Vor zwanzig Jahren erreichte die Agonie der Sowjetunion ihr Endstadium. Doch ist der symbolträchtige Jahrestag nicht für alle ein fröhliches Ereignis. Noch heute bedauert ein beträchtlicher Teil der Ukrainer den Zusammenbruch der UdSSR. Solche Bürger mit mangelndem Bewusstsein lassen sich nicht umerziehen und das ärgert die aufgeklärte Intelligenz.
Diejenigen, die auf den Wolken der höheren Ideen schweben, wollen sich nicht in die Position der realistisch denkenden Mitbürger versetzen.
Warum sollte ein durchschnittlicher Bürger sich über den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums freuen, wenn er ganz objektiv gesehen darunter gelitten hat? Warum sollte er sich freuen, wenn er seinen sozialen Status, seine Arbeit und Ersparnisse verloren, mehrere Jahre in bitterer Armut gelebt und unter der Willkürherrschaft gelitten hat? Offensichtlich muss ein verantwortungsbewusster Ukrainer Masochist sein. Er muss mit einem strahlenden Lächeln an das Elend der 1990-er denken.
Man muss zugeben, dass der Untergang eines Imperiums nur in der Endepisode des „Star Wars“ attraktiv erscheinen kann. Im realen Leben sieht alles ganz anders aus.
Herr Putin bezeichnete einst den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Es ist eine recht kühne Aussage, wenn man bedenkt, dass fast das ganze 20. Jahrhundert aus ähnlichen Katastrophen bestand.
Was ist der Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie? Ein gewaltiger Kampf der ethnisch-politischen Widersprüche, die massiv dazu beigetragen haben, dass der Zweite Weltkrieg ausbrach. Lokale bewaffnete Konflikte, der Anschluss Österreichs und die Sudetenkrise. Die Blütezeit der nationalen totalitären Bewegungen in Osteuropa. Der Holocaust und die ethnischen Säuberungen in Jugoslawien.
Was ist der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches? Das Massaker in Smyrna 1922 und die Deportation von eineinhalb Millionen Griechen, die seit eh und je Kleinasien bewohnten. Die Geburt des arabischen Terrorismus, der unter der Schirmherrschaft des bekannten Lawrence von Arabien sich entfaltete. Die Ursache des nahöstlichen Konfliktes, der bis heute die ganze Welt in Atem hält.
Was ist der Zusammenbruch der europäischen Kolonialmächte? Eine Reihe von Kriegen, Pogromen, Völkermorden und Terror.
Um nur ein Beispiel zu führen. Jeder kennt das wunderbare Märchen über den weisen Ghandi, der seine Heimat Indien ohne Anwendung der Gewalt befreit haben soll. Aber nicht jeder weiß, dass diese gewaltlose Befreiung durch ein gewaltiges Massaker abgelöst wurde, dass eine regelrechte Ausrottung von Hindus durch Muslime und von Muslimen durch Hindus anfing, dass es Millionen von verzweifelten Flüchtlingen, Hunderte von Tausenden Opfer gab und dass es dazu kam, dass Ghandi selbst von einem Fanatiker erschossen wurde.
Der Untergang der Sowjetunion war daher nicht mehr katastrophal, als jeder andere Zusammenbruch eines reifen Imperiums. Es gibt keinen Grund, den Untergang der Sowjetunion gesondert zu betrachten. Die ehemaligen Untertanen des Sowjetischen Reiches konnten schlichtweg aufgrund mangelnder Informationen ihre eigene Erfahrung mit der internationalen nicht vergleichen.
Anfang der 1990-er Jahre haben die Ereignisse im Kaukasus und Mittelasien viele erschüttert. Man hörte folgende Meinungen: „Menschen werden zu Tieren!“, „Sie schmeißen die Russen aus ihren Wohnungen raus, plündern, vergewaltigen und töten und bleiben unbestraft!“, „Sie schonen weder Frauen noch Kinder!“
Die ehemaligen Sowjetbürger konnten damals noch nicht begreifen, dass es gerade der heroische Kampf gegen die Kolonialmächte war, der von der Sowjetpropaganda in jedem sowjetischen Lehrbuch lobgepriesen wurde.
Der Beginn des Sepoyaufstandes war der Mord an zwanzig britische Kolonialherren in der Stadt Merath: vier Männern, acht Frauen und acht Kindern. Das gleiche kann man überall von Balkan und Wolhynien über Kaukasus bis nach dem tropischen Afrika beobachten.
Freiheitskämpfer lassen sich von einer einfachen Logik leiten: Das Leben und die Rechte eines einzelnen Menschen sind nichts. Die Interessen einer ganzen Nation sind alles. Ein Befreiungskampf trägt die hauchdünne Schicht der Zivilisation ab und wird zu einer Art Ablass für Willkürherrschaft, Gewalt und Gräueltaten.
Massenausschreitungen in Sumqayıt und Baku, das Massaker in Osch, blutige Ereignisse in Abchasien und Südossetien, das Blutbad in Tadschikistan, der kriminelle Alltag Tschetscheniens unter Dudajew, Budjonnowsk und Beslan. All diese Tragödien sind nicht einzigartig.
Ihnen schließen sich die Attentate der algerischen Patrioten, die Gräuel der vietnamesischen Việt Minh, die Gewaltakte an der weißen Bevölkerung im Kongo und Angola, arabische Pogrome in Sansibar und chinesische Pogrome in Südostasien, die Gräueltaten des Obersten Kemal und der kroatischen Ustascha an.
Der unabhängigen Ukraine ist etwas Ähnliches zum Glück erspart geblieben. Eine gewaltige Freiheitsbewegung erschütterte den ukrainischen Boden Mitte des 20. Jahrhunderts und wurde niedergeschlagen. 1991 kamen nicht die fanatischen Freiheitskämpfer, sondern pragmatische Parteianhänger an die Macht. Dies hat uns ein eigenes Bergkarabach und Transnistrien erspart. Aber vor wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Erschütterungen nach dem Zusammenbruch des Sowjetischen Reiches konnten einfache ukrainische Bürger nicht gerettet werden.
Es hat natürlich nicht damit zu tun, dass wir vom guten Sozialismus zum bösen Kapitalismus übergegangen sind. Es kommt nicht auf den Ausgangspunkt oder den Bestimmungsort an, sondern auf den sprunghaften Übergang selbst.
Während die Ukraine in den 1990-ern die sozialistische Gesellschaft abgeschafft hat, war im Russland des 1917 die bürgerliche Gesellschaft und im amerikanischen Süden der 1860-er gar die Sklavenhaltergesellschaft abgeschafft worden.
Aber wenn man „Vom Winde verweht“ oder „Verfluchte Tage“ von Iwan Bunin wieder mal liest, kommt einem sofort das Russland der 1990-er Jahre in den Sinn, die sogenannten „bösen Neunziger“. Manchmal findet man verblüffende Ähnlichkeiten. Es ist auch klar. Es spielt keine Rolle, was für eine gesellschaftliche Ordnung zusammen mit dem untergehenden Imperium zerfällt. Die Tatsache, dass sie zerfällt, spielt eine Rolle.
Die Staatsmaschinerie gerät aus allen Fugen. Das Rechtssystem zerfällt. Die Menschen sind schutzlos der brutalen Gewalt ausgesetzt. Die gewohnten Einkommensquellen sind auf einmal nicht mehr da. Die Ersparnisse sind verdunstet. Man hat keine sichere Existenz mehr.
Millionen menschlicher Schicksale scheitern an einem totalen Sinneswandel. Gleichzeitig entsteht eine dünne Schicht neuer Herren des Lebens: sowjetische Kommissare, amerikanische carpetbaggers, draufgängerische Burschen aus Donezk und die „neuen Russen“.
Während der Großteil der Bevölkerung sich verzweifelt an die Wracks der alten Zivilisation klammert, passen sich diese neuen Bürger an die neue Realität ziemlich schnell an, kommen aus der niedrigsten Schicht heraus und erreichen die höheren Posten.
Der bewusste Leser fragt sich schon seit langer Zeit: „Ist ein Imperium selbst nicht ein Verbrechen?! Bringt es den Menschen nicht Leid?! Ist es nicht ein Imperium, das tötet, beraubt und lässt verhungern?! Wie kann man seinen Zerfall noch bedauern?!“
Es ist richtig, dass alle Imperien auf Blut und Leiden aufgebaut werden. Aber nur wenige gehen im jungen Alter unter, wie zum Beispiel das Dritte Reich, nachdem sie der Menschheit nichts als Leiden gebracht haben.
Die meisten Imperien werden reif, durchlaufen eine Evolution, werden milder und bescheren ihre Untertanen mit einem wohlgeordneten Leben. Der Untergang eines dieser Imperien kann der Anzahl der unschuldigen Opfer der Vergangenheit nicht gerecht werden. Mehr noch versetzt er den unschuldigen Zeitgenossen einen Schlag, indem er die gewohnte Weltordnung gnadenlos zerstört.
Die Ukrainer, die auf die Sowjetunion fluchen, erinnern sich an die Kollektivierung, den Holodomor, den NKWD und den Gulag.
Die Ukrainer, die sich nach der Sowjetzeit sehnen, erinnern sich an die sichere Existenz in den Stagnationsjahren.
Die Ersteren sprechen vom Imperium am Beginn, die Letzteren vom Imperium in seiner Blütezeit. De jure handelt es sich um ein Land, de facto um zwei verschiedene.
Die Britische Kolonialmacht im 19. Jahrhundert und in den 1950-er stellt auch zwei verschiedene Staaten dar. Kein Wunder, dass die Entkolonialisierung die Lage von Millionen von Menschen auf einmal verschlechtert und nicht weniger Leiden mit sich gebracht hatte, als die Handlungen der ersten britischen Kolonialherren.
Die Geschichte ist keine Videoaufnahme, die man zurückspulen kann, um eine unangenehme Episode zu löschen und die lang ersehnte Vergangenheit zurückzubekommen. Sie ist eine sich ständig verändernde Kette von unumkehrbaren Ereignissen. Die Jagd nach historischen Phantomen ist deshalb perspektivlos.
Man kann ein blutiges Imperium nicht vernichten, wenn es eine Evolution bereits durchlaufen ist und seine bestialischen Züge aufgegeben hat. Jeder Versuch, vergangene Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten nachträglich zu beseitigen, wird nur zu neuen Ungerechtigkeiten und Grausamkeiten führen.
Man kann das gute Imperium in seiner Blütezeit auch nicht wiederbeleben. Man kann nur noch ein neues errichten, was wiederum das Risiko neuer Erschütterungen und des Elends in sich birgt. Bürger, die sich nach der Sowjetunion sehnen, müssen das letztendlich begreifen.
Was haben die imperialen Ambitionen Russlands dem postsowjetischen Raum gekostet? Der Krieg in Georgien im August 2008, der wirtschaftliche Zusammenbruch Weißrusslands, die Erpressung der Ukraine in Fragen der Gaslieferungen. Es liegt auf der Hand, dass weder Saakaschwili, noch Lukaschenko, noch Janukowitsch russische Generalgouverneure werden wollen. Keine Regierung der Welt, die die Situation im Land unter Kontrolle hält, würde die Macht so einfach abgeben.
Um die nationalen Eliten zu einer bedingungslosen Kapitulation zu zwingen, muss der Kreml den unabhängigen Republiken einen schweren Schlag versetzen, die Lage destabilisieren und den ungehorsamen Staatschefs den Boden unter den Füßen wegziehen.
Eine hypothetische Wiederbelebung des sowjetischen Imperiums wird mit katastrophalen Folgen einhergehen, die nicht weniger schmerzlich sind, als die in den 1990-er Jahren.
Es wird klar, dass das Bedauern über den Zerfall der Sowjetunion und die Unterstützung der unabhängigen Ukraine nicht im Konflikt zu einander stehen. Im Gegenteil ist es eine rationelle Position, die ein Durchschnittsbürger, der sich ums eigene Wohlergehen Sorgen macht, einnehmen kann. Denn nicht ein Imperium oder sein Fehlen schadet dem einfachen Bürger, sondern der Aufbau und der Zerfall eines Imperiums. Ist ein Imperium aufgebaut, sollte man seinen Untergang fürchten. Ist es schon zerstört, sollte man nicht versuchen es wiederzubeleben.
19. August // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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