gleichen getötet werden. Das Problem liegt bei den Gerichten, die dazu neigen, den Ermittlern ihre Arbeit zu erleichtern, und nicht im Strafsystem.

Ich bin auch involviert bei der Vorbereitung einer Reform im ukrainischen Gesundheitssystem. Ich höre, sehe und lese Vieles. Und ich denke sehr viel nach. Ich möchte nicht verbergen, dass mich dabei immer häufiger schwermütige Gedanken belasten. Das liegt aber nicht nur am Gesundheitszustand der ukrainischen Strafgefangenen. Sie werden schon überleben, sie werden in den Strafanstalten genug zu Essen und einen Schlafplatz bekommen. Uns, die gesetzestreue “Biomasse” hingegen, erwarten schwierige Zeiten, wenn das System reformiert wird.

Viele objektive Gründe sprechen dafür, dass das medizinische System für Strafanstalten nicht vereinbar ist mit jenem für die Allgemeinheit. Heutzutage ist dies unmöglich. Das die Sowjetunion überlebte Krankenhaus für “Diener am Volk” in Feofanija bei Kiew würde ich schließen, da es viel zu kostenintensiv ist. Die dadurch eingesparten Gelder würde ich wenigstens zum Teil in die Medizin für Strafgefangene investieren. Dieser Schritt würde übrigens auch den Reformprozess im ukrainischen Gesundheitssystem beschleunigen. Doch dazu schweigen unsere Menschenrechtler bisher. Vielleicht haben sie Angst.

16.12.2011 // Semjon Glusman, Arzt, Mitglied des Staatlichen Ukrainischen Kollegiums für Medizinische Versorgung von Strafgefangenen.

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Katharina Jaroschak — Wörter: 767

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