Der Außenminister Ungarns Péter Szijjártó versprach im Zusammenhang mit unserem Gesetz „Über die Bildung“, bei der kommenden Sitzung des EU-Rats die Frage nach der Überprüfung des Assoziierungsabkommens mit der Ukraine zu stellen. Das ist die schärfste Ankündigung des Oberhaupts der ungarischen außenpolitischen Abteilung in der gesamten Zeit seit der Unterzeichnung des Gesetzes „Über die Bildung“ durch Pjotr Poroschenko. Und obwohl noch nicht klar ist, in welcher Art Budapest das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine überprüfen will, ist allein die Bereitschaft, nicht nur auf propagandistischer, sondern auch auf institutioneller Ebene zu handeln, bezeichnend. Deshalb ist es für uns sehr wichtig zu verstehen, was tatsächlich vor sich geht.
Gegenüber dem Gesetz „Über die Bildung“ erheben durchaus nicht nur die Ungarn Ansprüche. Praktisch alle Nachbarn der Ukraine würden gern den Status quo wahren, der sich ausdrückt in ihrer faktischen Kontrolle über die nationalen Minderheiten und in der Entwicklung von Perspektiven für die Vertreter dieser Minderheiten in den Herkunftsländern, aber nicht an ihrem Wohnort. Andererseits ist die Verpflichtung der Ukraine, für die Vertreter nationaler Minderheiten die Möglichkeit des Erhalts von Unterricht in ihrer Muttersprache zu bewahren offensichtlich. Aber die Sache ist die, dass das Gesetz „Über die Bildung“ diese Möglichkeiten überhaupt nicht einschränkt! Das Recht auf Bildung in der Muttersprache ist für die Grundschulen vollständig erhalten und für die mittlere Schule ist die Möglichkeit vorgesehen, gleich mehrere Fächer in Sprachen von Ländern der EU zu unterrichten, also auch in Ungarisch, Rumänisch, Bulgarisch, Polnisch. Und wenn Budapest wirklich die ungarische Schule in Transkarpatien erhalten wollte, so würden sie jetzt gemeinsam mit den ukrainischen Kollegen an der Festlegung von Parametern für das Funktionieren einer solchen Schule für das kommende ukrainische Gesetz arbeiten, welches sich der mittleren Bildung widmen wird.
Aber in Budapest wählte man den Konfrontationskurs, übrigens auch dann noch, als klar wurde, dass der ungarischen Schule, wie übrigens auch der rumänischen, der bulgarischen und der polnischen, überhaupt nichts droht. Und das ist, nebenbei bemerkt, sowohl den Befürwortern als auch den Gegnern des Bildungsgesetzes klar. Bei meiner Fernsehsendung, die sich dem Gesetz „Über die Bildung“ widmete, ballte der Abgeordnete der Ukraine und einer der Führer der gesamtukrainischen Vereinigung „Swoboda“ Jurij Lewtschenko buchstäblich seine Fäuste, als er aufzeigte, dass der Sprachartikel dieses Gesetzes ein Bluff ist, dass tatsächlich keinerlei „wirkliche“ Ukrainisierung der Bildung stattfindet, gerade in Erwähnung des berüchtigten Artikel 7 zu den Sprachen der Europäischen Union.
Es ist verständlich, dass „Swoboda“ als Formation, die das Thema des eigenen Radikalismus in humanitären Fragen für sich nutzt, einfach verpflichtet ist, für die totale Ukrainisierung der Bildung einzutreten. Das heißt dafür, dass die Ungarn und Rumänen Bildung in ukrainischer Sprache erfahren. Und Lewtschenko sieht das, was Szijjártó vielleicht nicht sieht: dass den Ungarn die Möglichkeit des Lernens auf Ungarisch erhalten bleibt. Das Einzige, was das neue Gesetz ändert, ist: es gibt den ukrainischen Bürgern ungarischer (oder rumänischer) Abstammung die Möglichkeit, die Staatssprache zu können und ukrainische weiterführende Bildungseinrichtungen zu besuchen, vollwertige Teilnehmer am Prozess des Staatsaufbaus und dessen Lenkung zu sein. Aber warum sind die Positionen von „Swoboda“ und des offiziellen Budapest im Verhältnis zu diesem Gesetz praktisch nicht zu unterscheiden? Weil dort, wo Jurij Lewtschenko eine Absage an die totale Ukrainisierung sieht, Péter Szijjártó die totale Ukrainisierung sieht?
Weil es überhaupt nicht um die Ungarn geht. Natürlich ist die Versuchung groß, die strenge Position Budapests mit den bevorstehenden Parlamentswahlen in Ungarn und dem Wunsch der Berater Viktor Orbans, das „patriotische“ Thema für sich zu nutzen, groß. Aber dieser Weg ist voller Enttäuschungen: nach den Wahlen ändert sich nichts. Und zwar deshalb:
Es gibt noch ein Land, dessen Interessen von dem ukrainischen Gesetz „Über die Bildung“ direkt berührt sind. Dieses Land ist Russland. Was tatsächlich infolge des Gesetzesbeschlusses verschwindet, ist die russische Schule nach der 5. Klasse. Weil Russisch – wie schade! – keine Sprache der Europäischen Union ist. Und in der Folge erfüllt sich mein lang gehegter Traum: ukrainische Kinder fangen letztendlich an, Puschkin, Tolstoi und Dostojewski in der Übersetzung in ihrer Muttersprache zu lesen (mit Ausnahme der Angehörigen der russischen ethnischen Minderheit versteht sich, für sie bewahrt das Gesetz alle Möglichkeiten zum Erlernen ihrer Sprache und Literatur).
Man sollte meinen, diese Flucht der Ukraine aus der „Russischen Welt“ sollte die erbitterte Reaktion Russlands hervorrufen. Das ist schließlich ein echter zivilisatorischer Umbruch! Die russische Sprache ist eben diese „goldene Fessel“ an der Eiche, die Russland mit seinen ehemaligen Kolonien verbindet. Zudem beteuert eine große Anzahl von Menschen, dass eben diese Sprache, die Sprache, die sich traditionell im zivilisatorischen Abseits eines marginalen Imperiums befindet, ein Fenster zur großen Welt sei. Warum ist man in Russland nicht wütend?
Man ist wütend, aber nur sehr vorsichtig. Denn wenn man die Frage der russisch-sprachigen Schule ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt, so taucht unweigerlich die Frage nach der Russifizierung, Annexion und Okkupation ukrainischer Schulen in Russland und der Krim auf und im Ergebnis könnte man die Konsolidierung der ukrainischen Gesellschaft im Verhältnis zum Aggressor erhalten, aber keine Gesetzesänderung. Dahin gelangt man besser „durch die Hintertür“, indem man die Ukraine der Abkehr von europäischen Werten beschuldigt, der Benachteiligung der Ungarn oder Rumänen. Das ist das, was vielleicht funktioniert. Deshalb sollte zur Hauptfigur im Überfall auf den ukrainischen Bildungsprozess verständlicherweise ein europäischer und kein russischer Staatsbediensteter werden.
Wenn man das warme Verhältnis Moskaus zu Budapest einrechnet, muss man sich nicht wundern, dass die lautesten und schärfsten Forderungen ausgerechnet aus Ungarn erklingen, und nicht, zum Beispiel, aus Rumänien, obwohl die Rumänen mit dem Bildungsgesetz auch nicht sonderlich einverstanden sind.
Was soll die Ukraine in dieser Situation tun?
Erstens, nicht auf die Provokationen und den konfrontativen Ton im Dialog mit den Nachbarn eingehen. Im Gegenteil, ein ständiger Dialog ist notwendig. Und wenn Budapest den Dialog verweigert, wie das bei dem geplatzten Treffen ukrainischer und ungarischer Abgeordneter geschah, und jetzt, als Péter Szijjártó sich weigerte, in Uschgorod mit Pawel Klimkin zu sprechen, dann spricht das für uns und nicht für die Nachbarn.
Zweitens ist es wichtig, sich aufmerksamer in Bezug auf die Probleme der ukrainischen Minderheiten in den benachbarten Ländern zu verhalten. In Ungarn und Rumänien erinnert man sich ziemlich rechtmäßig daran, dass die Ungarn in Transkarpatien und die Rumänen in der Bukowina die autochthone Bevölkerung dieser Regionen sind. Und bei weiteren Konsultationen sind wir verpflichtet, auf den Rechten dieser Ukrainer auf eine transparente Bildung zu beharren, wie sie die nationalen Minderheiten der Ukraine erhalten werden.
Drittens muss man nicht davon ausgehen, dass jede Kritik, die aus Westen erklingt, auch eine Kritik aus dem Westen ist. Das kann auch Kritik aus dem Osten sein. Mit Ungarn ist es noch nicht so schwierig. Das Verhältnis von Moskau und Budapest wird nicht verschleiert und Ungarn selbst ist auch nicht gerade ein Vorbild zur Nachahmung in der EU. Viel schlimmer ist es, wenn in der Rolle des „Hauptkritikers“ ein vorbildliches EU-Land, weit entfernt von Moskau, agiert. Ich möchte nur an das sogenannte konsultative Referendum in den Niederlanden erinnern, das für lange Zeit den Ratifizierungsprozess der Assoziierungsvereinbarung zwischen Ukraine und der EU verzögerte und Brüssel zwang, unsinnige Einschränkungen zu machen, die es dem niederländischen Parlament erlaubten, die Vereinbarung unter Umgehung des „Volkswillens“ zu unterzeichnen. Das war eine wirklich glänzende Spezialoperation, in deren Verlauf Innovationen in der niederländischen Gesetzgebung genutzt wurden, sowie russische Mittel und Propagandaressourcen, die Angst vor der EU-Erweiterung, Desinformation, Hollands „nützliche Idioten“ – alles lief nach Plan! Und das war durchaus nicht die erste und nicht die letzte Spezialoperation des Kreml in Europa.
In solchen Situationen ist es das Wichtigste, die Selbstbeherrschung zu bewahren. Und die Umformatierung der Einstellung zu Forderungen an unseren Staat. Wir sind in der Tradition aufgewachsen und erzogen worden, nach der jegliche Forderung aus Moskau ein Befehl war, nach dem unbedingt die Situation so zu verändern war, wie es der wütende Herr will.
Doch jede beliebige Forderung aus dem Westen, in welcher Form auch immer sie erscheinen mag, ist kein Befehl.
Sie ist nur die Einladung zu einem Gespräch und der Verteidigung der eigenen Position.
10. Oktober 2017 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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