Kriegskult
Von den ersten Tagen der Unabhängigkeit an verlief das ukrainische Nationbuilding langsam und zögerlich. Fast ein Vierteljahrhundert lang konnten wir die Grundprinzipien unseres Staates nicht festlegen. Sprache, Geschichte, Außenpolitik, Staatswesen – über all dies wurde diskutiert. Professionelle Nicht-Ukrainer klagten über die heftige Ukrainisierung, aber in Wirklichkeit wurde das Land fast in der Mitte gespalten.
Einheit im Feuer
Die Annektierung der Krim und der Krieg im Donbass verliehen dem Projekt „Ukraine“ allerdings neue Lebenskräfte. Historiker wissen: Die Einheit des Bluts bildet noch keine Nation. Das Blut jedoch, das im Namen der Einheit vergossen wird, ist ein wahres Elixier. „In der zeitgenössischen Kultur des Nationalismus gibt es keine spannenderen Symbole als die Monumente und Grabhügel des Unbekannten Soldaten“, schrieb seinerzeit Benedict Anderson. Davon haben wir jetzt genug. „Noch nicht identifizierter Verteidiger der Ukraine“, steht auf den Gräbern der ATO-Kämpfer (ATO = Antiterroroperation). Gerade hierhin bringen die Schulkinder Blumen, und der Slogan „Spasibo dedu sa pobedu“ („Danke Opa für den Sieg“) wird für sie eine ganz andere Bedeutung haben. Wir haben immer daran gezweifelt, ob dieser Donbass ukrainisch ist. Aber im letzten halben Jahr ist auf diesem Boden so viel ukrainisches Blut vergossen worden (einschließlich galizisches), dass die Zweifel dem Frevel weichen.
Jetzt gibt es bei uns unseren eigenen Großen Vaterländischen Krieg, in dessen Tiegel die nationale Einheit gehärtet wird. Der Westen und Osten verstehen sich nicht immer im Parlament, aber sie stehen Rücken an Rücken an der Front. Und hinter ihnen steht das allukrainische Netz von Freiwilligen und Wohltätern, was den letzten Hochrechnungen zufolge 65 Prozent der Bürger vereint. Die Solidarität im Kampf überwindet leicht die langjährigen Gegensätze – sogar die hasserfüllte Sprachproblematik wurde zu einer Marginalie. „Heute auf dem freien Feld / hab ich einen Separatisten erschossen / für den nationalen Traum“ – das Frontlied nach afghanischem Motiv klingt genauso natürlich wie die UPA-Lyrik.
Der Krieg zerstörte und belastete die politische Vielfalt. Die Nationaldemokraten stürmten vor zehn Jahren den Südosten und erst jetzt trieben sie die russischen Streitkräfte an den Rand. Gemäßigte und Radikale grenzen sich voneinander ab, aber sie alle halten sich an eine gemeinsame politische Richtung. Im trägen gesellschaftlichen Bewusstsein geschahen halsbrecherische Veränderungen. Wer hätte gedacht, dass sogar in Mykolajiw und Odessa für die „Samopomitsch“ gestimmt wird, und dass Jarosch in das Parlament in der Region Dnipopetrowsk gewählt wird?
Der konservative Effekt
Aus diesem Grund vollbrachte die ATO das, was die patriotische Intelligenzija und die politische Elite ein Vierteljahrhundert nicht erreichen konnten. In der Gesellschaft erschien endlich ein innerer Strang, um den herum sich alle vereinen: Die Arbeiter und Geschäftsleute, die Leute aus dem Osten und dem Westen, die Gläubigen und Atheisten, die Nationalisten und Liberalen. Allerdings mobilisiert die Bedrohung von außen nicht nur, sondern sie erhält auch die Gesellschaft. Mit diesem Wissen eignete die ukrainische politische Klasse sich die kriegerisch-patriotische Rhetorik an und fing an, die Mitglieder der ATO in die Parteireihen zu rekrutieren. Solange im Donbass unsere Soldaten fallen, werden die Ukrainer schweigend die Inflation, das Wachsen der Preise und andere Widrigkeiten hinnehmen. Dies wird so noch einige Kriegsjahre andauern, bis die Ukrainer sich vom Schock erholt haben werden. Aber danach wird die Gesellschaft wieder anfangen, unbequeme Fragen zu stellen: Wo sind die versprochenen Reformen? Warum sind die Banditen nicht im Gefängnis? Wann können wir wieder richtig leben?
Mit einem ähnlichen Problem Jahren hatte in den 1960er Jahren die sowjetische Regierung zu tun. Damals war es noch nicht klar, dass es keinen Kommunismus geben würde, und die innenpolitischen Probleme hatten ein gefährliches Ausmaß angenommen. In den Sowjetrepubliken brachen Arbeiterrevolten aus, und die schwächelnde Wirtschaft zwang die Regierung dazu, Lebensmittel in den Ländern des „verfaulenden Kapitalismus“ zu kaufen. Um das sowjetische System zu retten, kehrten die damaligen Politikwissenschaftler zum Thema des Großen Vaterländischen Krieges zurück. Der Lobgesang auf die großväterlichen Heldentaten ersetzte die Sorge über das Heute und Morgen und Angriffe auf das Sowjetsystem wurden als Beleidigung des Kriegergedenkens gesehen. So wurde der Siegeskult geboren, welcher die Herrschaft der Kommunistischen Partei noch drei Jahrzehnte lang am Leben erhielt. Sogar im heutigen Russland erfüllt der Siegeskult seine Bestimmung weiterhin, und zwar als Legitimation der Politik Putins.
Die ukrainische Regierung steht nun ebenso vor der Versuchung, das Gedenken an die ATO zu instrumentalisieren, indem sie die Kriegsgeschichte in einen patriotischen Mythos verwandelt. Und es geht nicht nur um die administrative Durchführbarkeit, sondern auch um die Verantwortung. Es ist einfacher, in Ilowajsk [dort waren schwere Kämpfe im August 2014, Anm.d.Ü.] ein Garnisons-Memorial zu errichten, als der Öffentlichkeit zu berichten, warum die Soldaten sich in einem blutigen Kessel befanden. Es ist billiger, eine Straße zu Ehren der ATO-Helden umzubenennen als den Veteranen eine würdige Rente sowie Rehabilitierungsprogramme zu garantieren. Schon jetzt haben die Frontsoldaten eine eigene Sicht auf das Geschehen, die Freiwilligen können viel erzählen über die „ausgezeichnete“ Arbeit des Verteidigungsministeriums und die Aktivisten darüber, welche Rolle die ukrainischen Sicherheitskräfte bei der Okkupation des Donbass gespielt haben. Aber ihre Stimmen können vom Lärm der lauten Lobpreisungen erstickt und von den Verleumdungen der Wahrheitssucher ertränkt werden.
Pro et contra
Leider ist die Herausbildung eines Gedenkkultes mit Vergessen verbunden, wobei das Ausmaß der Amnesie schockierend sein kann. Erinnern Sie sich, wie die sowjetische Agitprop die Geschehnisse des Zweiten Weltkrieges „korrigiert“ hat. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam es zu einem solchen Boom des Revisionismus, dass ihn der Kreml mit gesetzlichen Maßnahmen bekämpfen musste. Es ist nicht auszuschließen, dass mit der Geschichte der ATO genau so etwas passieren wird. Unsere Enkel werden eine schöne Legende über die dreihundert Spartaner vom Donezker Flughafen lernen, aber sie werden nicht wissen, dass die „Cyborgs“ [so werden die Verteidiger des Donezker Flughafens in Anspielung auf ihr übernatürliches Durchhaltevermögen genannt, Anm.d.Ü.] nirgends in offiziellen Listen geführt wurden. Und es ist unwahrscheinlich, dass es in den Schulbüchern über die ihrem Schicksal überlassenen Brigaden geschrieben wird, die es noch schafften, sich auf russisches Territorium zu retten.
In der Ukraine gibt es viele Journalisten, bürgerliche Aktivisten und Frontsoldaten, die der Öffentlichkeit die bittere Wahrheit erzählen wollen. Aber es scheint, dass der Bürger den süßen patriotischen Mythos wählen wird. Die Ukrainer sind so müde von den Erschütterungen und Katastrophen, dass sie sich lieber mit einem schlechten Frieden zufrieden geben werden als mit einer Verlängerung des heldenhaften Widerstands. Ebenso müde sind sie von der endlosen Flut an demoralisierenden Nachrichten über Verluste, an Fehlern der militärischen Führung, an Nachlässigkeit der Bürokraten usw. Und wenn sie im Voraus eine offizielle Version des Krieges vorschlagen, wo es diese ganzen Alpträume nicht gibt, wird sich die Gesellschaft vielleicht darauf einlassen. Die Bürger der Sowjetunion haben ja auch nicht an die Tat der Leistungen der nicht-existenten „Panfilowzi“ [Kämpfer der 316. Division bei der Verteidigung Moskaus im Jahre 1941, deren Heldentaten sehr übertrieben dargestellt wurden, Anm.d.Ü.] und an das strategische Genie des Generals Schukow glaubten. Und was soll man schon machen – der Krieg ist viel einfacher in seinem propagandistischen Wortlaut zu verstehen. Und noch viel eher dann, wenn diese Propaganda die nationale Selbstliebe glücklich macht.
Daher wird die Herausbildung eines nationalen Mythos über die ATO zur Stabilisierung des ukrainischen politischen Systems mit ihrer Korruption, Klebrigkeit und Ineffizienz beitragen. Aber welche Rolle den ehemaligen Frontmännern beigemessen wird, ist unbekannt. Zumindest im Russland Putins ist der Kult des Sieges mit einer zynischen Missachtung der Interessen der Veteranen verbunden. Die wirklichen Kriegsteilnehmer sind in Armut und Vergessenheit geraten, und auf den feierlichen Tribünen findet man immer nur verkleidete Statisten. Aber trotz alledem werden die künftigen Generationen von Ukrainern bessere Grundlagen für die Einheit und den Stolz auf ihr Land haben, wenn es auch teilweise die falschen sind. Aber ob es das wert ist – das wird nicht nur die ukrainische Regierung entscheiden, sondern auch jeder einzelne von uns.
12. November 2014 // Oleksandr Fomenko
Quelle: Zaxid.net
Forumsdiskussionen
Obm100 in MDR • Re: Ukraine-News: Selenskyj: USA können Russland zum Frieden zwingen
„Wohl eher umgekehrt. Putin würde es aus Angst vor amerikanischen Atomwaffen niemals wagen Alaska oder andere US-Territorien direkt anzugreifen. Von angeblicher Rechtlosigkeit der dort noch ansässigen...“
Awarija in MDR • Re: Ukraine-News: Selenskyj: USA können Russland zum Frieden zwingen
„Wohl eher umgekehrt. Putin würde es aus Angst vor amerikanischen Atomwaffen niemals wagen Alaska oder andere US-Territorien direkt anzugreifen. Von angeblicher Rechtlosigkeit der dort noch ansässigen...“
Obm100 in MDR • Re: Ukraine-News: Selenskyj: USA können Russland zum Frieden zwingen
„Mich würde es Interessieren, ob die Amis sich auch raushalten, wenn der Zwerg Alaska besetzt oder Teilbesetzt. Es könnte ja zu einem Atomkrieg kommen, wenn die Amis Truppen schicken. Sie senden anscheinend...“
Nicnac in Hilfe und Rat • Re: Adoption / Adoptieren eines ukrainischen Kindes
„Klar, ist aber trotzdem auch heute noch - vielleicht gerade heute wo tausende Kinder Hilfe benötigen - ein Thema und wenn der Teilnehmer nicht gelöscht ist, kann man doch fragen, oder? Mehr als KEINE...“
Bernd D-UA in Nützliche und interessante Sachen • Re: Botschaftshinweise: Onlineeintragung in die "Deutschenliste" zur Krisenvorsorge
„@tombi, das Land hat andere Probleme als Dir Deine Wahlunterlagen hinterher zu tragen. Soll auch so bleiben, kostet nur unnötig Steuergelder! Es ist Deine Entscheidung im Ausland zu leben, offensichtlich...“
Frank in Hilfe und Rat • Re: Adoption / Adoptieren eines ukrainischen Kindes
„Hast aber schon gesehen dass das 8 Jahre alt ist?“
Nicnac in Hilfe und Rat • Re: Adoption / Adoptieren eines ukrainischen Kindes
„Hello, Nico! If you are still interested my friends used ukrainian organization to addopt ukrainian kid, I could ask them for contacts of that company. How to connect you for questions?“
Awarija in Allgemeines Diskussionsforum • Re: Erdgaspreise, Erdgasröhren, Sojus/Druschba und Nord Stream
„Ja schade, jetzt ist Herr Erler, neuerdings 5685, wieder in der Versenkung verschwunden. Ich hoffte er könnte vielleicht auch noch ein paar themenbezogene Beiträge hier beisteuern.“
Frank in Allgemeines Diskussionsforum • Re: Erdgaspreise, Erdgasröhren, Sojus/Druschba und Nord Stream
„.. Das erste Erdölvorkommen der DDR wurde 1961 in Reinkenhagen bei Grimmen, im heutigen Landkreis Vorpommern-Rügen, unweit von Greifswald, gefunden. ,... Du haust schon wieder alles sinnlos durcheinander....“
Awarija in Allgemeines Diskussionsforum • Re: Erdgaspreise, Erdgasröhren, Sojus/Druschba und Nord Stream
„Erst: "Was wenige wissen die DDR hatte bedenken und sIe versuchten eigene Gasvorkommen in Ostdeutschland zu suchen." Jetzt: "Das erste Erdölvorkommen der DDR wurde 1961 in Reinkenhagen bei Grimmen..."...“
Anonymer Gast in Allgemeines Diskussionsforum • Re: Erdgaspreise, Erdgasröhren, Sojus/Druschba und Nord Stream
„Aha Wiki links funktionieren nicht weisst aber was steht. Oh man. Noch mal: Während man in Thüringen und der Altmark beim Erdgas fündig wurde, lag das schwarze Gold unter dem pommerschen Boden an der...“
Marek in Anzeigen • Deutscher möchte eine nette Dame kennenlernen.
„Hallo. Ich möchte auf diesem Wege eine nette Frau zwischen 40 und 50 Jahren alt kennenlernen. Ich heiße Marek und komme ursprünglich aus Polen. Ich lebe Deutschland seit über 35 Jahren. Letztes Jahr...“
Tombi in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Ich tippe da eher auf einen gewissen Dauerpegel .... Ist mir egal. Zum Glück gibt es hier sowas wie die Ignorfunktion, welche auch tatsächlich recht gut funktioniert.... Du kannst dieses Forum einfach...“
Tombi in Ukraine-Nachrichten • Re: Seit Beginn des Krieges hat die russische Armee mehr als 794.000 Soldaten an der Front verloren, berichtet der Generalstab
„Noch 15 Jahre so weiter und das Problem ist gelöst; Russland hat sich ausgelöscht. Ich fänd's ganz gut, schappt sich eben Deutschland das Jamal Feld, wenn keiner mehr da ist: greift man zu.“
Tombi in Ukraine-Nachrichten • Re: Trotz Ficos Drohungen: Slowakischer Betreiber verspricht, weiterhin Strom in die Ukraine zu liefern
„Schon wieder eine weitere leere Drohung von einem Putin-Sklaven ? Wie kam der Mann eigentlich an die Macht, ist die Slovakei so hinterfotzig.? Was jetzt? Hat er "einmal heisse Luft" geblubbert? Freut er...“
Anuleb in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Ich tippe da eher auf einen gewissen Dauerpegel .... Ist mir egal. Zum Glück gibt es hier sowas wie die Ignorfunktion, welche auch tatsächlich recht gut funktioniert....“
Tombi in Ukraine-Nachrichten • Re: Sibirien am Ende des Gastransits: Putin wird eines seiner letzten Druckmittel gegenüber der EU beraubt
„Ein steriler Machthaber: hurrah, wir haben ihn kastriert. Hat der Wichser schon vor Jahren verdient: kastriert ihn einfach: schnipp schnapp, der Schniedelwutz ist ab. Nur f£ür die Zarenknecht nicht,...“
Tombi in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Vielleicht tue ich den Bewohnern des Donbass ja unrecht mit meiner Einschätzung, wenn Du Tombi also belastbare Informationen .... Was willst Du denn noch: der Dombass hat mit Grosser Mehrheit für die...“
Frank in Berichte und Reisetipps • Re: Mit dem Zug in die Ukraine
„Mein "ADSL" ist wesentlich langsamer geworden, durch diesen Windows 10/11 Schrott mit meinem Glasfaseranschluss. ADSL ist Kupferkabel, nix Glasfaser.“
Frank in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Da hat wohl jemand noch zu viel Restalkohol im Blut... Ich tippe da eher auf einen gewissen Dauerpegel ....“
Awarija in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Vielleicht tue ich den Bewohnern des Donbass ja unrecht mit meiner Einschätzung, wenn Du Tombi also belastbare Informationen zur derzeitigen Situation bzw Stimmung dort hast immer her damit. Kein Grund...“
Anuleb in Politik • Re: Der Ukraine droht ein schmerzhafter Abschied vom Donbass
„Da hat wohl jemand noch zu viel Restalkohol im Blut. Wenn du wieder nüchtern bist, können wir uns ja gerne auf einem zivilisierten Niveau austauschen. Sollte dieses zur Schau gestellte Niveau jedoch...“