„Ich wollte gegen den Strom und die Trends der modernen Gesellschaft schwimmen: ich verlache nicht nur die Literatur, nicht nur die sexuellen und Genderstereotype, sondern auch die Versuche der modernen Pseudoliberalen zu neuen Tyrannen zu werden und eine Zensur einzuführen“, so charakterisierte ein trendiger ukrainischer Autor seinen letztjährigen Roman. [gemeint ist Andrij Ljubka mit seinem Roman „Mur / Mauer“, A.d.Ü.]
In seinem Interview merkte der junge Intellektuelle herausfordernd an: „Bemerken Sie, dass uns immer öfter gesagt wird: So darfst du nicht reden, darüber darf man nicht lachen, das ist Altersdiskriminierung und das Sexismus und das hat einen rassistischen Beigeschmack.
Es ist paradox, doch anstelle von Entwicklung und Erweiterung von Freiheiten jagt man uns erneut in eine Art von Rahmen, dazu wird das noch in grober, agrressiver und lehrmeisterlicher Weise getan!“??
Tatsächlich gibt es auch eine andere Sichtweise, die unbequeme Fragen hervorruft. Wie kann ein ukrainischer Literator gegen den Strom schwimmen, wenn seine Position mit den Ansichten der überwiegenden Mehrheit der Mitbürger übereinstimmt?
Kostet sein Protest gegen die politische Korrektheit viel, wenn in unserer Gesellschaft die Inkorrektheit eine etablierte Norm ist? In welcher Weise widersteht er dem Mainstream, wenn intolerante und beleidigende Witze wie gehabt ukrainischer Mainstream bleiben?
Vor uns steht ein Phänomen, das weit über den Rahmen der zeitgenössischen ukrainischen Literatur hinausgeht und in vielem den Inhalt des einheimischen intellektuellen Lebens bestimmt. Von der Sache her hängt die moderne Ukraine an der Grenze zwischen zwei alternativen Realitäten fest.
Einerseits fühlen wir uns als Teil einer globalen Welt. Wir sitzen in den gleichen sozialen Netzwerken wie auch Amerika und Europa und leiden gemeinsam mit dem Planeten unter den temporären Störungen von Instagram und Facebook.
Wir konsumieren Nachrichten aus New York, Berlin und London im Nonstop-Regime. Die Tagesordnung der führenden westlichen Länder – sei es der radikale Feminismus, die Black-Lives-Matter-Bewegung oder die lästige neue Ethik – erscheint uns als irgendwie nah und greifbar.
Doch andererseits existiert eine ukrainische Binnenagenda, die oftmals nichts mit der allgemeinen globalen gemein hat.
Es gibt eine Massenstimmung der Ukrainer, die von den Sorgen des modernen Westens abweicht.
Es gibt ein System fest verankerter Werte, das von den normalen Einwohnern als auch von den Vertretern des regierenden Establishments geteilt wird.
Es gibt eine kolossale postsowjetische Trägheit, die fast immun gegen moderne ausländische Einflüsse ist.
Aufgrund dieser Ambivalenz erhalten unsere Meinungsmacher eine einzigartige Möglichkeit, mit dem Strom zu schwimmen und dabei eine Bewegung gegen die Strömung zu imitieren.
Sich den Umstehenden anpassen und gleichzeitig mit der eigenen scharfen Opposition prahlen. Eine komplett konformistische Position einnehmen, doch dabei auf verwegenem Nonkonformismus Anspruch erheben.
Eine derartige Pseudodissidenz wird zur todsicheren Taktik.
Wollen Sie den Ruf eines furchtlosen intellektuellen Helden erwerben, ohne etwas zu riskieren? Es gibt nichts einfacheres! Beschäftigen Sie sich mit der Kritik globaler Trends, die nominal die Ukraine berühren, aber diese faktisch links liegen lässt.
Dieser demonstrative Protest droht mit keinerlei Schwierigkeiten. Sie werden sicher nicht mit Problemen im professionellen Arbeitsfeld konfrontiert werden.
Sie werden überhaupt keine merkbaren Verluste in der Reputation erleiden. Sie werden garantiert nicht zu einem Opfer der Cancel Culture. Doch dafür wird Ihnen der Applaus von Zehntausenden Mitbürgern sicher sein, die Ihren Mut und Ihre Frechheit gutheißen.
Dagegen ist die Durchsetzung der globalen Agenda in der Ukraine sehr oft an reale Schwierigkeiten gekoppelt. Mit realem Widerstand. Mit echter Missbilligung und echtem Unverständnis.
Als krasses Beispiel kann die Covid-19-Pandemie dienen. Im vergangenen Jahr hat sich in der Ukraine eine Schicht von populären Bloggerärzten herausgebildet, die aktiv die weltweiten Ansätze im Kampf mit dem Coronavirus kritisieren, darunter die Massenimpfung.
Sie argumentieren furchtlos über den Irrtum der westlichen Regierungen und die Machenschaften der Pharmaunternehmen.
Sie heben Informationen über die unzureichende Effektivität der Impfstoffe auf den Schild. Richten die Aufmerksamkeit auf ihre negativen Nebenwirkungen.
Propagandieren die Vorteile der natürlichen Immunität.
Auf den ersten Blick fordern die dissidenten Mediziner den Mainstream heraus und demonstrieren ihre intellektuelle Unabhängigkeit.
Jedoch verhalten sich die Dinge in Wahrheit komplett umgekehrt: denn der ukrainische Mainstream ist gegen Impfungen eingestellt. Bescheidene 15 Prozent komplett geimpfte Ukrainer – im Vergleich zu 60-80 Prozent geimpfter Bevölkerung in den westlichen Ländern – sprechen für sich.
In ihrer Masse sind unsere Mitbürger gegenüber der Impfkampagne negativ eingestellt und damit muss man auf der Jagd nach Likes rechnen.
Wenn Sie auf ein Massenpublikum abzielen, ist es notwendig die Stimmung der Mitbürger widerzuspiegeln und das zu verlautbaren, was die normalen Nutzer der sozialen Netzwerke hören wollen.
Der ukrainische Mediziner, der die öffentliche Meinung in Facebook bedient, ist einfach dazu verpflichtet, sich kritisch zur allgemeinen Impfung zu äußern.
Andernfalls folgt eine scharfe Verkleinerung des Auditoriums und ein Verlust des Volksvertrauens, der Verlust der Normalbürgersympathien.
Augenscheinlich ist die Abhängigkeit vom dominierenden Trend, doch diese Abhängigkeit verbirgt sich in der Verpackung intellektuellen Mutes und des Widerstands gegen den Mainstream.
Obgleich die ukrainischen Kritiker der globalisierten Welt mit ihrer Emanzipiertheit angeben, erinnert ihre Freiheitsliebe an die alte sowjetische Anekdote: „Ich kann auf den Roten Platz gehen, ,Nieder mit Reagan‘ schreien und mir wird nichts passieren.“
Hinter dem Vorzeigen von freiem Denken verstecken sich zu oft innere Beschränkungen – die schwere Last von einheimischer Unwissenheit, Vorurteilen und Engstirnigkeit, die wesentlich leichter zu rechtfertigen als zu überwinden ist.
Dabei riskiert diese Tendenz, auf allgemeinstaatliches Niveau zu gelangen.
Es ist kein Geheimnis, dass die Forderungen, die aus dem Westen kommen, für jede ukrainische Regierung belastend sind.
Die Reformierung des Systems, der Kampf gegen die Korruption, die Beachtung demokratischer und rechtlicher Normen: All das ruft keinen besonderen Enthusiasmus auf den Hügeln von Petschersk [Regierungsviertel in Kiew, A.d.Ü.] hervor und wird wenn möglich sabotiert.
In der Perspektive ist der fehlende Fortschritt in der Lage die Ukraine von Brüssel und Washington wegzutreiben. Doch für diesen Fall hat das offizielle Kiew eine geeignete Erklärung für den Gebrauch im Inneren des Landes.
Den Verzicht auf Reformen kann man immer als Widerstand gegen das globale Diktat präsentieren.
Der Unwillen die Kastenprivilegien zu opfern wird als Verteidigung der ukrainischen Freiheit vor einem Angriff von außen zu verteidigen dargestellt. Die Unfähigkeit vom Populismus abzuweichen als Härte bei der Vertretung nationaler Interessen.
Und diese Rhetorik stellt ein Land komplett zufrieden, in dem der Weg des geringsten Widerstands als eine willensstarke Bewegung gegen den Strom angesehen wird.
9. Oktober 2021 // Michail Dubinjanski
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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