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Gespalten durch Selenski

1 Kommentar

In den vergangenen acht Monaten gewöhnten wir uns daran, das Land in Gegner und Anhänger des neuen Garanten zu teilen.

Das gerade erst begonnene Jahr 2020 brachte bereits reiche Kost für die Aufrechterhaltung dieses Binnenantagonismus. Hier gibt es die skandalöse Neujahrsansprache von Se[lenski] und seinen Aufenthalt im Oman und die Reaktion auf die abgeschossene Boeing und den frischen Skandal um das Abhören des Regierungschefs. [In seiner Neujahrsansprache versuchte Wolodymyr Selenskyj eine Botschaft der Einigung über alle Unterschiede hinweg zu verbreiten und das Einende aller Ukrainer zu betonen. In „patriotischen Kreisen“ stieß dies auf harsche Ablehnung. Ebenso kontrovers aufgenommen wurde zumindest im Medienbereich sein Oman-Aufenthalt Anfang Januar, den das Präsidialamt linkisch mit einer Reise auf private Kosten und schnell anberaumten Treffen zu rechtfertigen suchte, um den Vergleich zum heimlichen Malediven-Trip von Amtsvorgänger Petro Poroschenko nicht aufkommen zu lassen. Bei dem vom Iran abgeschossenen Flugzeug wurde Selenskyj wiederum eine zu zurückhaltende Reaktion vorgeworfen, spätestens nachdem USA, Kanada und Großbritannien den Verdacht des Abschusses öffentlich ausgesprochen hatten. A.d.Ü.]

Es versteht sich, dass die Leidenschaften, die um Wladimir Selenski toben, sehr bequem durch das gut bekannte Nachwahlprisma zu betrachten sind. Doch das reale Gamma der gesellschaftlichen Stimmungen ist schwieriger, als die Wahl, die im vergangenen Jahr gemacht oder nicht gemacht wurde.

Weder die relativen 73 Prozent [für Selenski], noch die relativen 25 Prozent [dagegen], noch sogar die relativen acht Prozent [für Poroschenkos Partei bei den Parlamentswahlen, A.d.Ü.] können auf Geschlossenheit pochen. Und bei weitem nicht alle Nuancen, die mit der derzeitigen Teilung der Ukraine verbunden sind, können mit der trockenen Sprache der Soziologie beschrieben werden.

Außer Vertrauen und Misstrauen, Sympathie und Antipathie, Zustimmung und Kritik gibt es auch andere Indikatoren, welche die Beziehung der Gesellschaft zur amtierenden Regierung kennzeichnen. Dabei sind sie perspektivisch wichtiger.

Der erste dieser Indikatoren ist die Legitimität Selenskis als Präsident.

Ein Teil der Bürger stellt diese nicht infrage: unabhängig von den eigenen politischen Leidenschaften. Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] kann als guter oder schlechter Bursche erscheinen, als aussichtsreicher Reformator oder inkompetenter Populist, doch, so oder anders, bleibt er das anerkannte Oberhaupt des ukrainischen Staates. Der aus dem 95 Kwartal [Produktionsfirma Selenskis, A.d.Ü.] Kommende kann Unterstützung oder Missbilligung verdienen, doch in jedem Fall ist er ein genauso vollwertiger Präsident, wie sein Vorgänger. Die aktuelle Politik der Bankowaja [Sitz des Präsidenten] kann imponieren oder Ablehnung hervorrufen, doch das Recht Selenskis diese Politik durchzuführen ist unanfechtbar.

Dagegen erkennt ein anderer Teil der Bürger dieses Recht des Garanten nicht an. Der gestrige Showman wird entweder als Usurpator der Macht gesehen oder als Kerenski in den Augen der Monarchisten oder als Titelbetrüger, wie der aufgeflogene Grigori Otrepjew oder als feindliche Marionette, wie der von den Besatzern ernannte Quisling.

Die 73 Prozent, die Selenski bei den Wahlen erhalten hatte, bedeuten diesem Teil der Gesellschaft überhaupt nichts und entledigen den sechsten Präsidenten nicht der Vorsilbe „Nichtganz.“

Von der Sache her gleicht diese Wahrnehmung Wladimir Alexandrowitschs [Selenski] dem russischen Blick auf uns. Aus der Sicht des nördlichen Nachbarn ist die Ukraine kein kritisierbarer Staat – sie ist überhaupt kein Staat. Aus der Sicht der Unversöhnlichen selbst ist Selenski kein kritisierbarer Präsident – er ist überhaupt kein Präsident.

Der zweite nicht weniger kennzeichnende Indikator ist die Beziehung zu jedem Negativen, das die Regierung von Se[lenski] begleitet.

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Den einen Teil der Bürger betrüben die Fehler und Misserfolge Selenskis als Staatsmann. Dabei versucht der eine nach Möglichkeit die unangenehmen Tendenzen nicht zu bemerken und ein anderer präpariert diese mit der Pedanterie eines Chirurgen. Jemand sucht für das Regierungsteam nach Rechtfertigungen und ein anderer kennt keine Nachsicht gegenüber Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] und seinen Mitstreitern. Doch sowohl die einen als auch die anderen eint die Vorstellung vom Wohl und Übel: je weniger Fehlkalkulationen und Misserfolge der derzeitige Bewohner der Bankowaja zulässt, um so besser. Derjenige, der mit Selenski während der Präsidentschaftswahlen sympathisierte, möchte sich als Wahrsager erweisen. Derjenige, der die Wahl von Se[lenski] nicht unterstützte, möchte sich als schlechter Wahrsager erweisen.

Dagegen erfreuen einen anderen Teil der Bürger eben jene Fehlkalkulationen und Misserfolge offen. Begeistern ihn, erfüllen ihn mit Energie, geben Hoffnung auf die Wiederherstellung der geschändeten Gerechtigkeit. Jeder Fehlschlag der amtierenden Regierung wird heiß begrüßt. Jede Unannehmlichkeit wird vor allem als Nagel angesehen, der in den Sarg des verachteten Se[lenski] geschlagen wird. Für diese Gesellschaftsschicht stellt sich das Fiasko Selenskis als größeren Wert dar, als das Überleben der ukrainischen Wirtschaft, die Beibehaltung der internationalen Unterstützung oder eine stabile Situation an der Front. Das Prinzip „je schlechter, um so besser“ wurde in den Rang des Absoluten erhoben.

Schlussendlich, der dritte Indikator, der eng mit den beiden vorhergehenden verbunden ist – die Ineinssetzung der Se!Regierung mit der Ukraine als solcher.

Für den einen Teil der Bürger existiert eine mehr oder weniger ausgedrückte Verbindung zwischen den Interessen des Regierungsteams und den ukrainischen Interessen. Die Unterstützer Selenskis stärkt das in der eigenen politischen Position. Doch die Nichtunterstützer Selenskis schränkt das in den Methoden des Widerstands gegen die Regierung ein. Schläge gegen den Präsidenten sind unzulässig, wenn im Ergebnis der Staat selbst leidet. Niederlagen des Se!Teams sind unerwünscht, wenn sie sich in Niederlagen für die Ukraine verwandeln. Das Scheitern Selenskis ist unannehmbar, wenn es von einer Destabilisierung begleitet wird, die feindseligen auswärtigen Kräften nützen. Mit einem Wort, sogar Wladimir Alexandrowitsch [Selenski] unbarmherzig kritisierend, sieht sich dieser Teil der Gesellschaft in einem Boot mit ihm.

Dagegen treten für den anderen Teil der Bürger Selenski und seine Mitstreiter als Anti-Ukraine auf. Entsprechend ist jede Niederlage des Se!Teams gleich einem ukrainischen Gewinn. Und daher kann es im Kampf mit der Bankowaja keine verbotenen Methoden, ungeschriebene Tabus und rote Linien geben.

Diese Bürger fürchten sich nicht davor, das Kind mit dem Bade auszuschütten: Ihrer Überzeugung nach gibt es kein Kind. Sie haben keine Angst Moskau zuzuspielen, indem sie den amtierenden Präsidenten attackieren: In ihren Augen verwirklicht Se[lenski] die Moskauer Interessen.

Sie fürchten sich nicht davor die Ukraine zu treffen, wenn sie auf Selenski zielen: Aus ihrer Sicht wird der ukrainische Staat von Selenski vernichtet und erfordert Rettung. Der Ironie des Schicksals nach ist dies das Gleiche „schlechter wird es nicht“, von dem sich noch vor kurzem viele Hasser von Präsident Poroschenko leiten ließen.

Wir sind es gewohnt, das Land in Anhänger und Gegner des neuen Garanten zu teilen. Auch Wladimir Selenski ist daran gewöhnt: Sogar in seiner kontroversen Neujahrsansprache erinnerte er an „73 Prozent, welche den Präsidenten wählten und 25 Prozent, die ihn nicht akzeptieren.“

Jedoch sinkt das Vertrauensniveau gegenüber der neuen Regierung ständig. Die Herausforderungen, mit denen die neue Regierung konfrontiert ist, wachsen schnell. Und in Krisensituationen ist nicht nur die Zahl der Anhänger wichtig, sondern auch die qualitative Zusammensetzung der Gegner: die, wie sich aus dem oben dargelegten hervorgeht, äußerst heterogen ist.

Die Fragmentierung der 25 Prozent spielt eine nicht geringere Rolle, als die Aufteilung der 73 Prozent. Es kann sich ergeben, dass im Endeffekt das Schicksal Selenski nicht die Befürwortung der Politik des Präsidenten entscheidet, sondern der Grad ihrer Ablehnung. Nicht die Liebe der Mitbürger, sondern der Charakter der Nichtliebe. Und im neuen Jahr 2020 lohnt es sich für Wladimir Alexandrowitsch nicht nur über seine Umfragewerte, sondern auch über die Schattierungen der eigenen Ablehnungswerte nachzudenken.

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19. Januar 2020 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein — Wörter: 1198

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Kommentare

#1 von Anonymous
Die Ukraine ist viel stärker gespalten als damals die Tschechoslowakei.
Die Tschechen und Slowaken leben nun friedlich in 2 getrennten Ländern.
Die Ukrainer würden viel stärker und kompakter in der Geschichte auftreten
ohne die ganzen "russisch-orthodoxen Kleinrussen", die sich IMMER spirituell
Moskau zugehörig fühlten wie u.a. auch der unterwürfige Hr.Selenski.
Und ich glaube auch, dass die ganze "linksufrige Ukraine", also das wahre Malorossija,
ihren inneren Frieden finden wird im schwelgenden Gesang russisch-orthodoxer Kirchenlieder.
Gemeinsam mit ihren grossen Befreiern aus Moskau.
Stolze Herren und unterwürfige Sklaven.
Russen und Kleinrussen.
Putin und Selenski.

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