Am 22. April wäre der proletarische Führer Uljanow/Lenin 140 Jahre alt geworden. Das ehemalige Idol von Millionen rückte für kurze Zeit erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Das jetzige Jubiläum erinnert an Lenins „Schwanenlied“, ein letztes Aufplätschern des Interesses für Lenin vor dem endgültigen Vergessen. Nicht seine ideologischen Gegner, welche den Oktoberumsturz und den roten Terror verdammen, schicken den nuschelnden Revolutionär in Rente. Nein, den verräterischen Schlag in den Rücken führten die ukrainischen Kommunisten durch, die sich einen schillernden Helden erwählt haben: Genossen Stalin/Dschugaschwili.
Am Vorabend des leninschen Jubiläums haben die Newsmaker der KPU nicht annähernd so sehr an Wladimir Iljitsch erinnert, wie sie über ein künftiges Denkmal Stalins nachgedacht haben. Man fühlt, dass die skandalösen Vorfälle in Saporoschje die Kommunisten weitaus mehr interessieren, als die Feiern zu Lenins 140jähirgen Jubiläum.
Der Parteiheilige Leonid Gratsch träumt sowieso von einem „neuen Stalin“, der Ordnung schafft, den Oligarchen die Ausbeutung nicht erlaubt, die Korrupten auf die Schlangeninsel schickt und die Lebensmittelpreise senkt.
Es ist bezeichnend, dass Gratsch in seinem ausführlichen Interview nicht ein einziges Mal Lenin erwähnt.
Der energische Dschugaschwili verdrängt Uljanow ohne Mitleid aus dem Informationsraum und eine solche Tendenz ist nicht nur in der Ukraine zu beobachten.
„In den siebzig Jahren der Existenz der Sowjetunion war der Hauptmythos des Landes jener von Lenin, dem Führer des Weltproletariats. Und plötzlich ist Lenin ausgezählt und wird heute von Stalin deutlich überstrahlt“, stellen russische Massenmedien fest.
Warum haben wohl die ukrainischen Linken Lenin gegen Stalin eingetauscht? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt man nicht um einen gewissen ideologischen Exkurs herum: Man muss daran erinnern, als was sich die linke Bewegung in unserem Land darstellt.
Hinter der Bezeichnung „Linke“ verstecken sich in der Ukraine eingefleischte, konservative Traditionalisten. Ihr Antrieb sind keine marxistisch-leninistischen Chimären, sondern die Nostalgie des realen, sowjetischen Imperiums.
Die Wählerschaft der „linken Kräfte“, die sich im Südosten des Landes konzentriert, zieht konservative Werte wie Stabilität, Ordnung, gesellschaftliche Moral und geopolitische Macht vor.
Die marxistische Ideologie ist ihr nur insoweit nah, wie sie von den Machthabern der ehemaligen UdSSR offiziell verkündet wurde.
In der Weimarer Republik schwelgten Menschen mit ähnlicher Mentalität in einer Nostalgie über die gesegneten Zeiten des Kaiserreichs, im Österreich der Zwischenkriegszeit erinnerte man sich der guten, alten Habsburger und im sowjetischen Russland der 20er Jahre trauerte man dem Zarenimperium hinterher.
In den westlichen Regionen der Ukraine unterstützen die Bürger ihrer eigenen Konservatoren, Parteien wie die UNP oder „Narodni Ruch“.
Natürlich findet man in der Ukraine auch echte Linke, die fähig sind, György Lukacs von Herbert Marcuse zu unterscheiden. Aber das sind vollkommene Marginalien, ohne Einfluss auf die Massen oder politisches Gewicht. Was stimmt nur mit den offiziellen Linken nicht, dass sie so weit von dem entfernt sind, was man in der zivilisierten Welt unter linker Bewegung versteht?
Im kultivierten Europa ist es schwierig, linke Anhänger der Todesstrafe, linke Militaristen, linke Homophobe, linke Verehrer Putins, des Kriegs in Tschetschenien oder der Bombardierung Goris zu finden.
Für unsere „Linken“ ist das die Norm. Und das ist auch verständlich: Im sowjetischen Imperium stellte man Verbrecher unbeschadet an die Wand, geschlechtliche Abweichler wurden verfolgt, tapfere Soldaten rasselten mit den Waffen, na ja und der strenge Wladimir Wladimirowitsch ist der erfolgreiche Fortführer der geopolitischen Traditionen der UdSSR…
Und so gibt es in der Ukraine keine linken Kräfte – wir haben die Konservativen aus dem Südosten. Die Anerkennung dieses einfachen Faktums erlaubt die Erklärung von Dingen, die auf den ersten Blick vollkommen paradox erscheinen.
Warum halten die Anhänger der KPU die Allianz der ukrainischen Kommunisten mit den Oligarchen-Regionalen nicht für ein Verbrechen? Auf welche Weise verbinden sich die kommunistischen Prinzipien so gut mit der Unterstützung des Moskauer Patriarchats? Wie wurde die buchstäblich mit Bourgeoisen gespickte Partei der Regionen zur elektoralen Haupterbin der Kommunistischen Partei in den südöstlichen Regionen der Ukraine?
Selbstverständlich ist ein linker Anführer, der mit Oligarchen und reaktionären Popen liebäugelt, Nonsens. Aber für einen konservativen Politiker ist die Zusammenarbeit mit Großkapital und rechtgläubigem Fundamentalismus völlig natürlich.
Freilich würden linke Wähler niemals die Partei der Geldsäcke unterstützen, die die Partei der Regionen nun mal ist.
Aber die pseudolinke Wählerschaft der ukrainischen Kommunisten ist eine ganz andere Sache. Wenn die Partei der Regionen als perspektivreicherer Reanimator des Imperiums erscheint, warum soll man sich dann nicht auf Janukowitsch und Co. umorientieren?
Es klärt sich auch eine nicht weniger wichtige, ideologische Frage: Warum hält Genosse Lenin der Konkurrenz durch Stalin nicht stand? Es ist alles sehr einfach. Der nuschelnde Führer sitzt im Panzerwagen – ein idealer Held für begeisterte Linke, aber untauglich als Idol für die Konservativen. Seine destruktive, revolutionäre Tätigkeit hat wenig gemein mit imperialer Größe und beneidenswerter Stabilität, nach der sich die ukrainischen „Linken“ sehnen.
Das strenge, leninsche Porträt ist ihnen als Teil des monumentalen, sowjetischen Erbes teuer, aber nicht mehr.
Dafür ist Josef Wissarionowitsch ein echter Quell konservativer Tugenden. Stalin – das sind eiserne Ordnung und goldene Schulterstücke, industrieller Gigantismus und hoheitliche Paläste, der Sieg im Vaterländischen Krieg und der Kampf für russische Prioritäten in der Wissenschaft, die Verfolgung der heimatlosen Kosmopoliten und die Zusammenarbeit mit der rechtgläubigen Kirche, geopolitische Macht und die Atombombe…
Mit einem Wort alles, wovon der überzeugte Traditionalist nur träumen kann.
Nicht verwunderlich, dass der schnurrbärtige Führer seinen glatzköpfigen Vorgänger verdrängt. Der Leninkult hält sich in den Weiten der ehemaligen UdSSR nur träge, welk und ohne besonderen Enthusiasmus.
Was soll man machen: Die Figur des unberechenbar revolutionären Zerstörers dissoniert klar mit den patriarchaischen Werten der postsowjetischen Kommunisten und ihrer Anhänger. Im Gegensatz dazu passt der despotische Staatsmann Stalin perfekt in den konservativen Diskurs und das fühlen die Funktionäre der KPU.
Das Vergessen hätte Genossen Lenin wohl schon früher erreicht, wenn dem nuschelnden Meuterer nicht die radikalen, ukrainischen Nationalisten zu Hilfe gekommen wären. Die ideologischen Feinde lassen den Initiator der proletarischen Revolution nicht in Ruhe – mal schlagen sie einem Granit-Lenin die Nase ab, mal brennt man einem Metall-Lenin einen Stern auf die Stirn.
Die nationalistischen Attacken rufen entsprechende Reaktionen hervor – „Wir lassen keine Beleidigung Lenins zu!“. Notgedrungen erinnern sich die linken Kräfte, dass Lenin ein unabdingbarer Teil der sowjetischen Ideologie ist, dass man ihn vor feindlichen Angriffen schützen und aufs Schild heben muss.
Aber ich fürchte, dass selbst die Unterstützung von Seiten der Vandalen Kochaniwskijs und Co. Lenin nicht helfen wird, den ungleichen Kampf mit Stalin zu gewinnen.
Das 140jährige Jubiläum Lenins darf man nicht verpassen und die vaterländischen Kommnisten erledigen ihre Aufgabe diszipliniert. Der Führer des Oktoberumsturzes erhält seinen Teil dienstfertiger Komplimente. Aber danach wird der leninsche Koffer ohne Griff, der den Kommunisten als Erbe der Sowjetunion geblieben ist, wieder weiter nach hinten gestellt. Der KPU und ihrer Wählerschaft wird nicht nach Lenin sein.
Schon sehr bald werden sich die ukrainischen „Linken“ in eine echte ideologische Schlacht stürzen und Werte verteidigen, die ihren konservativen Verbündeten wirklich teuer sind: Der Sieg des Imperiums über die deutschen Horden und der unvergleichliche Generalissimus Stalin. Das Monument für den schnurrbärtigen Diktator in Saporoschje wird wohl eine ganze Serie von Skandalen provozieren. Es ist nicht schwer, vorauszusagen, dass die Sache mit einem Denkmal nicht beendet ist. Mit der Zeit werden andere auftauchen. Der Stalinkult ist eine wirkliche Goldader für die kommunistische Partei und ihre Konkurrenten, die auf dem gleichen Wählerfeld arbeiten.
Goodbye Lenin, hello Uncle Joe!
23. April 2010 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
Forumsdiskussionen
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